Reiner Klingholz

Der Abwanderungstrend im Osten ist nicht umkehrbar.

Reiner Klingholz (Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung) über die Ergebnisse seiner aktuellen Demografie-Studie, die Entsiedelung des Ostens, mehr Autonomie für die Kommunen und verbrannte Subventionen

Reiner Klingholz

© privat

Herr Klingholz, ist gerade die richtige Zeit für eine Studie zur Bewältigung des demografischen Wandels – angesichts von Wahlkampf, Finanzkrise und Sommerferien?
Reiner Klingholz: Diesen Zeitpunkt haben nicht wir definiert, es ist ja ein Gutachten für das Bauministerium. Aber die nächste Bundesregierung wird sich Gedanken machen müssen, ob sie einen Demografiebeauftragten oder ein eigenes Ministerium für Demografie einrichtet, denn es gibt in diesem Rahmen sehr viele Aufgaben zu lösen. Insofern ist die Zeit vor dem Wahlkampf sicher ein guter Termin, um dieses Thema ins Gespräch zu bringen.

Wie stellt sich anhand ihres Gutachtens der Wandel derzeit da?
Klingholz: Wir haben uns vor allem mit den Regionen in Deutschland beschäftigt, die stark an Bevölkerung verlieren. Seit 2003 haben wir landesweit etwa eine halbe Million Einwohner verloren und wir werden den mittleren Prognosen zufolge bis 2050 etwa acht Millionen Menschen verlieren. Dieser Rückgang wird jedoch kaum zu Lasten der wirtschaftsstarken Zentren gehen, sondern eher zu Lasten der Regionen, die heute schon vom Schwund betroffen sind. Deswegen braucht man dort komplett neue Konzepte.

Welche Gefahren birgt dieser Wandel, beziehungsweise der Rückgang der Bevölkerung in einzelnen Regionen?
Klingholz: Einzelne Gebiete werden sich vermutlich in den nächsten Jahrzehnten komplett entsiedeln. In anderen Regionen ist das Problem so, dass die Infrastruktur leidet, Kläranlagen, Stromversorgung, Schulen, Krankenhäuser, Busse und Bahnen werden immer weniger genutzt. Dadurch verteuert sich die Nutzung dieser Infrastrukturen und da die Gemeinden die Kosten meist auf ihre Bürger umgelegen, wird das Leben dort zusätzlich unattraktiver. Also muss man Wege finden, wie man die Infrastruktur sehr viel kleiner macht, unabhängiger und autonomer gestaltet.

Gibt es ehemals gut bevölkerte Regionen in Deutschland, die bald vollständig verlassen sein werden?
Klingholz: Das sind im wesentlichen Gebiete, die immer schon dünn besiedelt waren: die Prignitz in Brandenburg zum Beispiel, die Lausitz in Sachsen, Vorpommern in Mecklenburg-Vorpommern, die Altmark in Sachsen-Anhalt. Im Westen betrifft das die Gebiete entlang der ehemals deutsch-deutschen Grenze, vom Harz über die Rhön bis ins nordbayerische Gebiet im Fichtelgebirge. Überall dort dünnt sich die Bevölkerung aus und einzelne Dörfer werden ganz verlassen.

Also vor allem ein Problem der neuen Bundesländer?
Klingholz: Bislang ist das so. Das liegt daran, dass seit der Wende etwa 1,7 Millionen Menschen aus dem Osten abgewandert sind und zwar vorwiegend junge und qualifizierte Menschen. Und wo die jungen Menschen fehlen, können zukünftig keine Familien gegründet werden, so dass sich dieser Abwanderungstrend noch weiterhin langfristig auswirken wird. Es gibt im Moment überhaupt keine Anzeichen dafür, dass dieser Trend im Osten Deutschlands umkehrbar wäre. Denn die Kinderzahlen sind nach wie vor deutlich zu niedrig, um eine stabile Bevölkerung zu erwarten und die Alterung der Bevölkerung ist durch die Abwanderung der Jungen schon stark fortgeschritten.

Spielt die Wirtschaftskrise eine wahrnehmbare Rolle beim demografischen Wandel?
Klingholz: Der Hauptgrund für die Abwanderung aus den neuen Bundesländern liegt natürlich in der schwächeren Wirtschaftslage im Osten Deutschlands. Ob das durch die jetzige Krise weiter beschleunigt wird, kann man nicht sagen, denn die ostdeutschen Wirtschaftsunternehmen sind von der Krise im Moment weniger betroffen als die im Westen, weil sie weniger exportabhängig sind.

Was haben vermeintliche Vorbild-Länder wie die Schweiz, Schweden oder Finnland früher und besser gemacht?
Klingholz: Die Skandinavier haben erstens höhere Kinderzahlen. Während wir bei einem Anteil von unter 1,4 Kindern pro Elternpaar liegen, kommen die Skandinavier auf 1,8 bis fast 2 Kinder. Das heißt, sie haben aus diesen demografischen Gründen keinen Bevölkerungsrückgang zu erwarten. Sie haben zusätzlich noch Zuwanderung, so dass die Gesamtbevölkerung dort in Zukunft eher noch wächst. Darüber hinaus besteht dort für die dünn besiedelten Regionen, die es ja gerade in Skandinavien gibt, eine sehr hohe Verwaltungsautonomie. Die Kommunen können selbst entscheiden, welche Art von Schulversorgung, Altenbetreuung oder Gesundheitsversorgung sie planen. Das macht die Kommunen im Umgang mit diesen dünnen Bevölkerungszahlen sehr viel flexibler.
Die Schweiz ist ein anderes Beispiel, dort sind die Kinderzahlen nicht so hoch wie in Skandinavien. Aber die Schweiz hat eine relativ starke Zuwanderung von höher qualifizierten Personen, was dazu führt, dass diese einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt finden und sehr viel produktiver an der Volkswirtschaft teilnehmen können.

Warum hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erwirkt, dass die Studie von den Internetseiten des Berlin-Instituts entfernt wurde?
Klingholz: Ich habe die Studie ja gemeinsam mit Bundesbauminister Tiefensee vorgestellt. Weiten Teilen, also rund 90 Prozent der Ergebnisse des Gutachtens, hat Herr Tiefensee zugestimmt. Er hat allerdings ein Problem und das kann ich politisch gesehen auch nachvollziehen. Er sagt, die Politik gibt keine Räume auf. Wir sagen allerdings, dass die Räume ja längst dabei sind, sich selbst aufzugeben und wir plädieren dafür, dass man die Menschen, die in diesen Gebieten leben, angemessen versorgt, diese nicht gleichzeitig weiter fördert. Wir müssen genau differenzieren zwischen Versorgungspflicht und Förderung. Fördern kann man in diesen Gebieten nichts, weil schlicht und einfach das Humanvermögen nicht vorhanden ist. Da gibt es im Grunde nur einen kleinen Dissens mit dem Ministerium.

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Einzelne Gebiete werden sich vermutlich in den nächsten Jahrzehnten komplett entsiedeln.

Reiner Klingholz

Der Sprecher von Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee, Rainer Lingenthal, gab bekannt, die Studie sei ohne Absprache mit dem Ministerium veröffentlicht worden. Dabei war er doch als Leiter der Abteilung „Angelegenheiten der Neuen Bundesländer“ an der Studie beteiligt und hat zuvor sogar für eine öffentliche Publikation plädiert. Woher der Sinneswandel?
Klingholz: Also das ist nicht nachvollziehbar. Es war ja ursprünglich als internes Gutachten geplant. Auf Drängen von Herrn Lingenthal ist es veröffentlicht worden und die Veröffentlichung ist durch das Ministerium erfolgt. Wir haben es ja der Presse gegenüber vorgestellt. Wie es dann dazu kam, dass wir diese Studie dann nicht veröffentlichen sollten, weiß ich nicht.

Laut Studie soll die Eigeninitiative, also auch die Autonomie der Menschen in den betroffenen Regionen gestärkt werden, was zudem nur wenig Geld kosten soll. Wie genau könnte das in der Praxis vor sich gehen?
Klingholz: Wir plädieren nicht dafür, dass man dort mehr Mittel zur Verfügung stellt, sondern wir sagen, dass man die Gelder in die Hände der Kommunen legen soll. Ein ganz einfaches Beispiel ist da die Schulplanung in Schweden. Dort haben die Kommunen das Geld, das notwendig ist, um eine Schule zu bezahlen und Lehrer anzustellen komplett selbst in der Hand. Sie entscheiden dann damit, ob sie zwei Schulen zusammenlegen, ob sie einen Bus- oder Taxiverkehr zur nächsten Schule einrichten, ob sie sich eine sehr kleine Zwergschule leisten oder ob sie Fernunterricht anbieten. Das beschließen die Kommunen natürlich in Rücksprache mit ihren Bürgern, also mit den Eltern. Eine sehr vernünftige Variante, weil man dort dann zu einer Lösung kommt, die den Menschen vor Ort entspricht. In Deutschland wird das von oben verordnet, meist nach irgendwelchen Normen, die für städtische Regionen Sinn ergeben, aber nicht unbedingt für dünn besiedelte, ländliche Regionen. Da muss man sehr viel flexibler sein und so etwas können nur die Kommunen vor Ort entscheiden und planen.

„Manche Regionen sind nicht förderbar“ heißt es in der Studie. Ein Punkt, der Ihrer Meinung nach politisch besonders schwer zu vermitteln ist. Können Sie Beispiele für solche Regionen geben und Gründen nennen, warum dort keine Förderung funktionieren würde?
Klingholz: Wir sagen, dass Gebiete, die stark vom demografischen Wandel betroffen sind, also starke Abwanderung und starke Überalterung aufweisen, Konzepte vorlegen sollten, wie sie mit der Zukunft klarkommen wollen. Und zwar in den Bereichen Schulversorgung, Gesundheitsversorgung, Energieversorgung und Nahverkehr. Wenn sie dort zu innovativen Lösungen kommen, die möglicherweise auch Arbeitsplätze schaffen können, oder das Lebensumfeld wieder attraktiver machen, so dass dort vielleicht auch wieder verstärkt Menschen hinziehen, dann sollte es auch Förderung geben. Eins darf man jedoch nicht vergessen: Was die Politik de facto betreibt, also die gleiche Politik, die immer sagt, wir lassen keinen fallen, ist eine Rückzugspolitik, wenn im Osten Deutschlands über 2000 Schulen bereits geschlossen wurden und wenn überall Bibliotheken und Gesundheitsstationen schließen. Das heißt ja, dass sich der Staat aus sehr vielen Versorgungspflichten verabschiedet und die Leute sich selbst überlässt. Der Staat tut genau das, was er vorgibt, nicht tun zu wollen.

Sie kritisieren den Bund im Bereich Demografie, aber sie heben auch erfolgreiche Projekte hervor. Gibt es da so etwas wie eine Kern-Idee und warum sind diese erfolgreichen Projekte nach wie vor in der Minderheit?
Klingholz: Naja, die erfolgreichen Projekte folgen diesen Prinzipien, dich ich zum Teil genannt habe. Neue Ideen für diese Gebiete kreieren, weniger in Strukturen, als in Dienstleistungen denken. Eine Struktur gibt genau vor, wie zum Beispiel eine Schule auszusehen hat. Eine Schule jedoch als Dienstleistung zu begreifen, bedeutet zu verstehen, dass die Schule die Aufgabe hat, die Kinder auf das Leben vorzubereiten. Wie das Gebäude dabei außen herum aussieht, ist völlig egal. Wir haben viele Regionen in Ostdeutschland, in denen sehr aufwändige Kläranlagen gebaut wurden, im Zuge des Aufbaus Ost. Die funktionieren aber gar nicht mehr, wenn dort zu wenige Menschen wohnen. Es wird sehr teuer, diese dann zu betreiben, weil sie nicht ausgelastet sind. Dort braucht man komplett neue Konzepte mit kleinen, dezentralen Einrichtungen, wo dann vielleicht auch Biogas erzeugt werden kann. Aber das sind alles kleine, angepasste Modelle, die man sich vor Ort, den Gegebenheiten entsprechend überlegen muss. Das sind alles Beispiele dafür, wie man die Kreativität der Kommunen fördern sollte.

Wie realistisch sehen Sie die Chancen, dass Vorschläge wie zum Beispiel der Politikvorschlag „Projekt Zukunftsregion“ in naher Zukunft Realität werden könnten?
Klingholz: Zum Teil gibt es sie ja schon. Aber die Förderung mit der Gießkanne, also beispielsweise mit der Idee, ich installiere irgendwo mit großen Subventionen eine Chipfabrik oder eine Zeppelin-Halle, das funktioniert nicht. Damit kann man sehr viel Geld verbrennen, aber davon verabschiedet man sich langsam. Letztendlich ein ganz normaler sozialevolutionärer Prozess, bei dem sich langfristig genau das durchsetzen wird, was wir fordern. Die Politik hat dabei die Chance, das zu beschleunigen. Wenn man nämlich auf diesen evolutionären Prozess wartet, dauert das zu lange und ist auch relativ schmerzhaft.

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