Herr Drewermann, zu Beginn: Wie haben Sie den Bundestagswahlkampf 2002 persönlich erlebt?
Drewermann: Mich hat sehr irritiert, wie die Medien es fertig gebracht haben, politische Themen vollkommen zu personalisieren, als wenn es nur um Schröder oder Stoiber ginge und nicht um Themen, Interessen, Anliegen und Zusammenhänge, die begriffen werden müssten, um zu einem ordentlichen Aktionsprogramm zu gelangen. Die Medien haben – mit Zustimmung und Billigung der großen Parteien – so getan, wie wenn Wahlkampf eine Personality-Show wäre und die Irrationalismen der wählenden Bevölkerung mit Strategien ausgenutzt werden könnten, die an Werbung für Kosmetika oder Textilien erinnern. Insofern habe ich mir den Wahlkampf in den Medien nur sehr oberflächlich angeschaut. Aber schon das war im Grunde Zeitvergeudung, denn an wirklicher Information wurde nur sehr wenig geboten. Außerdem ist die weltpolitische Bühne in meinen Augen viel entscheidender als Belanglosigkeiten wie die Rhetorik des einen oder des anderen Kandidaten.
Über welche Medien informieren Sie sich heutzutage?
Drewermann: Die weltpolitischen Journale, vor allem die der ARD, liefern immerhin ein Stück Hintergrundwissen. Die beste Nachrichtensendung ist meiner Meinung nach jeden Abend auf Arte zu sehen, da gibt es Hintergrundinformationen und auch eine gewisse Gründlichkeit. Besonders bei der Nahost-Berichterstattung wird dort noch die Objektivität gewahrt, die den restlichen Medien in Deutschland völlig abgeht – das ist dann schon sehr wohltuend.
Nun ist die Irak-Krise derzeit ein Top-Thema in den Medien. Wenn man die deutschen und amerikanischen Medien unter die Lupe nimmt stellt sich allerdings die Frage: Wissen wir eigentlich irgend etwas über dieses Land mit Namen Irak?
Drewermann: Nein, wir haben durch den Konsens oder die Strangulation – wie man das lesen will – der deutschen Medien, meist auch durch die Abhängigkeit von der Informationsquelle CNN, ein vollkommen einseitiges Bild. Wir wissen nicht – wo wir gerade so stolz sind auf den Krieg in Afghanistan, der dort angeblich zur Befreiung der Frauen geführt hat – dass die Frau in der irakischen Gesellschaft fast eine nach westlichem Vorbild vergleichbare Stellung genießt. Wir wissen auch nicht, dass die im Irak regierende Bath-Partei im Grunde einen vom Westen importierten, aufgeklärten Sozialismus vertritt und dass religiöse Gruppierungen sich im Irak einer Freiheit erfreuen, wie in kaum einem islamischen Land. Diese Dinge sind völlig unbekannt, Saddam Hussein gilt uns als Diktator. Das ist er auch ohne Zweifel, mit all den Schrecknissen die zu dem Wort gehören. Aber man muss auch bedenken, dass es etwas anderes als Diktatur nach dem Ende der britischen Kolonialregierung im Irak nie gegeben hat. Man muss die heutige Situation ein bisschen aus der Geschichte des Iraks zu begreifen versuchen. Es ist schwer vorstellbar, ein Land, dass die Briten willkürlich in drei Teile geteilt haben – im Süden die Schiiten, im Norden die Kurden und dazwischen der sunnitische Teil der islamischen Bevölkerung – mit den Regeln der Westminster Democracy zu regieren.
Ein Angriff auf den Irak durch die USA wird mit jedem Tag immer wahrscheinlicher. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe der US-Regierung für diese Intervention?
Drewermann: Die Geschichte ist alt und hat damit zu tun, dass die Bush-Dynastie, Senior sowie Junior, im Grunde hervorgegangen sind aus der Öl-Industrie, aus der CIA und aus den Strategien des Pentagon. Diese drei haben gemeinsame Interessen, die in erster Linie im Zugriff auf das Erdöl am Golf liegen. Drei Fünftel der Erdöl-Reserven liegen nun mal am Golf und den Zugang möchte man sich für unbegrenzte Zeit sichern. Ein weiteres Interesse besteht darin, Saddam Hussein und sein Regime, den man jahrelang gegenüber den iranischen Ajatollahs wie einen Kettenhund gehalten hat, militärisch auf Null abzurüsten.
Es ist jetzt allerdings zutiefst verlogen, wenn man Saddam Hussein allein die grausigen Giftmorde an den Kurden bei Halabscha vorwirft, denn man muss sagen, dass das in der Öffentlichkeit wenig Interesse gefunden hat, solange der Irak Verbündeter der Vereinigten Staaten war. Man hat Saddam Hussein die Logistik im Krieg gegen die Perser zur Verfügung gestellt, man hat ihm sichere Siegesprognosen erteilt, wenn er den Iran nur im Süden angreift, dann würde der Koloss der Ajatollahs in Teheran von alleine zusammensinken – dabei sind über 500.000 Menschen an beiden Fronten ums Leben gekommen. Kurz gesagt, es ist eine verbrecherische Politik, die die USA seit Jahren im Nahen Osten betreiben. Und den Arabern kann man nicht vermitteln, wieso Giftgas im Irak verboten gehört und eine arabische Atombombe mit dem Teufel gleichzusetzen ist, wenn Hunderte davon in Israel lagern. Da gibt es eine große Asymmetrie und es kann keinen Frieden geben, solange die USA nicht ihren Klienten Israel in die engste Pflicht nimmt, damit ein selbstständiger Palästinenserstaat nicht zersiedelt, gleich einem Schweizer Käse.
Die Amerikaner deklarieren nun, der Afghanistan Feldzug und auch ein möglicher Irak Feldzug wären ein Weg zum Frieden in der Region.
Drewermann: Aber einen absurderen Gedanken kann es doch gar nicht geben! Aus diesem Sack voll Lügen kann doch am Ende keine Wahrheit herauskommen, aus dieser brutalen Gewalt wird am Ende kein Frieden hervorgehen. Ein simpler Vergleich: Für den Wiederaufbau Afghanistans wird die Weltgemeinschaft, wenn sie hält was sie verspricht, in einem Jahr 1,4 Milliarden Dollar einsetzen. Etwa genauso hoch ist der Tagesetat des amerikanischen Pentagon, Geld für die Konstruktion immer furchtbarerer Mordgeräte – das ist die Relation, in der wir uns heute bewegen. Über eine Milliarde jeden Tag: Was könnten wir, wenn es uns wirklich um Frieden ginge, um Wohlstand und die Gemeinsamkeiten der Menschen, die Lösung der globalen Probleme, ökonomisch wie ökologisch, sozial wie politisch, was könnten wir mit dem Einsatz solcher Mittel nicht alles verwirklichen? Wir könnten die Malaria beseitigt haben, Aids beseitigt oder eingeschränkt haben, wir könnten die Schlafkrankheit in Afrika beseitigen, wir könnten die tropischen Regenwälder schützen … Wenn wir angesichts dieser Aufgaben doch wenigstens zeigen würden, dass es uns um Menschen geht und wenigstens einen Tagesetat der amerikanischen Irrsinnsrüstung ausgeben würden für ein egoismusfreies, an menschlichem Wohl orientiertes Programm – dann verspreche ich Ihnen, dass wir auf den Schlag sehr viele Probleme dieser Welt nicht mehr hätten. „Wer Frieden will, muss mit dem Frieden anfangen“, das hat einmal Mahatma Ghandi gesagt. Der Friede ist kein Ziel, er ist die Methode.
Das sind nun Worte, die man zumindest nicht aus dem Mund des derzeitigen amerikanischen Präsidenten hören wird. Denken Sie trotzdem, der drohende Krieg am Golf lässt sich noch verhindern?
Drewermann: Er ließe sich auf jeden Fall verhindern, wenn die Amerikaner nicht längst entschlossen wären, ihn unter allen Umständen zu führen, damit sie ein Regime etablieren können, dass ihnen Zugang zu den enormen Erdöl-Reserven verschafft. Das hat man deutlich genug gesagt und man braucht sich zur Bestätigung nur das Verhalten der Bush-Regierung in den letzten anderthalb Jahren betrachten. Seit 1975 liegt auf dem Tisch der UNO ein Antrag, die Entwicklung von biologischen Waffen international zu kontrollieren – er wurde abgelehnt von den USA. Auch der Vorschlag, die Weitergabe von Landminen zu verbieten, war unterschriftsreif – abgelehnt wurde er von den USA und Israel. Und das Umweltschutzabkommen von Kyoto und Südafrika muss ich erst gar nicht erwähnen.
Man setzt in den USA nationalegoistisch alles in die Tat um, wo man glaubt, dass es auf ganz kurze Sicht einen gewissen Vorteil brächte. Aber was weltpolitisch dadurch geschieht ist ein einziges Desaster, was da passiert, und in dem Zusammenhang ist auch der Irak Krieg ein einziges Desaster. Es werden im Irak wieder Zehntausende von Menschen sterben. Und sowieso frage ich mich inzwischen voller Wut, wie man ernsthaft glauben kann, über mittlerweile elf Jahre ein Embargo verantworten zu können, das nach unabhängigen Schätzungen pro Monat etwa 3000 Kindern das Leben kostet, mangels medizinischer und hygienischer Versorgung. Das macht mehr als eine Million Menschenopfer in einem schweigenden Krieg durch die Embargo-Politik. Wenn diese so effizient ist, dass eine Million Menschen ermordet werden, glaubt man da nicht, wenigstens die Rüstungsgüter inzwischen einigermaßen kontrolliert zu haben? Wie ist es da möglich, zu sagen, der Irak ist gerade dabei, eine Atombombe zu bauen? Selbst Scott Ritter, der bis 1998 die Kommission der Irak Inspekteure geleitet hat, sagt, dass so etwas nicht möglich ist. Aber uns wird durch die Medien beigebracht, das wir fürchten müssen, in einem halben Jahr könne Saddam Hussein mit seiner Atombombe soweit sein. Das kann er ohne Zweifel, aber das kann jeder, wenn er genügend spaltbares Material hat – das aber hat Saddam Hussein mit Sicherheit nicht.
Spätestens seit dem September 2001 haben Politiker und Medien weltweit den Terrorismus als neues Feindbild ausgemacht. Glauben Sie auch in der Konfrontation mit dem Terrorismus an eine friedliche Lösung?
Drewermann: Ich bin langsam der Meinung, dass sich die Militärpolitik in einer kompletten Paranoia dreht, sie braucht immer neue schreckliche Feindbilder um ihre Höchstrüstung zu rechtfertigen, gigantische Geldmittel zu verschwenden, die woanders dringend benötigt würden. Das ist wie im Kalten Krieg, da hatte man sein klares Feinbild, man musste angeblich immer nachrüsten um in Wirklichkeit den eigenen Rüstungsvorsprung gigantisch auszudehnen. Nur setzt man heute als Feindbild die Islamisten ein – man hätte sonst irgendeinen anderen Feind erfunden. Fakt ist allerdings auch, dass in den Gebieten derer, die man als Islamisten bezeichnet, die Erdölreserven für die nächsten 30 Jahre liegen und da wollen vor allem die Amerikaner drankommen.
Ich denke, dass man mit dem 11. September des vergangenen Jahres hätte verbinden müssen, was der Dalai Lama gesagt und auch in einem offenen Brief an George W. Bush formuliert hat, dass nämlich die Geschehnisse von New York und Washington eine große Chance für die Nichtgewalttätigkeit seien. Der ganze Wahn beginnt doch damit, dass man es für unmoralisch, für absolut ungerechtfertigt hält, über die Hintergründe von Terror nachzudenken. Das wird schlechterdings verboten, es ist unpatriotisch und nicht legitim. Angesehene Wissenschaftler wie Noam Chomsky werden von der amerikanischen Regierung als vaterlandslose Gesellen praktisch an den Pranger gestellt, das ist eben der neue Stil des amerikanischen Patriotismus. Die Gründe für den Terror liegen aber offen auf der Hand: Im ganzen 20. Jahrhundert hat es in den Ländern der heutigen Dritten Welt unter dem Imperialismus der westlichen Staaten keine Freiheitsbewegung gegeben, nur eine lange Phase dessen, was wir „Guerilla“ oder „Terror“ nennen. Terrorismus ist also in der Asymmetrie der Kriegsführung die Waffe der Unterlegenen. Er ist eine Ersatzsprache für Zielsetzungen und Forderungen, die allzu lange überhört wurden. Hinzu kommt im Islamistischen der Palästina-Konflikt, der nach wie vor wie eine Lunte brennt. Diese Lunte auszutreten liegt einzig und allein in der Vollmacht der Vereinigten Staaten, sie hätten die dringlichste Pflicht, auch den sechs Millionen jüdischen Mitbürgern in den USA klar zu machen, dass es für einen freien israelischen Staat gar nichts besseres gibt, als dass es endlich zum Frieden in der Region kommt. Nach dem Osloer Abkommen und nachdem Arafat, Perez und Rabin den Friedensnobelpreis bekommen haben, war es Herr Sharon, der mit seiner absurden Siedlungspolitik wieder mal für vollkommene Destabilisierung gesorgt hat. Und seit der Ermordung Rabins durch einen jüdischen Attentäter führt Sharon bis heute eine Politik, die immer wieder den Krieg und Terror auf beiden Seiten eskalieren lässt. Mit dem Frieden im Nahen Osten wäre ein Hauptgrund für den Terrorismus beseitigt.
Ein weiterer Grund für den Terror ist die sich gebärdende westliche Arroganz im Kulturgefälle, wenn man so will, die narzisstische Kränkung eines riesigen Kulturraums. Wir bräuchten sehr viel mehr Fingerspitzengefühl und mehr Verständnis für die andere Seite und wir müssten abrücken von absurden Feindbildern. Viele Bemühungen scheitern allerdings daran, dass die arabische Sprache so monströs schwer, sensibel und feinnervig ist. Man kann in ihr Schwingungen von Gefühl ausdrücken, wie in den indogermanischen Sprachen so gut wie gar nicht. Englisch dagegen ist ja eine sehr leicht zu erlernende Sprache, aber auch das Arabische sollten wir zumindest in den Entscheidungszentralen der westlichen Regierung vermitteln lassen.
Für den Wiederaufbau Afghanistans wird die Weltgemeinschaft in einem Jahr 1,4 Milliarden Dollar einsetzen. Etwa genauso hoch ist der Tagesetat des amerikanischen Pentagon.
Im Nahen Osten sind es immer wieder Selbstmordattentäter, mit denen man den Terror in der Region verbindet. Diese sind aber meist tiefreligiöse Menschen, der Ursprung für ihre Gräueltaten scheint religiöser Art zu sein. Wie sehen Sie als Theologe diesen Zusammenhang?
Drewermann: Ich glaube nicht, dass man Religion und Terror in irgendeinen sinnvollen Zusammenhang bringen kann.
Leider muss man zugeben, dass die Verwalter der Religion, seit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion, seit dem 4. Jahrhundert nach Christus im römischen Reich, die Religion als eine Meinungshomogenisierung und als ein Verwaltungsinstrument der Gleichschaltung der Bürger benutzten. Seit 1648, seit dem Westfälischen Frieden, haben wir im Abendland die Nötigung, dass die Bevölkerung eines bestimmten Landes daran glaubt, dass der Landesherr oder Landesfürst von Gott gesetzt ist. Man muss also offensichtlich nicht an Gott glauben, man muss an den Landesfürst glauben, um die richtige Religion zu haben. Dass man auf absurde Weise, um die Kriegswütigkeit von religiösen Ideologen aus den konfessionellen Lagern zu mäßigen, Religion überhaupt nur noch als ein Herrschaftsinstrument definiert, daran haben wir uns seit knapp 400 Jahren im christlichen Abendland gewöhnt. Ähnliche Entwicklungen sind in anderen Religionen auch möglich gewesen und diese Verknüpfung von Religion und Macht, diese Umformung von Theologie in Staatsideologie, die kann als Gegenreaktion gleichermaßen zur Verwendung der Religion als Waffe der Ohnmächtigen verkommen – das ist leider möglich. Hinzu kommt dann: wer todeswillig ist, der kann in der Religion einen wirksamen Trost sehen.
Würden Sie sagen, die Religion ist es wert, dass man für sie das eigene und andere Menschenleben opfert?
Drewermann: Nein, nach meinem Verständnis von Religion ist jedes Opfer als monströs zu bezeichnen. Ich glaube, dass der Gott, der uns von Jesus aus Nazareth überbracht werden sollte, keine Opfer braucht, schon gar keine Menschenopfer. Aber wir bewegen uns in einer polarisierten Welt, die unzählige Hekatomben von Menschenopfern auf den Altar des blutrünstigsten aller Götzen trägt, den Altar des Kapitalismus. Jedes Jahr sterben 50 Millionen Menschen an Hunger und den Folgen des Hungers. Die herrschende Gewalt geht über Leichen, da darf man sich nicht wundern, dass sich die Ohnmächtigen in dieser Welt zu ähnlichen Praktiken gedrängt sehen.
Der Kapitalismus also als das eigentliche Weltübel?
Drewermann: Ich glaube, dass der Kapitalismus die aggressivste aller Wirtschaftsformen darstellt, die je etabliert wurden. In den Analysen des Kapitalismus von Karl Marx erkennt man zwei Charakteristika: Der Kapitalismus ist ständig expansiv, in dem er die Wirtschaftsbeteiligten unter Schulden und Zinsdruck auspresst. Um im Kapitalismus zu investieren, muss man als erstes Kredite aufnehmen und dann den Krediten hinterherlaufen, das gehört zum Wesen des Kapitalismus. Und dann hat der Kapitalismus inzwischen eine global ausgedehnte Konkurrenzwirtschaft verursacht. Das bedeutet, dass wir im Grunde Strategien der Betriebswirtschaftslehre auf die Weltwirtschaft übertragen – das kann gar nicht funktionieren. Betriebswirtschaftlich muss uns daran gelegen sein, Produkte zu verbilligen. Dazu gibt es aber nur zwei Wege: Zum einen die Rationalisierung, also Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch mechanische Arbeitskraft, Massenentlassungen in der Industrie sind immer wieder die Folge. Zum anderen die Verbilligung der Ressourcen, die die Ausbeutung vor allem der Länder der Dritten Welt zur Folge hat. Kapitalismus ist identisch mit diesen beiden Grundübeln, Expropriation der Dritten Welt und Massenarbeitslosigkeit in den Binnenräumen. Am Ende haben wir im Laden an der Theke ein einzelnes Produkt, scheinbar verbilligt. In Wirklichkeit jedoch wird der Konsument betrogen, denn ihm werden zur Reparatur der angerichteten Schäden Unsummen aus den Taschen gezogen. Die vier Millionen Arbeitslosen wollen ja von irgend etwas leben, die zerstörte Umwelt muss wenigstens ein wenig wiederhergestellt werden, sonst schlägt sie zurück, wie wir es dieses Jahr an der Elbe erlebt haben. Am Ende können wird die Folgeschäden dieser sogenannten Verbilligung ins Astronomische getrieben sehen. Der ganze Kapitalismus ist also die reine Augenwischerei und ein Selbstbetrug grandiosen Ausmaßes. Wir können nicht einerseits global handeln wenn wir andererseits bis zum Exzess egoistisch weiter denken.
Bietet denn eine der beiden Gesellschaftsformen Kommunismus und Kapitalismus eine sinnvolle Grundlage für den Weltfrieden?
Drewermann: Nein, der Kommunismus wollte hochgesteckte Ideale mit Mitteln erreichen, die gerade diesen Idealsetzungen an jeder Stelle widersprechen. Man kann nicht Freiheit durch Diktatur erreichen, genauso wenig, wie man Frieden durch Krieg bekommen kann. Worauf wir uns hätten zubewegen sollen, wäre eine Synthese, in der wir Gerechtigkeit in Freiheit anstreben. Die westliche Welt bleibt bis heute den Beweis schuldig, dass es möglich sei, Gerechtigkeit in Freiheit herbeizuführen. Der Kapitalismus leidet an einem Freiheitsbegriff, der immer mehr Menschen versklavt und unerdrückt und Ungerechtigkeit um den ganzen Globus treibt. Der Kommunismus hingegen wollte eine Form von Gerechtigkeit, die Freiheit ausschließt, das ist ein Unrecht in sich selbst für alle, die in dem System leben mussten. Während des Kalten Krieges haben wir die zwei Dinge, Freiheit und Gerechtigkeit konfrontativ in zwei Lager aufgespaltet. Und nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums glauben wir nun den Turbokapitalismus als alles lösende Antwort propagieren und praktizieren zu müssen. Aber das ist in meinen Augen ein ganz schlimmer Irrtum.
Nun hat der Kommunismus die Religion so gut wie beseitigt. Was denken Sie – gäbe es ohne die Existenz von Religion noch Kriege auf dieser Welt?
Drewermann: Es ist ganz schlimm, dass die Religion sich nicht auf dem Niveau definiert, auf dem sie sich befinden sollte. Wer von Gott spricht und an Gott glaubt begreift natürlich, dass Gott nicht der Lokalgötze irgendeiner Religion, Konfession oder Partei sein kann. Gott sitzt nicht im Vatikan, er sitzt auch nicht bei der Kaaba in Mekka und er sitzt auch nicht auf dem Tempelplatz von Jerusalem und er kniet nicht an der Klagemauer. Gott, wenn er existiert, ist die Macht einer Güte, die jedes Menschenleben trägt. So sollte die Religion wie eine Lingua Franca der Vereinigung der Menschen dienen. Ihre Interpretation sollte so offen sein, wie die der Dichtung, der Malerei und der Musik. Man kann nicht mit Beethoven Krieg führen gegen Tschaikowsky oder mit Goethe gegen Dostojewski. Der den einen begreift, der versteht den anderen gleich mit. So sollte es zwischen den Religionen ein tiefes Gespräch auf der Basis verschiedener Zugangswege zur Menschlichkeit geben. Dass dies aber bisher nicht passiert ist, liegt daran, dass jede Religion sich absolut setzt. Das ist eine schwere Hypothek aus vergangenen Zeiten, die wir für die Zukunft nicht dulden und hinnehmen können.
Wir haben jetzt über die Themen Krieg und Frieden geredet, Sie waren aber auch schon immer ein Mann der Taten. Hatten Sie in Ihrem Leben auch einmal überlegt, in die Politik zu gehen?
Drewermann: Nein, ich glaube es ist ganz wichtig, Reihen offen zu halten, in die weder die Politik noch die Wirtschaft hereinreden kann, Zonen in den Menschen sich als absolut ernst genommen fühlen können. Dieser Raum ist in meinen Augen identisch mit den Sphären des Religiösen, des nicht Verzweckbaren, des in sich selber gültigen. Und dieser Sphäre möchte ich zugehörig bleiben, deshalb habe ich mich geweigert, in die Politik zu gehen. Wenn ich Politiker wäre, müsste ich mich unbedingt an Kalkulationen halten, die erfolgsstrategisch plausibel zu machen sind. Ein Politiker hat alles falsch gemacht, wenn er nicht in absehbarer Zeit seine in Aussicht gestellten Ziele erreicht. Und Jesus von Nazareth hat ja gezeigt, dass es möglich ist, in wenigen Jahren grandios zu scheitern, weil man alles richtig macht. Ich denke es gilt, die paar Wahrheiten, die man klar sieht, so zu leben, dass sie nicht ständig kompromittiert werden. Das hilft meiner Meinung nach dem Frieden der Menschen mehr, als etwa eine Wendehalspolitik, wie sie die Grünen hingelegt haben. Was da passiert ist, finde ich ganz unglaublich, aber es zeigt, was daraus wird, wenn Macht zusammen kommt mit einem Pragmatismus, der sich am Ende immer noch in der Gefolgschaft alter Ideale gibt, indem er sie zynisch verrät.
Haben Sie denn noch Hoffnung, dass in der anlaufenden Legislaturperiode die Regierungsbeteiligung der Grünen zu einer konstruktiven Friedenspolitik führt?
Drewermann: Nein, ganz und gar nicht. Man hätte auf Seite der Grünen spätestens seit dem Jahr 1989 konstant bis heute alles daran setzen müssen, den Vorschlag und das damalige Verhandlungsangebot von Michail Gorbatschow anzunehmen, dass die Wiedervereinigung Deutschlands gebunden sei an den Austritt aus der NATO. Man muss sich nur einmal vorstellen, was dann passiert wäre: Wir hätten die letzten 13 Jahre jedes Jahr fast 20 Milliarden Euro frei gehabt, für die Lösungen wirklicher politischer Problemstellungen, für den Aufbau Ost und für die riesigen Aufgaben der Dritten Welt gegenüber. Was alles hätten wir tun können! Wie unsinnig aber verpulvern wir bis heute riesige Mittel. Und wofür eigentlich? Kein Mensch begreift, warum wir in Europa von Staat zu Staat eine eigene Armee brauchen zur Landesverteidigung. Niemand bedroht uns in Europa. Und gegen den Terrorismus, den wir jetzt global fürchten, helfen uns mit Sicherheit keine Kampfjets, keine Panzerwagen oder anderes Spielzeug, wie es die Herren im Pentagon oder in unserer Militärzentrale auf der Hardthöhe lieben.
Total beeindruckend. Bewundernswert, ermutigend
Vor vielen Jahren fiel mir Drewermann’s Interview im Spiegel in die Hand. Hat mir die spirituellen Augen geöffnet. Drewermann’s Aussagen und Meinung in diesem Interview halte ich für glasklar, intelligent und absolut ehrlich, und natürlich äusserst wichtig.