Herr Nehberg, angenommen ich würde Ihnen zum 75. Geburtstag eine zweiwöchige Karibik-Kreuzfahrt mit Vollpension und Entertainment-Programm schenken. Würden Sie an Bord gehen?
Nehberg: Nein, würde ich nicht. So etwas habe ich noch nie gemacht. Das wäre für mich vergeudete Zeit. Ich reise gerne auf eigene Faust.
Sie hätten sich nach den 75 aufreibenden Jahren doch etwas Erholung verdient…
Nehberg: Erholung ist wenn ich arbeite, wenn ich aktiv bin. Ich brauche keinen Urlaub, keinen Sonntag, keine Freizeit.
Also ich merke schon, Sie haben keine Lust auf einen abgesicherten, durchgeplanten Urlaub.
Nehberg: Viele Menschen haben ein großes Sicherheitsbedürfnis, wagen nichts, wo sie nicht genau wissen wie es abläuft, was es zum Abendessen und zur Unterhaltung gibt, und das am liebsten doppelt und dreifach versichert. Aber das war nie mein Ding. Ich habe schon immer das Risiko geliebt.
In Ihrem Buch „Sir Vival blickt zurück“ kommen Sie immer wieder auf das Ideal der animalischen Lebensweise zu sprechen. Sie wollten stets „unabhängig sein wie jedes frei lebende Tier“, ein Wanderleben „reduziert auf animalische Anspruchslosigkeit“ führen. Was macht diese Lebensweise so reizvoll für Sie?
Nehberg: Das beweist mir, dass ich im Notfall auch unabhängig von der Zivilisation und ihrer ganzen Technik zurechtkommen kann. Das ist für mich ein beglückendes Gefühl, wenn mich ein Hubschrauber ohne Ausrüstung, also quasi nackt, im Regenwald absetzt, und ich nach drei Wochen da alleine wieder raus komme.
Welche technischen Geräte finden sich denn in Ihrem Haushalt?
Nehberg: Ich habe ein Laptop und ein Handy. Ich kann mich ja nicht voll und ganz von den modernen Errungenschaften ausschließen. Aber ich bin eben beruhigt, wenn ich mal in der Natur bin, ganz für mich, dass ich da keine Angst vor irgendwelchen Gefahren haben muss. Für mich ist die Natur ein Partner.
Sie haben auf Ihren Reisen immer so wenig wie möglich mitgenommen, und eben auch kein Handy. Doch wenn etwas passiert ist – wie konnten Sie jemanden erreichen? Wie haben Sie im Notfall auf sich aufmerksam gemacht?
Nehberg: Das ist eben das was die Sache so reizvoll für mich macht. Nicht in jedem Notfall gleich nach Hilfe schreien, sondern versuchen selber durchzukommen. Das macht den Reiz aus, und diese Bereitschaft zum Risiko- die muss man mitbringen. Sonst ist das Leben langweilig. Dann ist es kein Abenteuer für mich.
Wollten Sie mit Ihren Survival-Aktionen vor allem sich selbst oder anderen etwas beweisen?
Nehberg: Zunächst mal nur mir selbst, aber dann wurde ich Augenzeuge großer Verbrechen. Ich spreche vom Bürgerkrieg in Brasilien. 65.000 Goldsucher kämpften gegen 20.000 letzte, noch ursprünglich lebende Yanomami-Indianer. Ich wollte den Indianern helfen eine internationale Lobby zu schaffen und ihnen zu ihrem Recht auf eigenes Land verhelfen.
Sie haben sich 18 Jahre für dieser Indianer eingesetzt und schließlich Ihr Ziel erreicht. Wie blicken Sie heute auf diese Zeit mit den Yanomami-Indianern zurück?
Nehberg: Ich habe in dieser Zeit gelernt, dass man auch als Einzelner etwas verändern kann. Man stößt auf Probleme – und muss sie nicht hinnehmen. Wenn man eine Idee hat, eine Strategie, wie man das Unrecht beenden könnte, dann sollte man es ruhig wagen. Letztlich ist jeder dazu in der Lage. Niemand sollte sich dafür für zu gering halten. Letztlich ist alles von Menschen gemachte auf dieser Erde zunächst mal im Kopf einer einzigen Person entstanden, ob sie nun eine Religion gegründet hat, einen Radiosender, oder eine Partei. Einer war immer der Erste und der hat die richtige Strategie, die richtigen Partner gehabt. In meinem Fall hatte ich wechselnde Partner, aber vor allem hatte ich als Waffe die brasilianische Verfassung. Ich war damals geschockt von der Brutalität der Goldsucher, wie die das den Indianern gehörende Land niedermachten und in eine Wüste verwandelten. Zum anderen erlebte ich in einem intakten Urwald beglückende Momente – diese unglaubliche Fülle von Pflanzen und Tieren, die Begegnungen mit Schlangen und Jaguaren, aber auch mit der Kultur der Indianer, die sich von unserer komplett unterscheidet, aber mich sehr fasziniert hat. Dass es dort keinen Müll gibt, keine Überbevölkerung, dass es ein Leben gibt ohne den Drang nach Luxus, ohne den Glauben an Fortschritt- das alles hat mich sehr beeindruckt.
Was ist aus diesen Indianern geworden?
Nehberg: Im Jahre 2000 war die Lobby groß genug, Brasilien musste dem internationalen Druck nachgeben. Die Yanomami-Indianer haben das im Grundgesetz verbriefte Recht auf ihr Land erhalten. Sie leben heute in einem akzeptablen Frieden.
Wann waren Sie denn zuletzt in dieser Region? Inwiefern ist der Kontakt bestehen geblieben?
Nehberg: Das war im Jahre 2000 als sie Frieden bekamen. Seitdem war ich nicht mehr dort. Meine damalige Kampfpartnerin Christina Haverkamp ist aber weiter vor Ort und kümmert sich um die Indianer. Mir wurde das zu ruhig. Ich habe mir dann das völlig neue Thema aufgehalst – den Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Und auch da habe ich eine besondere Strategie- ich habe die Ethik des Islam und den Koran als Waffe, denn die meisten Opfer sind Muslimas, die dort genital verstümmelt werden.
Sie haben im September 2000 mit Ihrer Frau Annette Nehberg die Menschenrechtsorganisation TARGET gegründet, inzwischen ist der Kampf gegen die Genitalverstümmelung erfolgreicher als Sie selbst je gedacht haben.
Nehberg: Ich habe überall offene Arme, offene Herzen und offene Türen erlebt und nach sechs Jahren ist es uns gelungen die höchsten Glaubensführer des Islams zu einer Konferenz in die Al-Azhar-Universität zu Kairo einzuladen. Die haben dem Brauch eine Absage erteilt, ihn als unvereinbar mit der Ethik des Islam und zur Sünde erklärt.
Doch in vielen Ländern wird die Genitalverstümmelung immer noch praktiziert…
Nehberg: Ja, theoretisch müsste es vorbei sein, nur leider erfahren die Leute das nicht. Es wird praktiziert in 35 Ländern, vor allem in der Sahel–Region Afrikas. Dort gibt es kaum Zeitungen und Radio. Deswegen haben wir nun diese medizinischen und theologischen Gutachten der höchsten Islam-Prominenz in ein so genanntes „Goldenes Buch“ geschrieben, das wir vier Millionen Mal in vier Millionen Moscheen tragen wollen, als Predigtgrundlage für die Imame. Damit das Buch akzeptiert wird hat der Großmufti von Ägypten Ali Gum’a uns ein Vorwort geschrieben. Das Buch wird uns aus den Händen gerissen. In drei Ländern haben die Verteilung und die Predigten bereits begonnen – in Dschibuti, Mauretanien und Äthiopien.
Wie wichtig war für Sie bei diesem Kampf die direkte Zusammenarbeit mit Vertretern des Islam?
Nehberg: Ich habe in meinen jungen Jahren die islamischen Länder bereist, eigene Karawanen durchgeführt, saß in Jordanien im Gefängnis. Ich kenne den Islam ziemlich gut und habe einfach viel Positives erlebt. Ich habe mich immer freigehalten von den üblichen Verallgemeinerungen wie „Der Islam ist nicht dialogfähig.“ und „Das sind alles Killer!“
Mir war klar, dass man die positiven Kräfte dieser Religion nutzen muss. Dabei kam mir auch zu Gute, dass als meistbenutzte falsche Begründung für die weibliche Genitalverstümmelung der Koran zitiert wird. Ich wusste, dass da so etwas nicht drin steht.
Dann haben wir Dokumente über Verstümmelung beschafft, vielen Menschen, vor allem Männern, ist ja gar nicht klar, was da wirklich passiert. Die glauben, die Beschneidung von Männern sei gleichzusetzen mit der Verstümmelung von Frauen. Das sind wirklich zwei Paar verschiedene Schuhe. Der Mann behält sein Lustgefühl, der Frau wird alles weggeschlachtet, ihre Würde wird zerstört. Man muss das gesehen haben. Als wir den Verantwortlichen die Filmdokumente von weiblicher Verstümmelung zeigten, hatten sie eigentlich keine Alternative, als diesen Brauch zu verdammen.
Für einen Ihrer Filme über dieses Thema wurde eine Beschneidung gefilmt, die Bilder sind für manchen Betrachter nur schwer erträglich. Welchen Standpunkt haben Sie zur Ausstrahlung dieser Bilder?
Nehberg: Wenn man ein Verbrechen bekämpfen will, dann muss man genau wissen, warum man dagegen kämpfen soll. Dann muss man es ohne Beschönigung zeigen, sonst würde es weiterhin heißen: „Ach, was jammern die Weiber denn immer? Ich als Mann bin doch auch beschnitten. Das sind einfach Jammerlappen!“ Wenn man den Unterschied gesehen hat, dann weiß man, wofür man kämpft. Nachdem ich Augenzeuge dieser Verbrechen geworden bin, bei Christen wie bei Muslimen, wird mich keiner aufhalten, diesen Kampf zu Ende zu führen.
Was geht in einem vor, wenn man diese Grausamkeit mit eigenen Augen sieht?
Nehberg: Man verliert die Kontrolle über seinen Körper. Man wird ohnmächtig vor Wut. Man ist zu jedem Gegenverbrechen bereit. Da wächst eine Entschlossenheit, die man aber auch braucht, um einen fünftausend Jahre alten Brauch zu bekämpfen. Da wird oft mit Fanatismus versucht, ihn zu erhalten. Um dagegen eine Chance zu haben, muss man Augenzeuge geworden sein. Hätte ich nur darüber gelesen, wäre mein Engagement heute wohl nicht so uneingeschränkt.
In die Medien gelangte das Thema auch durch den Film „Wüstenblume“ und das gleichnamige Buch des Top-Models Waris Dirie, die selber als Kind beschnitten wurde. Dirie wurde für ihr Engagement hoch gelobt. Doch wie man liest, verlief die Geschichte zwischen Ihnen und Dirie nicht ganz so positiv.
Nehberg: Zunächst war sie ja mein Idol. Als wir den Erfolg an der Al-Azhar-Universität zu Kairo hatten, kam Waris Dirie auch persönlich vorbei, um uns zu gratulieren. Wir überlegten, ob wir eine gemeinsame Aktion durchführen könnten. Ich kam auf die Idee, ob man unseren besagten Film über die Genitalverstümmelung nicht vor den Delegierten der Afrikanischen Union zeigen könnte. Sie als Sonderbotschafterin der UNO sollte mir dabei helfen, mir den Zugang verschaffen. Sie wollten diesen Film sehen und war sehr beeindruckt, fast einer Ohnmacht nahe, weil sie an ihr eigenes Schicksal erinnert wurde. Sie meinte: „Das müssen wir unbedingt zeigen!“
Doch dann kam alles ganz anders…
Nehberg: Ja, ich gab ihr den Film zu treuen Händen. Dann hörte ich nie wieder was von ihr, bis der Film nach anderthalb Jahren auf ihrer Homepage erschien, wo er als ihr Produkt dargestellt wurde. Als der Film endete, wo das Mädchen, das Opfer, fast verblutet ist, da tanzt sie halbnackt durchs Bild und macht Reklame für ihre Bücher und ihre Mode. Da habe ich mich übergeben. Mit solchen Leuten kann ich nicht arbeiten.
Wir haben dann bei ihrem Manager angerufen. Der musste den Film aus dem Netz nehmen, doch als er sich vorbehielt, ihn einen Tag später wieder reinzusetzen, haben wir sie angezeigt. Sie musste eine Geldsumme an TARGET zahlen. Wenn sie es jetzt wiederholt wird es teuer. Diese Frau ist für mich erledigt. Sie hat ihren Charakter offenbart.
Wenn wir weiter so aggressiv, so egoistisch, so dekadent leben, wird es zu Katastrophen kommen - die Natur wird uns durch Katastrophen zwingen, umzudenken.
Kommen wir noch einmal zurück zur Natur. In welchem Verhältnis steht der moderne Mensch heute zu seiner Natur?
Nehberg: Ich glaube er hat sich weit von der Natur entfernt. Er gerät schon in Panik wenn er sich nachts in einem deutschen Wald verirrt. Man sitzt nur noch vorm PC und daddelt da durch die Welt, aber von der echten Natur hat man sich verabschiedet und konsumiert sie risikolos und chipsgestärkt im Fernsehen. Ich hingegen bin froh, wenn ich noch in der Hängematte irgendwo im Urwald liege und die ganze Vielfalt dieses Biotops Regenwald genießen, in mich aufnehmen, und manchmal sogar bis ins Weltall gucken kann, wenn das Firmament wolkenlos ist. Ich sehe diese Unvorstellbarkeit des Universums. Dann werde ich ganz klein und fühle mich nicht mehr als die Krone der Schöpfung, sondern als winziges, pupsiges Mosaik in dem gigantischen Gefüge.
Inwiefern trägt denn auch der moderne Mensch immer noch diese animalischen Ur-Instinkte des Jägers und Sammlers inmitten der freien Natur in sich und wird nur von der Gesellschaft daran gehindert sie auszuleben?
Nehberg: Ich glaube diesen Traum von der Verbundenheit mit der Natur haben viele, und sie möchten wenigstens vorübergehend mal ein solches Leben führen, um sich klarzumachen, dass sie auch ohne diesen ganzen Luxus funktionieren würden. Wenn wir aber alle im Urwald leben wollten, dann wäre er bald völlig futsch. Er wird ja so schon rücksichtslos vernichtet. Ich glaube, diese Mischung muss man akzeptieren, dass die einen so leben und die anderen eben anders leben wollen. Aber diese ganze Vielfalt der Lebensformen international gesehen – die ist wichtig, denn alles was in Monokulturen ausartet, das ist nicht gut fürs Leben, nicht gut für die Welt.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Wir haben die Erde nicht verdient. Wir maßen uns an, ein Mosaik nach dem anderen und nach Gutdünken, aus purem Egoismus, Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit zerstören zu dürfen, und hinterlassen unseren Nachkommen eine immer weniger erlebenswerte Welt.“ Das ist kein sehr positives Menschenbild…
Nehberg: Ja klar, aber ich denke, wenn wir uns das bewusst machen, gehen wir vielleicht schonender mit der Welt um. Wenn wir weiter so aggressiv, so egoistisch, so dekadent leben, wird es zu Katastrophen kommen, und die Welt, die Natur, wird uns durch Katastrophen zwingen, umzudenken. Ich fürchte, so wird es kommen, weil der Egoismus in uns größer ist als die Vernunft.
Kommen wir mal zu Ihrer Kindheit. Sie waren nicht gerade ein einfaches Kind, oder?
Nehberg: Nein, meiner Mutter zu Folge war ich kompliziert. Ich konnte nie still sitzen, ständig musste sie mich suchen. Mit vier Jahren bin ich ihr ja das erste Mal ausgebüxt und quer durch Bielefeld gelaufen. Ich wollte meine Oma besuchen, weil die immer so leckere Trockenäpfel gemacht hat. Ich habe mich dann aber völlig verlaufen und wurde zwei Tage später von der Polizei nach Hause gebracht. Seither hat meine Mutter höllisch auf mich aufgepasst.
Wo haben Sie denn damals mit vier Jahren eigentlich die Nacht verbracht?
Nehberg: Ich weiß es hauptsächlich aus Erzählungen meiner Mutter. Das war ja Dauerthema. Ich habe angeblich unter einer Zeitung in einem Rhododendronbusch irgendwo im Inneren der Stadt Bielefeld übernachtet. Dort fand mich dann die Polizei und dachte zuerst, ich sei tot. Aber ich zappelte noch. Also, meine Mutter hat da schon Einiges mitgemacht (lacht), angeblich habe ich ihr sogar ein Magengeschwür verursacht.
Mit zwölf ließ sie mich dann aber mit dem Fahrrad durchs Münsterland fahren. Mit 17 Jahren war ich angeblich in Paris, bin aber heimlich bis nach Marokko weiter geradelt, um Schlangenbeschwörung zu lernen.
Und Ihre Eltern ahnten davon nichts?
Nehberg: Nein, nicht im Geringsten. Ein Freund von mir hat dann jede Woche eine vorbereitete Postkarte zu uns nach Hause geschickt, wo ich schrieb, ich wäre auf dem Eiffelturm gewesen und welche Museen ich mir angeguckt hätte. In Marokko wurde ich neugierig auf die Welt. Der Orient war faszinierend, da wollte ich wissen, was sich hinter der nächsten und der übernächsten Düne verbirgt. Doch da traute ich mich noch nicht hin.
Und wann kam Sie auf den Survival-Trip?
Nehberg: Später, in den 60er Jahren. In den USA war Survival damals schon ein fester Begriff, in Deutschland aber noch kein Thema. Es ist die Rückbesinnung auf Urinstinkte, auf Urfertigkeiten. Dadurch wurde ich unabhängiger von unserer ganzen Ausrüstung und unserer Zivilisation. Und schließlich erlebte ich Geschichten ganz anderer Dimensionen. Survival hat mein Leben verändert. Früher war es nur die Neugier auf die Welt, Abenteuerlust, und dann auf einmal kam zum Abenteuer der Sinn hinzu, als ich Augenzeuge des Bürgerkrieges im brasilianischen Regenwald wurde.
Mein ganzes Leben war immer Abenteuer pur. Darum brauche ich auch keinen Urlaub. Diese Reisen waren und sind für mich immer Urlaub und Abenteuer in einem. Adrenalin – meine Bio-Droge, Eigenanbau.
Sie sind 1000 Kilometer durch Deutschland gelaufen, haben den brasilianischen Urwald durchquert, sind durch viele Wüsten dieser Welt gewandert, und haben mehrmals den Atlantik überquert, mit einem Tretboot und einem Bambusfloß und auf einem massiven Baumstamm, um nur einige Aktionen zu nennen. Haben Sie sich jemals einsam auf diesen Reisen gefühlt?
Nehberg: Nein, nie. Im Urwald sowieso nicht, weil jeder Meter eine Überraschung birgt. In der Wüste auch nicht, weil diese Unendlichkeit der Wüste für mich immer faszinierend war, wie die Menschen dort mit der Hitze klarkommen, wie die ganzen Lebewesen trotz der Wasserknappheit überleben. Das waren für mich immer Lehrbeispiele. Da habe ich mir unglaublich viel abgeschaut. Die Einsamkeit auf dem Ozean war für mich auch kein Problem, obwohl ich ja bis zu vier Monate ohne nennenswerten Kontakt zur Zivilisation war. Aber man hat das Meer, es ist voller Fische. Wenn man solch ein langsames Fahrzeug wie einen Baumstamm oder ein Bambusfloß hat, dann ist man umrundet von Fischen. Man bekommt ständig Besuch, von Haien, von Goldmakrelen, von kleinen Fischen, die unter dem Schiff Zuflucht suchen, weil die sich ja im Ozean nirgends verstecken können. Außer bei mir. Und alle Fische werden von anderen Fischen gefressen- da ist ständig Action! Dann war viel zu reparieren, ich musste kochen, navigieren, mich versorgen, dann hatte ich Lesestoff mitgenommen. Langeweile kenne ich nicht.
Haben Sie sich während dieser oft mehrmonatigen Reisen eigentlich zwischendurch mal zu Hause gemeldet?
Nehberg: Ich hatte manchmal ein Funkgerät mit, denn damals gab es noch kein Handy. Ich hatte dann auch einmal wöchentlich Kontakt, aber wenn man – wie in einem Falle – im Sturm seine Antenne verliert, blieb der Kontakt aus. Dann bangte meine Frau wahrscheinlich und fragte sich, ob ich je wieder käme. Andererseits wusste sie, dass ich schon wiederkommen würde, denn ich hatte mich ja vorher immer ausführlich mit den Problemen einer solchen Reise beschäftigt und mich auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Was war das für ein Gefühl, wenn Sie nach solchen langen Reisen wieder zurück nach Deutschland, in die deutsche Zivilisation kamen?
Nehberg: Es ist, als wenn man vom Himmel in die Hölle kommt. (lacht) Aber ich kenne ja beide Welten. Ich wusste, was mich erwartet, wenn ich auf den Ozean gehe und ich wusste was mich erwartet, wenn ich in die Hektik der Zivilisation zurückkehre. Wenn man beide Welten kennt, nimmt man sie als normal hin. Aber nach den Einsamkeiten auf dem Ozean mit viel Fisch freute ich mich in Deutschland auf Geselligkeit und gegrilltes Hähnchen, auf ein paar Kartoffelpuffer, auf Spinat und Spiegeleier. Das weiß ich dann sehr wohl zu genießen. Heimweh und Fernweh – die standen in ständigem Wechsel wie Torten und Torturen.
Inwiefern hatte Ihr Survial-Leben auch eine egoistische Komponente?
Nehberg: Völlig egoistisch. Ich wollte mehr erleben als andere. Ich konnte mir nie vorstellen, jeden Tag meine kleinen Brötchen in meiner Bäckerei zu backen. Das hat mich nie erfüllt. Natürlich war es rein egoistisch, wenn ich mich durch Survival in die Lage versetzte, ein aufregendes, ein spannendes Leben zu führen, immer voller Risiko, wo man nie wusste, ob man wiederkommt. Vor jeder Reise habe ich mein Testament aktualisiert. Ich wollte nie lang und langweilig leben, sondern lieber kurz und knackig und am liebsten natürlich lang und knackig, wie ich es bis jetzt geschafft habe.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch über das Älterwerden, über peinliche Arztbesuche und Ihr Glas mit Alkohol, in dem Sie alles konservieren, was Ihnen bisher entnommen wurde, nennen sich selbst „Reste Rüdi“. Das ist ein sehr heiterer Umgang mit diesem Thema.
Nehberg: Ja, mein Kontakt mit der Natur hat mich gelehrt: Irgendwann wird alles sterben, jede Pflanze, jedes Tier, auch Schildkröten, auch wenn sie noch so alt werden, irgendwann sind sie hin. Ich merke einfach – da bin ich Realist – mein Leben neigt sich. Ich muss diese Restzeit nutzen, um noch die Früchte der Arbeit zu ernten. Ich möchte wirklich noch erleben, wie der Brauch der Verstümmelung beendet ist. Meine Vision ist ja ein Gespräch mit dem saudischen König, um zu erreichen, dass die Ächtung des Brauches in Mekka verkündet wird – zur Hauptpilgerzeit, wenn dort vier Millionen Menschen aus aller Welt zusammenströmen. Wenn sie dann erfahren: „Dieser Brauch ist ab jetzt Sünde!“, dann wird es kein wirklich Gläubiger mehr wagen, Frauen das anzutun. Aber mein Glas füllt sich und wenn ich nicht immer Teile dessen, was man mir rausoperiert den Ärzten lassen müsste, weil die es noch mal untersuchen möchten, dann wäre das Glas noch voller. Es ist manchmal erschreckend, wie voll das Glas ist und wie leer ich bin.
Welches Verhältnis haben Sie zum Tod?
Nehberg: Der Tod ist gerecht. Jeder stirbt. Es trifft die Armen, die Reichen, die Tyrannen und die Demokraten. Das nehme ich sehr gelassen. Ich möchte nur nicht unter Schmerz sterben. Da werde ich mir dann noch irgendwas Neues überlegen, um mir die Qualen zu ersparen.
Sie haben mal gesagt, am liebsten würden Sie im Regenwald durch einen Kopfschuss von hinten sterben, wie ihr Freund Michael Teichmann, damals 1975 vor Ihren Augen am Blauen Nil. Ist das immer noch Ihr Wunsch?
Nehberg: Ja, das wäre eine Möglichkeit. Es ist der schnellste Tod. Wir wurden damals am Blauen Nil in Äthiopien plötzlich von 12 Männern bedroht, alle bewaffnet, Michael ging auf sie zu, um sie zu begrüßen, sie lehnten den Gruß ab, und als er sich dann umdrehte, um zu uns zurück zu kommen, schossen sie ihm von hinten in den Kopf. Der hat also nichts gemerkt Das ist für die Umstehenden natürlich grausam, aber für einen selbst der ideale Tod. Das ist mein Traum. Solch einen Abgang wünsche ich mir.
Haben Sie diese Bilder jemals vergessen können?
Nehberg: Nein, das kann man nicht vergessen. Das kommt immer wieder. Die Bilder sind natürlich nicht mehr so heftig wie in den Jahren nach der Ermordung. Auch die Momente der Gegenwehr, die Tage der Flucht, die Fahndung und die Ergreifung der Täter – das sind bleibende Erinnerungen.
Auf den letzten Seiten Ihres Buches „Sir Vival blickt zurück“ findet sich ein Gebet mit dem Titel „An den Schöpfer des Universums“. Sie nennen ihn aber nicht Gott…
Nehberg: Namen sind Schall und Rauch. In diesem Fall kommt es aufs selbe hinaus. Wenn man jung ist, dann hat man das Leben noch vor sich, dann denkt man nicht so sehr über Gott und die Welt nach, will einen Ehepartner finden, vielleicht Kinder in die Welt setzen, im Beruf klarkommen. Aber nun geht’s dem Ende zu und man fragt sich – was ist danach? Wird man wiedergeboren? Wird man von der Natur recycled? Werden die Würmer sich an mir rächen, weil ich sie vernascht habe? Darüber macht man sich Gedanken. Auf jeden Fall habe ich mir immer gesagt, dass es eine Schöpfungskraft geben muss. Warum sonst sollte es diesen Wahnsinn Welt geben, diese Unvorstellbarkeit der Gestirne, die Unendlichkeit des Universums, wo man nicht mal weiß, was noch hinter alledem liegt. Wer hat sich diesen Wahnsinn ausgedacht? Da muss es ja eine Kraft geben, die sich das als Hobby ausgetüftelt hat und in Gang hält. Ich stehe fassungslos vor diesem Phänomen und vor dieser großen Kraft muss ich mich verbeugen. Ich wäre niemals auf solch eine unfassbare Idee verfallen. Allein der Ärger mit der Welt – das hätte ich mir nicht getan.
Sie sagen in Ihrem Buch, dass Sie sich als Schöpfer die Erde nicht so kaputt machen lassen würden.
Nehberg: Ich würde die Menschen vernichten, diese Monokultur Mensch auf eine angemessene Menge reduzieren.
Womit erklären Sie sich denn die schlechten Seiten des Menschen?
Nehberg: Es ist das Wesen der Natur, das sich immer nur das Beste erhält. Und in diesem Kampf der Optimierung bleibt es nicht aus, dass das Schwächere vernichtet wird. Aber im Grunde müssten Sie das unseren Schöpfer persönlich fragen, wenn Sie vor ihm stehen. Da ich jedoch vor Ihnen die Kurve kratze, kann ich das für Sie übernehmen. Ich schick Ihnen dann ’ne Mail. (lacht)
Jetzt ist ja der Mensch Rüdiger Nehberg auch eine Medienfigur. Es gibt viele Fotos, auf denen Sie eine Spinne auf dem Kopf oder eine Schlange um den Hals haben. Welche Rolle hat das für Sie gespielt?
Nehberg: Man kann seine Ziele und Ideale allein durchsetzen. Wenn man aber dazu noch die Medien auf seiner Seite hat, ist das ein Wahnsinnsmultiplikator. Da muss man nur überlegen, wie man sich in der Nachrichtenflut an der Oberfläche hält. Nur immer das Gesicht zu präsentieren, das ist langweilig. Darum habe ich mir eine dicke Vogelspinne auf den Kopf gesetzt. Neuerdings habe ich einen Geier auf der Schulter. Das ist schon der erste Geier, der seine Kreise über mir gezogen hat, den ich aber noch bändigen könnte. Doch irgendwann werden es immer mehr Geier sein, die über mir kreisen, bis sie mich dann heimholen und entsorgen.
Hat es Sie jemals gestört, dass viele Medien Sie auf den Würmerfresser reduziert haben?
Nehberg: So hat es mal angefangen. Damit lebe ich gut. Das war damals so. Aber durch dieses Wissen um die Ernährung im Notfall habe ich mich in die Lage versetzt, Gegenden dieser Erde zu bereisen, monatelang, alleine, von denen andere nur träumen können. Letztendlich ist ein Wurm Protein, und wer meint, ein Würmerfresser sei nicht gesellschaftsfähig, der tut mir nur leid. Es ist ein Vorurteil der Gesellschaft, dass ein Wurm etwas Ekelhaftes ist. Eine rohe Muschel ist nicht hygienischer, nicht appetitlicher, nicht mehr sexy als ein roher Wurm, aber gekocht genießt man die Muschel als Delikatesse. Und derjenige, der etwas gegen Würmer hat, sollte sie mal schön zubereiten, würzen, braten, kochen, dann wird er erstaunt sein, was man aus Insekten alles zaubern kann.
Sie haben ja auch oft bewusst die Nähe der Medien gesucht, so haben Sie mit Stefan Raab vor einigen Jahren eine „Raab in Gefahr“- Folge zum Thema „Survival-Training“ gedreht…
Nehberg: Manches lehne ich ab, diesen Dschungelcamp-Schwachsinn würde ich zum Beispiel nicht mitmachen. Aber wenn die Anfrage kommt, dass ich Stefan Raab in Gefahr bringen soll, dann sage ich: „Gerne! Ich kann ihn sogar killen. Der soll mal herkommen!“ (lacht) Wir sind dann durch den Sumpf marschiert, zu Sumpfstellen, wo man völlig versinkt, und wenn man wieder auftaucht, weiß niemand mehr, ist das Stefan, ist das Rüdiger, ist das Männchen oder Weibchen? Oder wir haben Wildschweine mit der Hand gefangen – das waren für mich witzige, belebende Momente
Letzte Frage: Angenommen, Sie werden eines Tages als Tier wiedergeboren, welches Tier wären Sie gerne?
Nehberg: Ich möchte ein Jaguar sein – und majestätisch autark durch den Regenwald spazieren.
Eins ist allerdings interessant: Ein Gerichtsurteil zu dem Streit zwischen Nehberg und Dirie ist nirgends zu finden. Auch kein Aktenzeichen. Auch in Artikeln über z.B. die Yanomami-Indianer taucht Nehberg nichteinmal als Randnotiz auf. Über FGM gibt es viele Informationen, Nehberg und Target werden aber nur auf seinen eigenen Seiten und in seinen Büchern erwähnt.
Vieles deutet darauf hin, dass Rüdiger Nehberg vor allem ein Hochstapler war. Die Website von Target wurde seit 2017 nicht mehr wirklich aktualisiert. Auch seine Frau hält sich auffalend bedeckt dafür, dass sie angeblich so viel Anteil an all seinen Aktionen hatte.