Eric Whitacre

Die Klassik-Community hasst Popularität.

Komponist Eric Whitacre über musikalische Erziehung, sein Verhältnis zu religiösen Texten und wie er einst von Napster profitierte

Eric Whitacre

© Universal Music

Mr. Whitacre, stimmt es, dass Sie erst mit 18 angefangen haben, sich mit klassischer Musik zu beschäftigen?
Eric Whitacre: Ja, das stimmt. Auf der High-Shool war ich noch Pop-Musiker, habe Synthesizer gespielt. Aber als ich dann an die Universität kam bin ich das erste Mal in einen Chor gegangen und das war für mich so ziemlich die erste Berührung mit klassischer Musik.

Würden Sie nicht sagen, dass es in diesem Alter eigentlich viel zu spät ist, wenn man klassischer Musiker werden will?
Whitacre: Vielleicht ist es nicht ideal, aber für mich war es schon ok. Generell gesehen, da weiß ich nicht… Natürlich, wenn Sie Instrumentalist sind, beispielsweise Geige spielen, was Jahre an Übung benötigt, dann muss man früher anfangen. Ich persönlich war mit 18 aber noch imstande eine bestimmte Stimme zu finden und dann scheint es funktioniert zu haben.
Dagegen bei meinem Sohn, der ist jetzt gerade fünf Jahre alt, da fange ich bereits jetzt an, ihn mit klassischer Musik in Berührung zu bringen.

Warum denken Sie, ist es wichtig, einem Kind schon früh Musik nahe bringen?
Whitacre: Also, ich will ihn jetzt gar nicht zum Musiker erziehen, ich möchte aber, dass Musik um ihn herum ist, damit er die Option hat. Er scheint ein sehr musikalischer junger Mensch zu sein – und ich selbst hätte das als Kind gerne gehabt. Ich bin ja in einer Familie aufgewachsen, in der es keinerlei musikalischen Background gab, ich kann mich noch nicht mal daran erinnern, dass wir Radio gehört hätten. Insofern erlebe ich durch mein Sohn jetzt auch nochmal meine Kindheit wieder.

Ganz banal gefragt: Warum sind Sie Befürworter einer musikalischen Erziehung?
Whitacre: Ich denke, dass Kinder vom frühen Alter an Musik ausgesetzt sein sollten und unterrichtet werden sollten. Die Musik sollte ein wesentlicher Bestandteil der Lebenserfahrung sein.

Aber warum? Kann diese Beschäftigung den Charakter eines Menschen beeinflussen?
Whitacre: Ja, ich denke letzten Endes schon. Generell bin ich der Meinung, dass eine Gesellschaft, die sich der Kultur widmet, eine zivilisiertere Gesellschaft ist.

Sie haben oft erklärt, dass das Singen von Mozarts Requiem im Uni-Chor Ihr Leben verändert hat. Trifft das auch auf heutige Jugendliche zu? Kann Mozart da immer noch das Leben eines jungen Menschen verändern?
Whitacre: Mozart kann das Leben von vielen Menschen verändern, wenn sie der Musik auf die richtige Art und Weise ausgesetzt sind. Manchmal sind sie dann tatsächlich verändert von dieser Erfahrung und es ist wie eine Einstiegsdroge, die bewirkt, dass sie andere Musik auskundschaften, von der sie vorher vielleicht gar nichts wussten.
Es muss aber gar nicht zwingend Mozart sein. Wenn Sie mich zum Beispiel fragen würden, wer heute der größte, moderne Kunstlied-Komponist ist, dann würde ich wahrscheinlich antworten, Björk oder Sigur Ros – und nicht ein klassischer Komponist im traditionellen Sinn. Es gibt so viel großartige Musik, die nicht traditionell klassisch ist.

Björk und Sigur Ros sind populär – bei klassischen, zeitgenössischen Komponisten kommt das hingegen höchstselten vor. Warum?
Whitacre: Mein genereller Eindruck ist, dass das daran liegt, dass die klassische Musik-Community populäre Dinge hasst. Es wundert mich immer wieder, wenn jemand klassische Musik mag aber mit den Augen rollt, wenn Beethovens Neunte Sinfonie gespielt wird. Ich meine: Das ist das größte Werk, das je geschrieben wurde! Da habe ich das Gefühl, dass manche Leute die Neunte nicht mögen, eben weil viele andere sie mögen.
Ich selbst habe in punkto Popularität Glück gehabt, weil bei der Verbreitung meiner Musik viele junge Leute eine Rolle gespielt haben, die noch nicht so abgestumpft sind, wie es die typische Klassik-Community ist, eben in Bezug darauf, populäre Dinge nicht zu mögen.

Wie haben Sie diese jungen Menschen erreicht?
Whitacre: Ich kann auch nicht genau sagen, wie mir das gelungen ist. Es singen ja viele junge Leute in Chören oder sind in Concert Bands (in den USA verbreitete Blechbläserensembles, Anm. d. Red) und ich neige dazu, für diese Besetzungen zu schreiben. Vielleicht kamen viele junge Menschen so mit meiner Musik in Berührung wie sie es mit anderer vielleicht nicht tun – ich kann das nicht genau erklären.
Wir haben vor kurzem ein Konzert mit dem Londoner Symphony Orchestra und Chor gemacht, danach waren einige Orchestermusiker völlig aus dem Häuschen, und meinten: „Wow, da sind so viele junge Leute im Publikum, das haben wir sonst nie“. Ich weiß nicht warum sie kommen, aber ich bin froh, dass sie es tun.

Wie würden Sie heute generell die Akzeptanz von Chormusik einschätzen?
Whitacre: Insgesamt habe ich das Gefühl, dass in den USA durch Shows wie „American Idol“ das Singen wieder populär geworden ist, egal von welchem Genre wir jetzt sprechen. Auch die Serie „Glee“ trägt sicher dazu bei.
Was meine Musik betrifft war das ein langer Prozess. Bei jedem neuen Werk, jedem neuen Ort, den ich besuche, habe ich bemerkt wie es allmählich immer mehr Fans wurden. Man könnte auch sagen, es hat 20 Jahre gebraucht, um dann über Nacht zum Erfolg zu werden. Besonders mit dem Aufkommen von Social Media ist die Sache explodiert. Das fing schon vor zehn Jahren mit Napster an: Ich konnte beobachten, wie immer mehr Menschen meine Musik tauschten – und auf einmal gab es einen deutlichen Anstieg meiner Verkaufszahlen bei CDs und Noten.

Während fast die gesamte Musikindustrie über Napster geklagt hat, haben Sie davon profitiert?
Whitacre: Ja, Napster war das Beste, was meiner Karriere passieren konnte. Die Leute haben so meine Musik kennen gelernt. Einer sagte dem anderen, „das musst du hören“ – und zack. Dann kam Myspace und war für ein paar Jahre sehr groß, heute sind es Facebook, Twitter und Youtube.

Über Youtube verbreitete sich insbesondere Ihr Chorvideo „Lux Aurumque“, ihr virtueller Chor ging als neues Musikphänomen durch die Nachrichtenwelt. Dabei steckte dahinter doch eigentlich nur das einfache Bedürfnis, miteinander zu musizieren…
Whitacre: Ja, das sehe ich ganz genauso, es war eigentlich nichts Neues. Deshalb fand ich es  auch komisch, als es in den Medien als ein solch bahnbrechendes Ding beschrieben wurde. Es war nur die simple Idee: Lade dein Video hoch, es wird mit anderen zusammengeschnitten und jeder singt zur gleichen Zeit.
Und wie Sie sagen, die einfache Wahrheit dahinter ist, dass die Leute sich verbinden und einander finden wollen. Das ist auch der Grund, warum ich Chormusik am meisten mag: Weil fast alle Chöre genau das darstellen, es ist ein Weg, eine Gemeinschaft zu bilden.

Welchen Stand hat eigentlich Chormusik innerhalb der Klassikszene?
Whitacre: Es lässt sich in der Klassik-Community schon beobachten, dass die Chorsänger oft wie Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Ich weiß auch nicht woran das liegt, aber ich habe viele Proben mit Orchester erlebt, wo der Dirigent die Sänger „Sänger“ nannte und die Instrumentalisten „Musiker“. Das folgt glaube ich der Annahme: was die Sänger machen, ist nicht so wichtig.
Oder ich weiß noch, wie ich über viele Jahre in den USA Werke bei Kompositionswettbewerben eingereicht habe, wo die einzige Bedingung war, dass das Werk einen Dirigenten vorsieht. Also habe ich Chormusik eingereicht, doch nie habe ich gewonnen. Dann lernte ich irgendwann einen der Organisatoren kennen, der mir den Grund so erklärte: Nur, wenn ich ein sinfonisches Werk einreichen würde, dann hätte das Substanz, dann könnte es im Vergleich bestehen.
Ich denke allerdings, dass sich inzwischen viele Veranstalter bewusst werden, dass das Publikum Chöre und Chormusik tatsächlich mag.

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Ich bin generell der Meinung, dass eine Gesellschaft, die sich der Kultur widmet, eine zivilisiertere Gesellschaft ist.

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Woher kommen die Texte für Ihre Chorwerke?
Whitacre: Ich arbeite entweder mit einem zeitgenössischen Dichter, oder ich suche nach dem perfekten Gedicht, um es als Basis zu benutzen, zum Beispiel von den großen englischsprachigen Dichtern E.E. Cummings, Emily Dickinson, William Burrough-Yates – was auch immer ich finde. Und meine Erfahrung ist: Wenn ich ein wirklich gutes Gedicht habe, dann schenkt es mir sozusagen den Entwurf, den Plan nach dem ich das Werk aufbaue. Ich muss nur noch machen, was das Gedicht mir sagt und dann scheint die Musik zu funktionieren.

Was ist Ihnen wichtiger, der Klang oder der Inhalt des Gedichts?
Whitacre: Hmm, gute Frage. (überlegt) Der Klang ist schon wichtig, die Sprache, welche Vokale werden an bestimmten Stellen gebraucht usw. Ich weiß, dass ich manche Gedichte nicht vertont habe, weil sie eine Sprache hatten, wo ich überzeugt war, dass sie gesungen nicht gut klingt. Aber am Ende ist es der Inhalt des Gedichtes, den ich versuche auszudrücken.
Ich brauche für ein Stück mehrere Monate, angesichts dieser langen Zeit muss ich richtig verliebt sein in ein Gedicht, bevor ich loslege.

Ihrem Werk „Lux Aurumque“ liegt ein weltlicher Text zugrunde, glauben Sie, es hätte mit einem geistlichen Text die gleiche Verbreitung gefunden?
Whitacre: Ich benutze ja keine geistlichen, liturgischen Texte, ich bin kein Christ und ich beziehe mich nicht auf die christliche Liturgie. Der Text von „Lux Aurumque“ ist in Latein und die Übersetzung lautet: „Light, warm and heavy as pure gold and the angels sing softly to the new born babe”/„Licht, warm und schwer wie reines Gold, und die Engel singen sanft für das neugeborene Kind.“ Es ist so, dass viele Christen diesen Text als geistlich interpretieren. Andererseits muss ich sagen: Ich würde bei einem religiösen Stück von mir nicht wollen, dass es sich viral so verbreitet.

Warum nicht?
Whitacre: Das wäre keine Botschaft, die ich mit der Welt teilen will. Ich bin der Religion gegenüber misstrauisch und die Idee, etwas zu glorifizieren, woran ich nicht unbedingt glaube – das würde ich nicht wollen.

Wenn man sich die Chormusik der letzten Jahrhunderte anschaut, würde man vermutlich von einem Anteil geistlicher Werke von schätzungsweise 80 Prozent sprechen…
Whitacre: Ja, das ist wahrscheinlich so. Doch ich denke, dass dieser Anteil immer geringer wird und wir bereits einen Wendepunkt erreicht haben, dass es also immer mehr weltliche Stücke geben wird.
Vielleicht liege ich aber auch falsch. Denn wenn ich es mir recht überlege, sind die USA in den letzten 20-30 Jahren immer religiöser geworden, das geht den entgegengesetzten Weg wie in Europa. Es wäre auf jeden Fall interessant, eine Statistik zu haben, wie viele geistliche und weltliche Werke in letzter Zeit geschrieben wurden.

Sie persönlich werden aber kein geistliches Werk komponieren?
Whitacre: Ich habe schon einmal einen geistlichen Text vertont, mein Stück „When David heard“ hat einen Text aus dem Alten Testament. Aber an dem gefiel mir, dass Gott nicht direkt erwähnt wird. Es geht nur um das menschliche Drama, die Geschichte von David, der erfährt, dass sein Sohn Absalom gestorben ist.
Es gibt Passagen in der Bibel, die ich hinreißend finde. Zum Beispiel das Hohelied, darin finden sich die schönsten Liebesgedichte, die je geschrieben wurden, die offen gesagt auch sehr erotisch sind. So etwas würde ich tatsächlich auch verwenden, es würde mich erheitern, wenn sich die Leute in der Kirche fragen: „Was, das ist geistliche Musik?“ – Denn obwohl die Texte aus der Bibel stammen, sind sie nicht gerade jugendfrei (lacht).
Aber um auf ihre Frage zurück zu kommen – es ist eine feine Linie. Ich bin diesbezüglich immer bereit zum Dialog, doch würde ich jetzt nicht selbst nach einer Möglichkeit suchen, um beispielsweise Musik für einen Gottesdienst zu schreiben.

Neben dem Komponieren dirigieren Sie auch sehr viel, wie teilen Sie Ihre Arbeit auf?
Whitacre: Das verläuft in Wellen. Bis vor ein paar Wochen waren es 99 Prozent Komponieren und 1 Prozent Dirigieren, weil ich ein neues Werk zu Ende bringen musste. Im Moment ist es wieder mehr Dirigieren.

Wenn Sie mit Chören arbeiten dirigieren Sie ja nicht nur die eigenen Werke. Haben Sie da manchmal Schwierigkeiten mit Chorwerken anderer zeitgenössischer Komponisten?
Whitacre: Jein… nicht so sehr. Auch wenn ich als Komponist schnell dem Instinkt zu folgen drohe, dass ich ein Stück anhöre und denke: „Oh, das hätte ich aber so, und an der Stelle hätte ich dies gemacht usw.“ Nicht weil ich glaube, dass ich Recht habe, sondern eher weil ich immer auf der Suche bin nach dem perfekten Stück Musik.
Ich muss aber schon zugeben, dass sehr viele zeitgenössische klassische Musik nicht dem entspricht, was ich gerne höre. Ich finde, viele dieser Werke sind ziemlich zornig.

Aber welcher Zorn steckt für Sie dahinter?
Whitacre: Ich weiß es nicht genau. Ich will da jetzt auch keine Komponisten speziell hervorheben. Aber in den Harmonien und in der Herangehensweise steckt oft… vielleicht nicht Zorn, aber etwas Abschreckendes, Befremdliches. Es distanziert sich vom Publikum. Während ich ja versuche, das Publikum so gut es geht einzubinden.

Da fällt mir eine Äußerung von John Adams ein, die er in unserem Interview machte. Er sagte: „Ich konnte nie den psychologischen Standpunkt der Avantgarde verstehen, der zu sein scheint: Leckt mich am Arsch!“
Whitacre: Ja, das verstehe ich gut (lacht).

Haben Sie das Gefühl, das Chöre lieber tonale Werke singen?
Whitacre: Es könnte sein. Es kann auch sein, dass meine Werke dieses Echo finden, weil sie tonaler sind, oder weil sie gut singbar sind.
Ich erinnere mich, wie wir einmal im Uni-Chor an einem Penderecki-Stück gearbeitet haben. Ich will jetzt auf keinen Fall Penderecki verunglimpfen, der so viel wunderbare Musik geschrieben hat. Aber wir haben gearbeitet und gearbeitet, drei Monate lang – wir waren ein anständiger Chor, aber ich konnte nicht glauben, wie viel Anstrengung in dieses eine Werk floss. Und als die Aufführung vorbei war, fragte mich ein Chorkollege: „Wie, das war es jetzt? Dafür haben wir uns so geschunden?“
Meine Hoffnung ist, dass ich Musik schreibe, wo das Resultat die Mühe wert ist. Und manchmal denke ich bei zeitgenössischer Musik, dass es die Mühe nicht wert ist. Es ist sehr schwierig, es aufzuführen und am Ende ist diese Schwierigkeit alles, was das Werk ausmacht.

Haben Sie schon negative Kritiken über Ihre Musik lesen müssen?
Whitacre: Ja, klar. Ich bin mir auch sicher, dass das mit der wachsenden Popularität noch schlimmer wird. Ich lese häufig, meine Musik sei seicht, nur an der Oberfläche – aber OK, so denken sie und ich kann sie auch nicht von etwas anderem überzeugen.
Allerdings musste ich schmunzeln, als in letzter Zeit hier in England einige Kritiker Dinge geschrieben haben wie: „Ich finde die Musik auf seltsame Weise bewegend, einnehmend, ich habe sie gerne angehört – aber sie ist schrecklich.“ OK, damit kann ich leben. Ja, ist doch großartig! (lacht)

Man hört in Ihrer Musik einen Einfluss Arvo Pärts. Haben Sie ihn mal kennengelernt?
Whitacre: Nein. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich wüsste, was ich zu ihm sagen soll. Das wäre für mich wie, als wenn ich einen der Beatles treffen würde. Pärt ist so ein großes Idol und ein so großer Einfluss – ich würde in dem Moment wahrscheinlich keinen einzigen sinnvollen Satz zusammenkriegen.
Ich habe aber mal jemand getroffen, der mit ihm gesprochen hat und der meinte, man würde aus ihm auch kaum etwas herausbekommen. Er scheint nicht sehr gesprächig zu sein. Aber mir würde es schon reichen, einmal seine Aktentasche zu tragen. Das wäre schon mehr als genug für mich.

Pärt begründet seine raren Interviews auch damit, dass seine Musik für ihn spreche. Wie ist das bei Ihnen, was von Ihrer Persönlichkeit steckt in Ihrer Musik?
Whitacre: Das ist eine große Frage. Ich würde gerne sagen können, dass alles, was ich geschrieben habe, die verschiedenen Werke und Stile, alles Aspekte sind, wie ich die Welt erfahre und wie ich die Welt gerne hätte. Das heißt, ich möchte, dass meine Musik aufregend ist, magisch, voller Ehrfurcht, traurig, lüstern, spannend, komisch – und unprätentiös.

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