Eva-Maria Hagen

Einem würdelosen Dasein Adieu zu sagen, das sollte erlaubt sein.

Eva-Maria Hagen über Unabhängigkeit im Alter, den Film "Dinosaurier", die Lektüre ihrer Stasi-Akten und ihren 75. Geburtstag

Eva-Maria Hagen

© Constantin Film

Eva-Maria Hagen, hat das Thema „Altersvorsorge“ für Sie jemals eine Rolle gespielt?
Hagen: Nein, nicht wirklich, der rasante Flussverlauf des Lebens ließ mir kaum Zeit dafür, denn schwuppdiwupp! hatte ich die Fünfzig erreicht und eh ich mich versah, war das nächste Viertel durch mich durch gerauscht, also ein Dreivierteljahrhundert an Lebendgewicht hat nochmal die Kurve gekriegt zur nächsten Runde. Wenn ich drüber nachdenke, was alles passierte, waren es eigentlich mehrere Leben.

Sie waren immer zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt, um an die Zukunft zu denken?
Hagen: Da ich ein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit, aber auch nach Geborgenheit hatte und habe, hielt mein Instinkt mich immer mal wieder dazu an, ein Nest zu bauen, eine Wohnung zu kaufen, wo Platz für Freunde und Nachkommen ist. Aber keiner weiß ja, wie lange er in der Lage sein wird, ohne fremde Hilfe auszukommen. Das seit Urzeiten selbstverständliche noch im Greisenalter gelebte Miteinander in der Familie, der „Altenteil-Anbau“ am Giebel ist so gut wie am Aussterben. Oma und Opa müssen und wollen auch oft selber in so eine „Anstalt“, wie der Kollege Walter Giller liebevoll-ironisch seine Unterkunft im Seniorenstift nennt. Die Geschwindigkeit, Lautstärke und Hektik in der Gesellschaft ist für viele mit 80 oder gar 90 nicht mehr zu verkraften.

Für Sie liegt dieser Schritt also noch in weiter Ferne?
Hagen: Ich weiß es nicht. Nina, mein einst geschlüpftes Küken, das sich längst zu einem Paradiesvogel gemausert hat, sagt in Momenten, wo es sich anfühlt, als würden dir alle Felle wegschwimmen: „Gott gibt – Gott nimmt“. Und auch die Kindeskinder sind längst flügge, werden ohne Fütterung und Holzsammeln des „Muttertiers“, weder hungern noch frieren müssen. Also werde ich mich umsehen, was der Spätherbst noch zu bieten hat an Früchten.

Was für Früchte wären das gerade?
Hagen: Da ist eine Einladung, wo die Künstlerin was über  „Liebe, Lust und Leidenschaft“ singen und vorlesen wird, die Vernissage, wo „Traumbilder in Öl“ von ihr hängen werden. Und zum Jahresende dann der Knallbonbon mit bittersüßer Schokoladenfüllung: „Dinosaurier – Gegen uns seht ihr alt aus“.

Das ist der neue Film von Leander Haußmann, in dem Sie Lena spielen, eine Frau in den späteren Jahren, die von der Bank um ihr Häuschen und Erspartes gebracht wird und in ein Altenheim umziehen muss. Der Film ist sozusagen eine Komödie zur aktuellen Version klassischer Generationskonflikte.
Hagen: Dass die Menschen immer älter werden, ist inzwischen ein Dauerthema und wird von Schwarzsehern wie eine Monsterwelle empfunden, wie ein Tsunami, der auf die Jungen zu rumort, wenn nicht ein Wunder geschieht wie im Alten Testament. Diskussionen darüber sind im vollen Gange. Ideen zu humanerer Unterbringung in Alten- bzw. Pflegeheime werden formuliert, ganze Wirtschaftszweige, stellen sich auf die neue Klientel ein, denn da liegt noch ein Batzen Kapital auf der Hohen Kante.

Rufen die „Dinosaurier“ zur Revolte gegen das Pflege- und Altenheimsystem auf?
Hagen: Man hört ja manchmal, wie Heimbewohnerinnen, die sich aufsässig und sperrig verhalten behandelt werden. Und man sieht, was sich in solchen Einrichtungen abspielt, dass es vorkommt, dass zusammengestaucht, bestohlen und von überfordertem Pflegepersonal geschlagen wird. Das ist ein Alptraum, das will man gar nicht glauben. Der Film ist aber nicht nur eine Art von „Aufruf zur Revolte gegen das Pflege- und Altenheimsystem“. Unsere hochbetagten Heim-Insassen setzen sich auch gegen das Ausgenutztwerden durch skrupellose Banker zur Wehr, von denen ich, also Lena Braake, hundsgemein über den Tisch gezogen wurde.

Trifft es vielleicht zu, dass die wilhelminischen oder weltkriegsgeprägten Generationen das bestehende „Verwahrungs­­­system“ in Altenheimen noch erdulden, während die später Geborenen sich anders verhalten werden?
Hagen: Ich weiß zu wenig darüber, nur dass es früher angeblich noch trister gewesen sein soll, man es aber hinnahm wie eine Fügung von Oben. Neulich hatte ich in Neuruppin einen Auftritt  und wohnte in einem, mir von einer Freundin empfohlenen Hotel, gemütlich, historisch, tolle Küche, „Up Hüs“ genannt, das einstige „Siechenhaus“, in der Siechen-Straße. Es ist das älteste Fachwerkhaus der Stadt, frisch restauriert, mit romantischen Innenhof. Zu Kaiser-Wilhelms-Zeiten und noch bei Adolf wurden in der damals düsteren Anlage die Hinfälligen und Todgeweihten verwahrt, die so genannten Siechen.

Schon das Wort „siechen“ klingt nicht gerade nach Lebensqualität.
Hagen: Bei der Vorstellung, in so einem „Ambiente“ von einst, in eine dieser Krankenstuben auf Gevatterchen Tod warten zu müssen, gäbe es für mich nur eins, nämlich vom Turm zu springen oder einen weniger theatralischen Abgang zu machen: Luftanhalten, den Knollenblätterpilz als letzte Mahlzeit, bestreut mit fein gehackter Petersilie und eine Flasche Himbeergeist hinterher gespült. Das sind so trotzige Schnappschüsse vom Denkapparat, im Ernstfall sähe es sicher wieder anders aus. Aber sich die Freiheit zu nehmen, so einem würdelosen Dasein Adieu zu sagen, das sollte erlaubt sein.

Zuletzt sorgten Bücher, etwa von Tilman Jens über Demenz für Aufsehen. Würdiges Leben und Sterben scheint kein Tabuthema mehr zu sein. Das macht doch Hoffnung.
Hagen: Das sehe ich auch so, aber ich habe andere Erfahrungen gemacht. Im privaten Bereich fällt mir auf, dass der Mensch nicht gern vom Tod spricht, nichts hören will vom Lebensende eines ihm nahestehenden Menschen, dass man das Sterben verdrängt. Es wird von den Jüngeren als bedrohlich empfunden, damit konfrontiert zu werden. Jeder versucht auf seine Weise damit umzugehen. Ich jedenfalls habe damit kein Problem. In meinem Flur hängt im Dämmerlicht eine von mir bemalte Lichtbilderleinwand mit Schäfchenwolken am Himmel und einem Jüngling drauf, in einer mit himmelblauen und blutroten Blumen übersäten Wiese, durch die der Mäher seine Sense schwingt. So habe ich mir „Freund Hein“ ausgemalt zum Trost für triste Momente. Manchmal sag ich im Vorbeigehen zu Hein: „Gedulde dich noch ein Weilchen, das Leben fühlt sich gerade mal wieder so viel versprechend an – ich geh dir ja nicht verloren, eines Tages kommt schon der Tag.“ Er nickt und kneift ein Auge zu, sagt: ist okay, baby.

„Dinosaurier“ ist ein Remake des Films „Lina Braake“ aus den 70er Jahren, der in Westdeutschland sehr erfolgreich war. Haben Sie den Film damals im Osten wahrgenommen?
Hagen: Nein. Bei uns gab es ihn nicht. Auch später im Westen habe ich nichts darüber gehört – erst kürzlich beim Googeln im Internet. Unser Streifen ist zwar eine Art Adaption davon, doch jene Geschichte von damals hat nicht diese Dimensionen und solcherart Probleme, wie es sie heute gibt: den Zuwachs der Uralten und die Skrupellosigkeit mancher Bankmanager, die gutgläubigen Großmüttern und pensionierten Lehrerinnen vorgaukeln, sie wären ein aufmerksamer, sich in der Branche auskennender, nur das Beste für die Kundin wollender, uneigennütziger Menschenfreund.

Das klingt ein wenig so, als hätten Sie selbst negative Erfahrungen mit der Geldwirtschaft gemacht.
Hagen: Das geht wohl manchen Bankkunden so, nicht zuletzt in der zur Zeit weltweit grassierenden Wirtschaftskrise – aber sein Erspartes unterm Teppich aufzubewahren ist sicher auch riskant. Ich habe meinem Kundenbetreuer schon immer gesagt: nichts mit Börse oder ähnlichem, obwohl ich keine Ahnung habe, wie das funktioniert. Hauptsache es bleibt vom Verdienst meiner Arbeit soviel übrig für die verbleibende Zeit, dass ich materiell nicht auf fremde Hilfe angewiesen bin.

Ihre Lena trifft im Altenheim auch eine neue Liebe. Mit „Wolke 9“ hat unlängst Andreas Dresen das Thema „Sex im Alter“ behandelt. Haben Bezüge zu diesem Film im Vorfeld von „Dinosaurier“ eine Rolle gespielt?
Hagen: Eigentlich kann ich nichts dazu sagen, ich habe den Film nicht gesehen, nur was drüber gelesen. Nein, dachte ich, will ich nicht sehen. Ich habe eine Aversion gegen die Art von Nacktheit, fühle Unwillen aufsteigen von meinem romantisch veranlagtem Ego. Phantasie ist anscheinend nicht mehr gefragt. Es ist nicht wegen körperlicher und seelischer Nacktheit oder Liebesszenen im Alter, sondern Selbstschutz. Mir würden solche Szenen womöglich mein mir erhalten gebliebenes Jungsein im Traum verätzen. Aber bitte, jeder wie er es mag und braucht oder ermutigt werden möchte, seine Prüderie oder Scham abzulegen. Toleranz und Respekt ist das A und O im Umgang mit anders fühlenden Zeitgenossen –  was Geschmack und die Sinne anbelangt und überhaupt, denn: Wat den Eenen sien Uul, is den Annern sin Nachtigall.

Musste Leander Haußmann Sie überreden, in „Dinosaurier“ mitzumachen?
Hagen: Oh nein, ich war schon beim Drehbuchlesen begeistert und verliebt in die Typen der Crew. Ob ich es auch noch sein werde, wenn ich den fertigen Film gesehen habe, ob er und meine Lena Braake mich überzeugen, werde ich ja erleben oder auch nicht. Aber ich lache mich jetzt schon schief, wenn ich dran denke, was die beiden süßen, Nadja Tiller und ihr Walterchen von der Vogelweide da im Gespann mit den andern abziehen.

Nadja Tiller und Walter Giller spielen neben Ihnen und Leander Haußmanns Vater Ezard weitere Heimbewohner. Bezogen auf Ihre eigene Laufbahn: wie hat sich das Verständnis vom Kino, das Filme machen und Ihre Sicht auf die Schauspielerei im Lauf der Zeit geändert?
Hagen: Das zu beantworten würde eine zu lange Abhandlung werden, denn zwischen meiner ersten großen Rolle in „Vergesst mir meine Traudel nicht“ von Kurt Maetzig, der in etwa einem Jahr 100 wird und „Dinosaurier“ von Leander Haußmann, der grade die 50 erreicht hat, liegt eine Zeit voller Veränderungen – nicht nur auf kulturellem Gebiet und was die Filmindustrie angeht. Mit Kurt Maetzig begann meine Karriere und durch Leander Haußmann bekam ich – was Kino betrifft – nochmal die Chance, nicht sang- und klanglos in der Versenkung zu verschwinden. Darüber bin ich froh und wünsche mir, mein Publikum auch.

Sie sind gewohnt, auf der Bühne zu stehen. Macht es nicht manchmal wahnsinnig, sich im relativ engen Korsett von Dreharbeiten zu bewegen?
Hagen: Ja und Nein. Ich liebe die Abwechslung in künstlerischer Hinsicht: singe, spiele, male, schreibe, fühle mich im Ensemble vorübergehend aufgehoben, dann kommt wieder ein Abschied von dir lieb gewordenen Menschen und neue Herausforderungen lassen – im Glücksfall – nicht lange auf sich warten. Jetzt würde ich mich allerdings gern ins Nest verziehen bis zum Hellerwerden der Natur, aber die Truppe muss auf den „Marktplatz“, mit Rasseln und Getrommel, in Talkshows Rede und Antwort stehen, Interviewfragen beantworten.

Zitiert

Das seit Urzeiten selbstverständliche noch im Greisenalter gelebte Miteinander in der Familie, der „Altenteil-Anbau“ am Giebel ist so gut wie am Aussterben.

Eva-Maria Hagen

„Ein Mann muss wissen, wann er zu gehen hat“ heißt es in „Dinosaurier“. Aber gehört das Pflegefall werden und aushalten nicht auch zum Menschsein?
Hagen: Ich erinnere mich, das ist ein Satz von dem Filou Johannes Schneider, den mein Partner Ezard Haußmann mimt. Der haut manchmal solche nach Weisheit klingenden Sprüche raus, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken –  ein Wichtigtuer, Aufschneider, gerissenes Schlitzohr, der aber auch ein liebenswerter Mensch ist unter seinem Panzerhemd, wie Lena dann feststellt, wenn sie ihn näher kennen lernt. Zu Ihrer Frage: Natürlich gehört das Aushalten vom „Pflegefall-Werden“ zum Menschsein, aber auch das Nicht-Aushalten-Können, je nach Veranlagung und Umstände des einzelnen Individuums.

Bemerkenswert an „Dinosaurier“ ist unter anderem, dass trotz des Alters der Protagonisten deren Vergangenheit so gut wie keine Rolle spielt. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes präsent. Ihr Leben, Frau Hagen wurde und haben Sie selber auf unterschiedliche Weise reflektiert. Wie wichtig ist für Sie selbst die Rückschau?
Hagen: Anscheinend war es mir sehr wichtig, sonst hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, vieles davon auf die Reihe zu bringen bzw. zu einem Buch zu bündeln. Ausgangspunkt war der historische Moment, als alle Betroffenen von der Bespitzelung der Staatssicherheit der einstigen DDR Zugang zu den über sie angelegten Stasi-Akten bekamen. Da war alles minutiös „erfasst“, abgehört und beschrieben worden, Intimes, Kleinkram, wer-wann-wo-mit-wem… telefonierte, in der Kneipe saß, trank, schlief, auf Abwegen war oder mit den Nerven am Ende, einfach alles aus der Lauschperspektive dieser gemeinen Geheimen Art. Ich habe von 1965 bis 1977 Tagebücher  geschrieben, fast täglich Briefe an meinen Liebsten geschickt und von ihm bekommen – auch nach meiner Versetzung in die Provinz zur Strafe für den Umgang mit diesem „Staatsfeind“ Wolf Biermann.

Sie haben in Ihrem Buch „Eva und der Wolf“ diesen privaten Zeugnissen von Ihnen und Wolf Biermann Berichte der Stasi gegenübergestellt. Das ist auch im stilistischen Kontrast reizvoll, aber Ihre Gründe dafür dürften anderer Natur gewesen sein, oder?
Hagen: Nach der Lektüre der Stasi-Akten Anfang der 90er Jahre war ich erstmal sprachlos über den Aufwand, der da von einer ausgebildeten, gleichzeitig auch dilettantisch agierenden Schnüffelbande getrieben worden war: dieses Ausmaß an Überwachung hatte niemand vermutet. Und ich beschloss, den akribisch erfassten Beobachtungen der Aufschreiber vom Dienst meine Berichte und Briefe an und von meiner Liebe entgegenzusetzen und zu veröffentlichen, damit, wenn ich nicht mehr da bin, nicht nur das Geschmiere von den Horchern an der Wand übrig bleibt aus dieser auch wunderbaren und aufregenden Zeit. Deshalb gab ich 1998 dieses Buch heraus – mit allen persönlichen Höhen und auch Tiefen in besagtem Lebensabschnitt.

Der Umgang mit den Stasi-Akten ist ein immer wieder diskutiertes Thema. Sind sie bei Ihrer Lektüre auf Akteneinträge gestoßen, die nicht wahr sein können?
Hagen: Sicher haben sich die Beobachter und Berichterstatter auch mal geirrt, was verwechselt, missverstanden, sich verhört beim Lauschen oder Vermutungen als Tatsache behandelt. Zum Beispiel als Wolf Biermann die „Stasiballade“ schrieb, da heißt es an einer Stelle „Die Stasi ist mein Eckermann“. Den Sekretär von Goethe kannte der Aufschreiber wohl nicht und notierte: „Die Stasi ist mein Henkersmann“.

Was halten Sie von Forderungen, die Akten zu schließen?
Hagen: Nicht viel. Es ist ein Archiv voller Beweise dafür, was Diktatur bedeutet, wozu ein Herrschaftssystem dieser Art, das sich sozialistisch und demokratisch nannte, imstande ist, wie Menschen manipuliert werden, erpresst, bedroht, benutzt, denunziert. Da ist jedes noch so schmutzige Mittel recht, um das Volk auf die Parteilinie zu bringen und um Andersdenkenden moralisch und handgreiflich das Rückgrat zu brechen.

Konnten Sie für Ihr zweites autobiografisches Buch „Eva jenseits vom Paradies“ auch Tagebücher oder ähnliches zu Ihrer Erinnerung hinzuziehen?
Hagen: Dazu waren noch sehr lebendige Bilder im Erinnerungsspeicher vorhanden. Auch habe ich mich mit „Kindern“ jener Zeit getroffen, die mir vieles bestätigten, ergänzten. Eine Tante erzählte von den Vorfahren. Auch bin ich nach über 50 Jahren in die Gegend, die wir 1945 verlassen mussten gefahren, habe das Dorf und Haus meines Vaters besucht, wo jetzt Polen leben, denn nach dem 2. Weltkrieg wurde der Teil Deutschlands hinter der Oder-Neiße-Grenze polnisch. Es war ein wichtiges Unternehmen, denn mein Lebtag lang habe ich davon geträumt.

So entstand nicht zuletzt ein Spiegel der Zeitgeschichte.
Hagen: Bei diesem Buch war mein Hauptanliegen, die Lage der Kriegskinder zu dokumentieren aus meiner Sicht, unsere Kindheit hinter der Oder zwischen Pommern und der Neumark. Denn darüber wurde in der DDR nicht geredet, das Thema war tabu. 2002, nach der Veröffentlichung wandten sich viele an mich, sagten „ja, so war es“, dankten mir, denn hier war es Schwarz auf Weiß bestätigt, was sie damals so oder ähnlich erlebt hatten – was sie traumatisiert hatte bis ins hohe Alter, weil sich kein Schwanz um die seelischen Wunden dieser Jungen und Mädchen gekümmert hat. Ich konnte durch Kreativität, Theaterspielen und Anerkennung im Beruf das Schreckliche und Grausame der „Vertreibung“ verarbeiten, obwohl bestimmte Tagträume und Anflüge von Verlorenheit mich nicht ganz verließen. Es ist ein Stück Zeitgeschichte für die Nachkommen – wie auch das Buch „Eva und der Wolf“.

„Ich leb‘ mein Leben, sagt Eva Marie“ – Wolf Biermanns Ihnen gewidmete Ballade gehört zu den kräftigsten Liedern in deutscher Sprache. Wie ist es entstanden?
Hagen: Im Laufe der Jahre habe ich immer mal wieder darauf bestanden, vielmehr darum gebeten, dass er mir ein Lied „auf den Leib“ schreibt. So ist auch, einige Zeit nach dem Wechsel in den Westen 1981, diese „Ballade vom wiederholten Abtreiben oder Ich leb‘ mein Leben“ entstanden – ein Resümee, wo unterschiedliche „Abtreibungen“, unter anderem die im Kindesalter erlebte „Vertreibung“ durch den 2. Weltkrieg und jene später aus der DDR thematisiert werden. Es folgten noch andere Lieder wie das Auftritts-Lied „Evas Piep-Show“ oder „Ich hab im Maul noch alle meine Zähne“, ein Lied über das Älterwerden. „Sieben Leben hat die Katze“ ist der letzte der großen, auf Stationen meiner Biographie bezogenen Texte, mit denen sich jedoch viele identifizieren können. Zudem gibt es noch unzählige Übersetzungen aus aller Welt – alles „Schätze“, die ich dem Dichter mehr oder weniger abgerungen habe oder mit denen er mich und seine Fans überraschte.

Was für ein Gefühl ist das, so verdichtet wahrgenommen zu werden?
Hagen: Das ist schwierig zu beantworten. Vielleicht wollte ich einfach bemerkt werden, mich freuen über die Freude, die erzeugt wird beim Gegenüber, wenn ich Gitarre spiele und singe, vor allem, dass ich angenommen werde – nach dem Herumirren in jungen und auch späteren Jahren wieder. Es ist kein konstantes Gefühl, es schwankt zwischen Genugtuung, Stolz und Zufriedenheit, aber die Kehrseite der Medaille ist unter anderem geprägt von Selbstzweifel, Anflügen von Scham über das Ausbreiten seiner Innereien und damit dem Ausgeliefertsein gegenüber den Medien, die alles beliebig interpretieren können. Aber was letzten Endes bleibt ist Dankbarkeit, darüber beispielsweise, Menschen im Leben getroffen zu haben, die mir auf die Sprünge halfen, mich auch brauchten, an mich glaubten und bestimmte Saiten in mir zum Klingen brachten, von deren Vorhandensein ich nichts ahnte…

„Sie verführt gern. Sie mag männliche Männer, lebt für die Liebe zu ihnen, kann aber zwischen Leben und Traum nicht unterscheiden“ – wurde in einem Buch über Schauspieler der Defa über Sie geschrieben. Fühlen Sie sich da korrekt beschrieben?
Hagen: Nein, das war und bin ich nicht. Aber wenn der Regisseur und Autor Herwig Kipping, der das geschrieben hat, mich so sieht oder sah, kann ich es nicht ändern. Es gab zu der Zeit noch kein Buch von mir in der Öffentlichkeit, vielleicht wäre dann ein anderes Porträt entstanden, wenn er meine Sprache und Gedanken besser gekannt hätte. Er entwirft da ein von Irrlichtern und poetischem Flair bestücktes, sich widersprechendes Psychogramm.

Sie haben selbst mit Kipping gedreht. Er kannte Sie also nicht nur aus der Ferne.
Hagen: Ja. Kurz nach der Wende habe ich wieder in Babelsberg gedreht, mit ihm. Sein Film hieß „Novalis – Die Blaue Blume“. Ich glaube aber, dieses Wesen, das er da im Porträt entwickelt, ist eine Mischung aus der „Traudel“ im Kurt-Maetzig-Film und Eva-Maria Hagen. Manche Sätze aus der Traudel-Geschichte werden mir zugeordnet, es gibt Parallelen, eine Vermischung dieser beiden Personen in moderner Novalis-Manier. Da muss seine Phantasie mit ihm durchgegangen sein, gepaart mit dichterischer Freiheit, der Psychologe in ihm war mit federführend. Doch wer weiß, womöglich erkennt ein Außenstehender dich eher als als du selbst. Aber ich mag ihn sehr, seine Art Filme zu machen, sehe die unsichtbare Blaue Blume am Revers seiner Jacke. Schade, dass wir uns aus den Augen verloren haben.

Sie haben im Oktober 2009 Ihren 75. Geburtstag gefeiert. Wie kann man sich so eine Feier im Hause Hagen vorstellen?
Hagen: Es war ein Montag, trotzdem waren Freunde von Nah und Fern gekommen und die „russische Küche“ war voll. Marie Biermann, Tochter von Wolf, hat zwischendurch eine leckere Kürbissuppe gekocht. Sie ist eine grandiose Sängerin, mit der ich in letzter Zeit öfter auftrat. Sie gehört zur Generation meiner Enkelin Cosma Shiva. Marie hat im „Salon“ die Gäste mit frechen und sentimentalen Liedern unterhalten – unterstützt von meinem mich seit 25 Jahren am Flügel begleitenden Pianisten Siegfried Gerlich. Ich habe natürlich auch gesungen, später zur Gitarre Berliner Gassenhauer und Westernsongs aus meiner wilden Zeit, Anfang der 50er Jahre. Ja, die „Party“ war gelungen – dank der Jungen Garde, der reiferen Jugend, so wie vertrauter alter Freunde.

Sie singen „Wenn ich mal tot bin, werde ich Grenzer und bewache die Grenze zwischen Himmel und Hölle.“ Wie werde ich es schaffen, da an Ihnen vorbei zu kommen?
Hagen: „Ausweis bitte! (Piff) Kunststück“ – das ist die letzte Zeile eines Biermann-Liedes von 1964 und ironisch gemeint. Damals hätte ich bloß in Ihren Reisepass rein zu schauen brauchen, ob der Stempel „Reisekader“ drin ist, höchstes Privileg in der DDR. Damit wären Sie überall vorbeigekommen, auch in die Hölle. Denn der Engel Gabriel wäre dann doch, wenn ich die Bibel richtig interpretiere, ein Doppelagent, hatte Himmel und Hölle gleichzeitig unter Kontrolle. Können Sie mir noch folgen?

Noch geht es.
Hagen: Aber die Gepflogenheiten aus Zeiten des Kalten Krieges gehören gottlob der Vergangenheit an – somit auch die Ironie in diesem Fall. In der DDR musste man den Ausweis stets bei sich tragen, sonst könnte ein Streife gehender Volkspolizist dir die „Knebelkette“ ums Handgelenk schlingen und zur Wache abführen, wie mir das selbst passierte – wäre Wolf Biermann nicht eingeschritten – was ein groteskes Nachspiel hatte.
Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, weil ich einen Volkspolizisten „Blöder Hammel“ genannt hatte.

Ohne Ausweis kann einem das auch im vereinten Deutschland passieren.
Hagen: Ja sicher, aber nicht auf diese Art.

Mit welchen Gefühlen denken Sie an die Zeit um den November ’89 zurück?
Hagen: Es war ein aufregendes Gefühl, als die Lawine ins Rollen kam, Glücksmomente wie in der Kindheit, alle Sinne wurden in Mitleidenschaft gezogen. Noch heute breitet sich ein Hauch von Melancholie aus, wenn man an den einstigen Aufbruch denkt. Aber schnell kommt Genugtuung auf für den positiven Ausgang dieses einmaligen Zusammenbruchs ohne Blutvergießen.

Sie leben in Hamburg, Berlin und in der Uckermark. Was haben diese Wohnorte, was die anderen nicht haben?
Hagen: Mein Domizil in der Uckermark habe ich 1973 erworben, 1977 musste ich es verlassen, 1990 bekam ich es wieder. Es erinnerte an die Landschaft und Einfachheit der ursprünglichen Heimat in der Kindheit. Diese gastliche Idylle gab ich übrigens vor kurzem – schweren und leichten Herzens – ab an junge Menschen. Man muss loslassen können. Und in Berlin habe ich mir nach Ende der Teilung Deutschlands ein ‚Schwalbennest‘ unterm Dach gezaubert nach der Melodie von: „Ich hab noch einen Koffer in Berlin …“ In Hamburg bin ich vor über dreißig Jahren „gestrandet“ – durch des Geschickes Mächte. Hier ist mein hauptsächliches Zuhause, hier ist die Luft frischer als anderswo und die Außenalster gleich nebenan zum Spazierengehen. Hier sind Vertraute und Freunde, hier lebt auch meine Enkelin…

Cosma Shiva Hagen…
Hagen: Die ist inzwischen eine waschechte Hamburger Deern geworden, die zwischendurch in der Welt rumkurvt, nach Afrika, Kalifornien, London, Paris reist, demnächst in Berlin am Schloss-Park-Theater Premiere hat und mein dortiges Nest in Prenzlauer Berg anfliegt.

Ihr Leben klingt, als würden Sie sich nicht erlauben wollen, zur Ruhe zu kommen.
Hagen: Ruhe habe ich auch, aber nur, wenn ich sie mir nehme.

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