Cornelia Funke

Ich bin nicht klüger als meine Leser.

Schriftstellerin Cornelia Funke über ihre wichtigste Gabe, die Verfilmung von „Tintenherz“, Faschismus in Kinderbüchern und Ihre Aufgabe als Autorin

Cornelia Funke

© Warner Bros. Ent

Frau Funke, erst die Filmpremiere von "Tintenherz", dann Ihr 50. Geburtstag  – Sie sind in diesen Tagen viel unterwegs. Können Sie überall gut schreiben?
Funke: Ja, inzwischen schon. Gottseidank. Vor einigen Jahren konnte ich das noch nicht. Aber jetzt komme ich gerade aus London, wo ich eine wunderbare Schreibzeit hatte – gut, ich war in meinem Lieblingshotel, da war es nicht schwierig, gut zu schreiben. Aber auch sonst kann ich überall schreiben. Wenn Sie mir jetzt hier in diesem Raum meinen Computer geben würden, bin ich in fünf Minuten weg. Wirklich. Mir ist das manchmal sogar selbst ein bisschen unheimlich.

Müssen Sie die Augen schließen, damit etwas in Ihrem Kopf entsteht?
Funke: Nein. Ich kann jetzt einfach so an Ihnen vorbeigucken, auf den Vorhang hinter Ihnen – und dann geht das sofort los.

Haben Sie eine Erklärung für diese Gabe?
Funke: Nein. Ich denke auch, man sollte die nicht finden, weil dann geht sie vielleicht kaputt. Weil es ist natürlich so etwas Ungewöhnliches, Seltsames – auch etwas sehr Zerbrechliches. Da sollte man nicht zu sehr fragen, warum das so funktioniert.

Sie sind bekannt als Kinderbuchautorin. Würden Sie selbst auch sagen, dass Sie in erster Linie für Kinder schreiben? Immerhin finden auch viele Erwachsene Gefallen an Ihren Büchern.
Funke: Es ist das Geschichtenerzählen. Und ich denke mir, dass heute diese Unterscheidung, das also irgendwie in Boxen zu packen, und zu sagen: Das ist ein Kinderbuch und das ist ein Erwachsenenbuch – dass die nur künstlich ist. Wenn Sie früher einen Geschichtenerzähler auf den Marktplatz gesetzt haben, hat der bestimmt nicht gesagt: „Ihr Älteren geht jetzt mal weg  und ihr Jüngeren dürft sitzen bleiben.“ Das heißt, ich erzähle eigentlich für alle. Wobei es natürlich ganz wichtig ist, dass die Kinder sitzen bleiben. Weil es keine besseren Tester für Geschichten gibt. Den Kindern ist egal, ob Sie mal auf der Liste der New York Times waren oder ob Sie berühmt sind – die wollen nur, dass die Geschichte interessant ist.

Nun kommt die Verfilmung von „Tintenherz“ in die Kinos, ein Buch, das sehr von der Lust am Lesen erzählt. Kann ein Film diese Lust am Lesen auch vermitteln?
Funke: Das ist sicherlich eine ganz schwierige Sache. Ich weiß noch ganz genau wie erstaunt ich war, als ich so viel Film-Interesse für dieses Buch bekam. Weil ich dachte: Es geht ja im Grunde um etwas Literarisches, was sehr schwer auf der Leinwand abzubilden ist. Ich hatte am Anfang auch sehr viel Diskussionen darüber mit David Lindsay-Abaire, dem Drehbuchautor. Er hat dann zum Beispiel mit dem „Zauberer von OZ“ gearbeitet, mit anderen Büchern, um zu zeigen, worum es geht. Es ist der Versuch, etwas visuell zu machen, was eigentlich keine visuelle Sache ist. Sie können natürlich zeigen, wie jemand da sitzt und ein Buch liest, oder Sie könnten das Buchbinden noch mehr zeigen, aber das ist auch mit das Einzige.

Es geht ja auch um’s Geschichtenerzählen…
Funke: Ja, es geht um die Sucht des Menschen nach der Geschichte, als ob wir unser Leben immer wieder in diese Form bringen wollen, als ob wir das Gefühl haben wollen, es gibt einen Anfang, ein Ende, einen Sinn. Das ist letztendlich das, was uns Geschichten geben, dieses Gefühl, dass man das Schicksal auf irgendeine Weise in einen Sinn verpacken kann. Und ob das im Buch passiert, ob Ihnen das im Film passiert, in was auch immer für einer Form – es wird immer dieses Gefühl sein, dass das Leben erzählt wird.

Wie gefällt Ihnen denn die Verfilmung von „Tintenherz“?
Funke: Ich muss generell sagen: Ich bin bisher wirklich gesegnet mit den Verfilmungen meiner Bücher. Ich habe in Deutschland fantastische Verfilmungen gehabt, mit Detlev Bucks „Mississippi“, mit den „Wilden Hühner“-Filmen. Selbst bei „Herr der Diebe“, wo das Budget sehr wacklig war und der Produzent plötzlich der Regisseur sein wollte, ist die Verfilmung trotzdem nicht ärgerlich geworden. Und ich finde, auch „Tintenherz“ ist wirklich schön geworden, da kann ich mich wahrlich nicht beschweren. Ich habe also keine Schockzustände, wenn ich die Adaptionen meiner Bücher sehe. Sowieso habe ich nie ein Problem damit, wenn meine Geschichten bei einer Verfilmung in irgendeiner Weise verändert werden. Die Leute schreiben ja nicht nachträglich mein Buch um, sondern das Buch bleibt das Buch bleibt das Buch. Da verändert sich keine Zeile, auch nicht dadurch, dass im Film etwas anders ist. Außerdem, wenn man mein Buch laut vorlesen würde, dann hätte man wahrscheinlich 18 Stunden Lesezeit. Der Film dauert dagegen zwei Stunden. Natürlich wird der ganz anders sein. Das geht gar nicht anders.

Inzwischen gibt es „Tintenherz“ ja auch als Theaterstück.
Funke: Ja, und die Inszenierungen in Hannover haben es auch dramatisch verändert – ich finde das aufregend. Ich merke auch, dass die Kinder damit überhaupt kein Problem haben. Ich habe gerade mit einigen Kindern in London gesprochen, die den Film schon gesehen hatten, und die die Bücher zehn mal gelesen haben. Die hatten keinerlei Probleme damit, die sagen: „Ja, das wird im Film anders erzählt, fanden wir aber auch interessant.“

Es gibt Dinge in „Tintenherz“, die einen an die NS-Zeit denken lassen, Capricorn ist ein brutaler Herrscher, der durch seine Gang mitunter Bücher verbrennen lässt – warum glauben Sie, sind Nazis Kindern in einem Buch zuzumuten?
Funke: Diese Faschismus-Parallele, die ich im Buch benutze, die kommt natürlich aus meiner Kindheit. D.h. ich bin damit aufgewachsen, zu verstehen, wie Faschismus funktioniert hat. Ich fand das als Kind immer unglaublich bestürzend, dass da die Liebe, die Menschen zueinander haben, benutzt wurde als Waffe gegen sie. Dass Eltern mit ihren Kindern erpresst wurden, dass Angst benutzt wurde, um aus Menschen Feiglinge zu machen. Und ich habe mich oft gefragt: Hätte ich den Mut gehabt, wenn jemand meine Familie bedroht, etwas dagegen zu tun? Wahrscheinlich nicht. Das fand ich immer schon, gerade als Deutsche, eine sehr bestürzende Erkenntnis und auch einen sehr beunruhigenden Gedanken.

Zitiert

Den Kindern ist egal, ob Sie als Autorin mal auf der Liste der New York Times waren oder ob Sie berühmt sind – die wollen nur, dass die Geschichte interessant ist.

Cornelia Funke

Was haben Sie mit dieser Erkenntis gemacht?
Funke: Ich bin seit ich 15 bin Mitglied bei Amnesty International und ich habe mich sehr viel mit dem Thema politische Unterdrückung auseinandergesetzt, mit dem ganzen Mechanismus: Wie macht man das? Wie macht man Angst, wie beherrscht man andere Menschen? – Als ich dann Anfing, für meine Bücher meine Bösewichte zu entwickeln habe ich gedacht: Pass auf, mache sie nicht zu solchen Bösewichten wie Lord Voldemort bei „Harry Potter“, sondern mache sie zu Bösewichten, die sehr real wirken, wo man sich vorstellen kann, dass die in den ligurischen Bergen sehr gut zurecht kämen – was mir die Italiener zum Glück nicht krumm genommen haben.
Dass dann die faschistischen Mechanismen mitreinspielen – das ist das Älteste der Welt. So arbeiten heute Gangs. Jede Drogengang arbeitet heute genauso wie bei mir Capricorns Männer. Es sind immer faschistische Mechanismen, die da greifen, so dass ich denke, alles Böse funktioniert auf diese Art.

Würden Sie sagen, dass Gewalt auf Buchseiten für den Konsumenten weniger ‚gefährlich’ ist als auf der Leinwand?
Funke: Im Buch ist sie ist leichter verarbeitbar. Das Interessante an einer Adaption eines Kinderbuchs für die Leinwand ist, dass sie plötzlich sehen, dass Sie im Buch eine Menge machen können, was Sie auf der Leinwand nicht machen können, wenn Sie am Ende wollen, dass im Film Kinder drin sitzen. Ich habe im Buch über die Gewalt und die Mechanismen geschrieben, die Capricorn benutzt. Und dann hat der Regisseur Ian Softley zum Beispiel Szenen gedreht, in denen Capricorn das Dorf übernimmt, die mir sehr gut gefielen – die aber so finster waren, dass das Studio gesagt hat: „Um Gottes willen! Auf welches Alter kommen wir denn da? Da rennen uns die Kinder schreiend aus dem Kino!“ – In dem Moment, wo Sie das Visuelle haben, wird das so überwältigend, dass Sie im Grunde eine viel mehr kindergerechte Version für die Leinwand machen müssen. Im Buch können Sie wesentlich ernsthafter werden, auch wesentlich erwachsener werden, ohne die Kinder zu verlieren. Und da muss ich auch sagen: Das ist ein Privileg des Schreibens.

Kommen Sie aber nicht auch beim Schreiben an Grenzen? Wo Sie denken: „Das kann ich so nicht schreiben, das ist für das Kind zu viel?“
Funke: Ja. Ich gebe Ihnen auch ein lächerliches aber drastisches Beispiel: Wenn man irgendwelche Leichen im Wald findet, dann würde man für einen Erwachsenen schreiben, dass die Vögel natürlich zuerst die Augen fressen – das machen Sie für die Kinder dann vielleicht nicht.

Sondern?
Funke: Da schreiben Sie, dass die Leichen da liegen und dass die Raben draufsitzen – aber Sie sagen nicht, was die tun. D.h. Sie nehmen kleine Details raus, die sich für Kinder sofort in Bilder umsetzen. Weil Kinder ja noch wesentlich bildhafter lesen, als Erwachsene das tun. Wenn Sie einem Kind zwei Sätze geben, dann hat das schon eine ganze Welt im Kopf. Wir Erwachsenen kennen doch alle das Gefühl, dass wir unsere alten Kinderbücher lesen und sagen: „Was? Das war alles? – Das kann doch nicht sein, das war doch eine ganze Welt, als wir das gelesen haben.“ – Ja, das war es auch, weil wir es uns dazu gebaut haben.

Bei welchen Geschichten haben Sie sich denn als Kind gegruselt?
Funke: Bei „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Mein Gott hatte ich eine Angst. Als die Wilde Dreizehn den Lukas gefangen nimmt. Heil Himmel, ich habe Rotz und Wasser geheult vor der Augsburger Puppenkiste, das weiß ich noch sehr genau.

Warum ist die Auseinandersetzung mit dem Bösen für ein Kinderbuch so wichtig? Was machen die Kinder damit? Wo liegt die Faszination für Kinder darin?
Funke: Ich glaube, das ist nicht nur im Kinderbuch wichtig. Ich glaube, das ist im Geschichtenerzählen generell wichtig. Ich glaube, dass wir im Geschichtenerzählen immer mit diesen existenziellen Gegensätzen spielen wollen und dass oft ja auch im fantastischen Erzählen für Erwachsene – das Böse gibt es immer in irgendeiner Form.
Bei „Tintenherz“ war es für mich auch so ein literarisches Ding, da kommt so eine böse Figur wie Capricorn aus dem Buch heraus, da hat man auch Spaß dran, den wirklich finster zu machen. Das ist einfach ein klassisches Ding für jeden Geschichtenerzähler. Gucken Sie sich die Mythen an, die Märchen – da wird immer mit dem Bösen gespielt. Und andererseits ist das Böse sehr präsent in der richtigen Welt ist, und daran gibt es auch nichts wirklich Nettes.

Wie begreifen Sie Verantwortung als Kinderbuchautorin? Haben Sie eine?
Funke: Ich würde nicht von Verantwortung sprechen. Ich sehe meinen Beruf darin, dass ich der Wortefinder bin. Das ist alles, was ich tue. Das heißt ich finde Worte für das, was wir alle empfinden, was wir fürchten, was wir lieben, wie wir uns verlieben, wie wir jemanden hassen, was auch immer – ich versuche, die Worte und die Geschichte dafür zu finden und das in irgendeine Form zu fassen. Deswegen lesen sehr viele Leute unterschiedlicher Nationalität und unterschiedlichen Alters meine Geschichten – weil ich offenbar deren Worte gefunden habe. Und das ist meine einzige Aufgabe.

Was Sie ja nicht besonders mögen ist der pädagogische Zeigefinger…
Funke: Nein, den mag ich ganz und gar nicht.

Welches Verhältnis haben Sie dann zu den Büchern von Gudrun Pausewang?
Funke: Ich bin einfach jemand, der ganz anders funktioniert. Weil ich Geschichten schreibe, weil ich die Fragen stelle, die andere stellen. Aber ich will nicht die Antworten liefern. Ich bin nicht besser als meine Leser, auch nicht klüger. Das heißt, in dem Moment, wo ich so etwas von mir denken würde, in dem Moment sollte ich die Botschaft reinpacken. Ich glaube aber, dass ich genau dieselben ratlosen Fragen stelle wie alle, dass ich genau dieselben Dinge nicht verstehe. Und dass ich einfach nur versuche, diese Dinge in eine literarische Geschichtenform zu fassen.

Eine Schlussfrage: Wenn Sie sich in eine Figur in der Literatur verwandeln könnten, welche würden Sie wählen?
Funke: Ich wäre gerne D’Artagnan, von den „Drei Musketieren“ von Alexandre Dumas.

Warum der?
Funke: Das ist einfach wunderbar, Abenteuer, tragische Liebe – nur wäre ich dann ein Mann, das ist das einzige Problem.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.