Steffen Seibert

Es war fahrlässig, über die Jahre hinweg nicht viel mehr Fragen zu stellen.

ZDF-Anchorman Steffen Seibert über die Casting-Show „Ich kann Kanzler“, seine Lehren aus der Finanzkrise, den Medienwahlkampf im Superwahljahr, die Video-Podcasts der Kanzlerin und seine starken Emotionen beim Mauerfall 1989

Steffen Seibert

© ZDF/Kerstin Bänsch

Herr Seibert, Sie sagten einmal, als Jugendlicher seien Sie nur ein Mitläufer gewesen. Warum eigentlich?
Seibert: Was ich damals gemeint habe, war, dass ich als Jugendlicher in den Teenager-Jahren noch nicht gewusst habe, wer ich wirklich bin. Das heißt, ich habe mich mal an diese und mal an jene Gruppe gehängt. Dementsprechend habe ich mich auch manches Mal unwohl und fehl am Platze gefühlt. Irgendwann jenseits der 20 war mir einfach klarer, was ich will und was ich nicht will, was zu mir passt und was nicht zu mir passt. Ich war einer, der sich gesucht hat.

Was hat Ihnen dabei geholfen, zu erkennen, wer Sie sind und wohin Sie wollen?
Seibert: Tja, wahrscheinlich so ein paar Fehlgriffe, die man so gemacht hat, ein paar richtige Entscheidungen, ein paar Menschen, die ich getroffen habe und die Tatsache, dass es mit dem Älterwerden besser wird.

Waren Sie als Jugendlicher politisch?
Seibert: Ich war als Jugendlicher ganz sicher kein politischer Mensch. Ich bin auf eine sehr politisierte Schule gegangen, also habe ich vorschriftsmäßig auch an all den Anti-AKW und Anti-Kultusministeriums-Demonstrationen teilgenommen – das würde mich aber nicht zu einem politischen Menschen machen. Ich war jemand, der mit 16 angefangen hat, sich regelmäßig für Nachrichten und Zeitung lesen zu interessieren und bei dem sich das Interesse dann mit der Zeit verstärkt hat.

1988 haben Sie ein Volontariat beim ZDF angefangen – ein Jahr später fiel bereits die Mauer. Inwiefern hat Sie dieses Ereignis geprägt?
Seibert: Zunächst einmal war der Mauerfall für mich ein Riesenglück und eine Riesenenttäuschung. Die Riesenenttäuschung war, dass ich mich in den letzten Wochen meines Volontariates befand und in Mainz festsaß, während in Berlin gerade Unfassbares passierte. Wie jeder normal denkende Mensch wollte ich am liebsten sofort nach Berlin aufbrechen.

Sie hätten es tun können.
Seibert: Hätte ich, ja. Und heute sage ich mir tatsächlich auch: Ich hätte nicht so brav sein und hier einfach mal abdüsen sollen. Stattdessen habe ich meine Volontariatskurse besucht. Das werfe ich mir heute noch vor.

Welche Gedanken gingen Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Mauerfall hörten?
Seibert: Es war für mich selbst überraschend, wie stark meine Gefühle darauf reagiert haben. Dass ich heulend vor dem Fernseher sitzen würde, hätte ich vorher nicht erwartet – so wie ich das Ganze nicht erwartet hätte.

Nun jährt sich der Mauerfall in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal, wir feiern zudem 60 Jahre Bundesrepublik und befinden uns im so genannten Superwahljahr mit mehreren bedeutenden Wahlen, unter anderem der Europa- und Bundestagswahl. Wie politisch ist das Jahr 2009 aus Ihrer Sicht, das ja zusätzlich noch stark im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise steht?
Seibert: Im Moment haben wir eine so ungeahnt einschneidende Krisensituation. Wer in diesem Jahr nicht an Politik Anteil nimmt, der wird es vielleicht nie tun. So war es 1989 übrigens auch. Das alles sprang einem ins Gesicht, es sprang einem mitten hinein ins Leben. Das Leben veränderte sich unglaublich – das hat die Gesellschaft insgesamt natürlich immens politisiert. Bei vielen hat es jedoch nicht lange gehalten. Und ich glaube, dieses jetzt wird auch nicht lange halten.

Haben Sie in Hinblick auf die Krise eigentlich das Gefühl, zu begreifen, was da gerade vor sich geht? Oder fällt es Ihnen das selbst als Nachrichtenmann, der sich tagtäglich damit beschäftigt, schwer?
Seibert: Ich verstehe viel mehr als noch vor einem Jahr und habe in den letzten Monaten ungeheuer viel über die Finanzwirtschaft und ihre verschlungenen Wege in den Abgrund gelernt. Aber ich will nicht so tun, als könnte ich genau herleiten, was zu dieser Krise geführt hat, inklusive aller einzelnen Finanzprodukte, die da hops gegangen sind. Mir ist auf jeden Fall bewusst geworden, dass es von mir und vielen anderen fahrlässig war, über Jahre hinweg nicht viel mehr Fragen zu stellen und nicht da, wo vielleicht Skepsis aufkam, nachzuhaken. Eine gewisse Naivität, mit der wir uns zur finanziellen Schlachtbank haben führen lassen, kann man sich schon vorwerfen – und sie darf nicht wieder vorkommen.

Lässt sich das denn überhaupt verhindern?
Seibert: Zunächst einmal hoffe ich darauf, dass die Fachleute erstens aus eigener Einsicht und zweitens, weil wir sie alle gesellschaftlich, staatlich stärker an die Kandare nehmen, den gleichen Unsinn nicht noch mal tun. Es hat auch ganz viel mit uns zu tun. Wir sind die Wirtschaft. Wir sind auch die Finanzwirtschaft. Unsere völlig überzogenen Hoffnungen, dass die zweistelligen Renditen nur so vom Himmel fallen könnten, haben das alles ja erst möglich gemacht. Wir waren die Treiber dieses Systems. Das müssen viele von uns sich klarmachen…

…und welche Konsequenzen daraus ziehen?
Seibert: Nun gut, zunächst einmal muss jeder Einzelne, der irgendwelche Anlagen hat, mit etwas nüchternerem, bescheidenerem Blick an diese Anlagen heran gehen. Und nicht allen Versprechungen hinterher rennen.

Woran liegt es, dass im Vorfeld nicht mehr Skepsis aufkam? Weil man dachte: „Die haben das schon irgendwie im Griff“?
Seibert: Das zum einem. Ein anderer Grund ist, dass niemand aus meiner Generation im Westen eine wirkliche einschneidende Krise irgendwelcher Art erlebt hat. Wir kannten eigentlich immer nur ein Voran. Klar, ich weiß: 2000 ist die Internetblase geplatzt – aber das war schnell behoben. Wir alle hatten noch nicht erlebt, dass wirklich auch mal der Rückwärtsgang eingelegt werden kann und dass Billionen Euro zerstört werden können. Das ist eine neue Erfahrung. Ich glaube, hätten wir die schon gemacht gehabt, wären wir misstrauischer, vorsichtiger gewesen – nun werden wir es sein.

Man hatte in Zusammenhang mit der Krisenbewältigung der Bundesregierung in letzter Zeit immer wieder den Eindruck, dass die Politik den Entwicklungen hilflos gegenüber steht.
Seibert: Mir sind in den letzten sechs Monaten die Politiker am sympathischsten gewesen, die Schwächen und Schwierigkeiten, etwas zu verstehen, eingestanden haben. Wir als Bürger und als Wähler müssen so etwas auch zulassen. Wir dürfen von unseren Politikern nicht immer Allwissenheit erwarten – die kann kein Mensch einlösen. Wir haben oft genug diejenigen abgestraft, die mal gesagt haben: „Ich weiß es auch nicht“.

Wie bewerten Sie denn derzeit die ersten Wahlkampfbemühungen der Parteien? Haben Sie das Gefühl, die Politik trifft den Nerv der Zeit und der Menschen?
Seibert: Als ganz normaler Bürger nehme ich noch nicht viel von Wahlkampfbemühungen wahr – außer dass ich merke, dass die eine oder andere Forderung nach Steuersenkungen natürlich wahlkampfgetrieben ist. Aber noch ist das doch das normale Grundrauschen. Da wird noch mehr kommen.

Glauben Sie, dass die Parteien in Hinblick auf Wahlkampfversprechen klüger geworden sind? Beispielsweise hat die SPD 2005 erst gegen die Mehrwertsteuererhöhung gekämpft, später in der Großen Koalition jedoch gleich noch ein Prozent mehr mit drauf geschlagen als von CDU/CSU ursprünglich gefordert. So gewinnt man nicht an Glaubwürdigkeit.
Seibert: Prinzipiell glaube ich, dass Politiker aus Fehlern, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, lernen – um dann neue zu machen. Ich halte das für menschlich. Dass man jetzt eine insgesamt klügere, reifere Parteienlandschaft findet, die solche Fehler nicht mehr macht, ist illusorisch. Sobald es in den Wahlkampf geht, werden Versprechungen gemacht. Vielleicht lernen wir jedoch als Wähler dazu, Versprechungen etwas kritischer zu sehen. Vielleicht lernen wir auch, jemanden nicht gleich abzustrafen, der uns harte Botschaften und Einschränkungen überbringt – das wäre mal ein echter Lerneffekt.

Einschränkungen haben auch bereits Grüne und FDP gemacht – indem sie gegenseitig ausgeschlossen haben, im September eine Koalition miteinander zu bilden. Ist es gut für die Demokratie, wenn vorher schon gesagt wird, mit wem man alles nicht regieren will?
Seibert: Das ist das, was man hier bei mir in Hessen die Ausschließeritis nennt. Ich denke, wer das tut, muss dann wirklich auch felsenfest dazu stehen – und das nehme ich im Moment noch keinem der Beteiligten ab. Ich würde es an ihrer Stelle also lassen. Ich finde, dass die demokratischen Parteien miteinander koalitionsfähig sein müssen, genauso wie ich finde, dass eine Große Koalition bei uns eine Ausnahme bleiben sollte.

Ihr Fazit nach vier Jahren?
Seibert: Vorher hat man sich die Große Koalition schön geredet und behauptet „Große Koalition gleich große Lösungen“. Das kann man am Ende von vier Jahren nun wirklich kaum behaupten.

In der Krise hatte eine Große Koalition auch Vorteile – so konnten auf Grund der deutlichen Mehrheitsverhältnisse im Parlament schnell bestimmte Gesetze auf den Weg gebracht werden.
Seibert: Ja, das stimmt. Damit deuten Sie aber an, dass das in einer anderen Parteienkonstellation nicht möglich gewesen wäre – und das weiß ich nicht. Hoffen wir einfach mal, dass die nächsten vier Jahre nicht auch von solchen wahnsinnigen Herausforderungen geprägt sein werden.

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Es war für mich selbst überraschend, wie stark meine Gefühle auf den Mauerfall reagiert haben. Dass ich heulend vor dem Fernseher sitzen würde, hätte ich vorher nicht erwartet.

Steffen Seibert

Was wird denn in Hinblick auf die Wahlen im September entscheidend sein – das Wahlprogramm der Parteien oder die Beliebtheit und das Charisma der verschiedenen Kandidaten?
Seibert: Die Frage ist, ob die Menschen sich wirklich die Mühe machen, sich die Parteiprogramme durchzulesen oder ob es am Ende nicht doch eine Gefühlsfrage wird, im Sinne von: Bei wem fühle ich mich wohl? Bei wem fühle ich mich aufgehoben? Ich merke an mir selbst, dass ich nicht nur nach Parteiprogrammen wähle, obwohl ich durch meinen Beruf vielleicht mehr davon weiß als andere. Ich wähle durchaus auch nach anderen Überlegungen, es wäre eine Lüge, wenn ich etwas anderes behaupten würde.

In einem Interview haben Sie Schwarz-Grün mal als keine schlechte Option dargestellt.
Seibert: Ich kann nur sagen, dass ich bis auf die Linkspartei alle Parteien, die im Bundestag sitzen, schon mal gewählt habe – bei verschiedenen Kommunal-, Landes- und Bundestagswahlen. Ich bin ein ziemlicher Wechselwähler. Daher kann ich mir auch nahezu alle Konstellationen vorstellen.

Was macht Sie zum Wechselwähler?
Seibert: Das Problem ist, dass ich, sobald der Wahltag naht, in mich gehe und lauter widerstreitende Stimmen in mir höre. Die eine sagt, mach dies, und die andere sagt, mach jenes. Die eine sagt, du hast doch im Prinzip immer dieses gut gefunden und die andere sagt, aber in dieser Situation ist doch vielleicht jenes richtig. Die eine sagt, du hast eine Vorliebe für diesen Kandidaten oder diese Kandidatin – aber er oder sie ist in der falschen Partei. Das sind die normalen widerstreitenden Stimmen im Kopf eines Wählers.

Nun haben sich die Parteien aus dem amerikanischen Wahlkampf eine Menge abgeguckt. Man ist mit eigenen Channels bei Youtube vertreten, die Spitzenpolitiker haben Profile in Social Networks, es wird getwittert wie wild. Ist das ein wirksames Mittel, um Menschen für Politik zu begeistern?
Seibert: Ich kann darüber nur reden wie der Blinde über die Farbe, weil ich weder twittere noch Facebook oder studivz nutze – und das für mein Leben auch nicht brauche. Mein Eindruck ist allerdings, dass jemand wie Thorsten Schäfer-Gümbel mit seiner Twitterei überall eher für ein Lächeln sorgt, wenn er uns Belanglosigkeiten mitteilt wie „Ich trinke jetzt einen Kaffee“ oder „Ich esse jetzt eine Pizza“. Auch die Video-Podcasts der Kanzlerin erscheinen mir sehr uninternettig. Sie benutzt zwar das Internet, aber es wirkt wie die Weihnachtsansprache. Ich habe das Gefühl, die bewegen sich da alle, sie versuchen es – aber sie haben noch nicht ganz verstanden, dass man auf einer neuen Plattform auch etwas Neues tun und vielleicht auch mehr von sich geben muss als in einem normalen Fernsehauftritt oder Zeitschrifteninterview.

Also folgen sie alle nur einem Trend?
Seibert: Ich glaube, was man aus Amerika lernt, ist ja nicht, dass der Kandidat plötzlich auch im Internet eine Rede hält, sondern dass die Mobilisierung seiner Unterstützer über die Social Networks läuft. Da ging in Amerika bei der letzten Wahl immens die Post ab. Dass wir hier in Deutschland im September etwas Vergleichbares erleben werden, kann ich mir jedoch beim besten Willen nicht vorstellen.

Interessant ist ja auch, was passiert, wenn ein deutscher Politiker versucht, Barack Obama zu kopieren. Als SPD-Generalsekretär Hubertus Heil vor Parteigenossen „Yes, we can!“ in den Saal rief, blieb es still wie auf einem Friedhof.
Seibert: Da möchte man sich doch in einem Erdloch verkriechen, oder? Mich erinnerte das an den Auftritt von Oskar Lafontaine, als er noch bei der SPD war, wo er bei einer Juso-Veranstaltung zu Techno-Rhythmen zappelte. Also, ich kenne keinen, der das nicht mit schierem Entsetzen gesehen hat. So werden Politiker nicht glaubwürdiger bei jungen Menschen.

Funktioniert es in Deutschland anders als in Amerika einfach auch nicht, Politik mit Show zu verbinden?
Seibert: Man muss es dann auch können! Erstens mal: Politik mit Show zu verbinden, ist wirklich eine Sackgasse, wenn da nicht zunächst einmal die politische Substanz vorhanden ist. Auch junge Wähler sind doch nicht so blöd, dass sie sagen: Der hat aber einen guten Hüftschwung, deswegen finde ich den gut. Für wie doof hält man sie? Wenn die Substanz auf anderen Wegen transportiert wird, weil ein Kandidat das Lockere eben auch beherrscht,  wie wir es bei Obama erleben, dann mag es funktionieren. Ich kann aber die Parallele zwischen Hubertus Heil und Barack Obama nicht wirklich erkennen – gleiches gilt für Herrn Pofalla oder Herrn Söder.

In einer Studie wurde vor einiger Zeit mal festgehalten, welche Werte Jungwählern am wichtigsten sind. Dazu gehören Lebensnähe, Lockerheit, Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Wissen Sie, wer diese Werte laut Studie am besten vermittelt?
Seibert: Keine Ahnung. Sie werden es mir sagen.

Günther Jauch.
Seibert: Gut, der liegt ja immer vorne. Wenn die Umfrage international geführt worden wäre, hätten die Leute George Clooney gewählt. Aber das bringt ja gerade mal gar nichts. Es sei denn, Günther Jauch möchte auf dieser Basis endlich mal in die Politik einsteigen.

Könnten sich deutsche Politiker dennoch etwas von ihm abgucken?
Seibert: Also, Günther Jauch könnte mit Sicherheit ein fähiger Politiker sein. Der Mann ist hochintelligent, er ist sympathisch, er kann reden wie ein Buch. Aber was nützt es, darüber zu reden, wenn Günther Jauch nicht will? Dann könnten wir uns auch darüber unterhalten, ob Michael Schumacher nicht ein guter Verteidigungsminister wäre. Ich habe als Jugendlicher auch für andere Leute geschwärmt als für den damaligen Bundeskanzler oder den damaligen Innenminister. Aber am Ende gibt es das politische Personal, das es gibt. Und ich finde immer, dass man das gerade Jugendlichen klar sagen muss: Seid damit zufrieden oder stürzt euch in die Schlacht und versucht selbst etwas zu verändern.

Genau das wollen zahlreiche Kandidaten, die sich für die von Ihnen moderierte ZDF-Show „Ich kann Kanzler“ beworben haben – Günther Jauch sitzt hier zumindest in der Jury. Welche Qualitäten muss ein Kanzler denn heutzutage eigentlich haben?
Seibert: Ein Kanzler – oder jemand, der in dieser Sendung weit nach vorne kommen will?

Gibt es da keine Gemeinsamkeiten?
Seibert: Naja, gut. Die Sendung heißt „Ich kann Kanzler“ – und im Titel ist natürlich ein Augenzwinkern mit enthalten. Es glaubt ja keiner, dass wir jetzt einen 25-jährigen wählen und nächstes Jahr ist er es dann. Ein bisschen länger ist der Weg schon. Ich glaube, in der Essenz wird es um Qualitäten gehen, die man auch haben muss, wenn man Kanzler sein will. Aber da kommen später noch ganz andere Dinge dazu. Auf die Sendung bezogen muss es jemand sein, der mitreißen kann, der andere intellektuell wie gefühlsmäßig ansprechen kann, der Substanz hat, sprich Ideen und Kenntnisse – und Stil.

Über 2500 junge Menschen haben sich für die Show beworben. Angesichts der Vielzahl der Bewerbungen für „Ich kann Kanzler“: wie politikverdrossen sind die Jugendlichen heute denn nun wirklich?
Seibert: Man hört ja immer eher Negatives als Positives über die Jugend. Ich glaube, das war zu allen Zeiten schon so. Es war aber auch schon immer so, dass es sich bei genauerem Hinschauen dann doch etwas anders verhält. Jugendliche stehen Parteien und ihren Strukturen heute sicherlich ferner als vor dreißig Jahren. Die Zahl der Jugendlichen, die davon träumt, eine Karriere als Kassenwart im Kreisverein zu machen und die Wochenenden bei Kreisparteitagen zu verbringen, ist ganz offensichtlich kleiner als sie früher war. Aber gleichzeitig ist unsere Definition dessen, was politisches Engagement ist, auch viel weiter geworden. Es ist eben auch politisch, sich in ein Umwelt- oder ein Integrationsprojekt oder bei Attac einzubringen. Und da sieht und hört man von sehr vielen Jugendlichen. Ich glaube, das Interesse ist eher projekt- als parteienbezogen. Darin kann ich aber keinen Nachteil sehen, außer für die Parteien, die im Nachwuchsbereich natürlich ein bisschen schwächeln. Vielleicht müssten sie lernen, stärker auf diejenigen zuzugehen, die sich für Themen und Projekte interessieren – und nicht für Sitzungen.

Welcher deutsche Kanzler hat Sie in der Vergangenheit am meisten beeindruckt?
Seibert: Ich glaube, wir hatten letztlich mit unseren Kanzlern Glück. Ich war noch zu jung, als Willy Brandt Kanzler war, aber natürlich habe ich die Begeisterung meiner Eltern für Brandt sehr nah mitbekommen. Man spürte, dass dort jemand die Menschen auf eine Art und Weise ansprach, wie es vorher nie der Fall gewesen ist. Der Erste, den ich dann bewusst erlebte, war Helmut Schmidt. Ihn fand ich damals wie heute überzeugend in dieser betont nüchternen „Ich bin doch nur der erste leitende Angestellte dieses Landes“-Herangehensweise.

Dass Schmidt heute so große Anerkennung genießt, liegt vermutlich auch stark daran, dass er längst keine politischen Entscheidungen mehr treffen muss.
Seibert: Natürlich. Es erinnert sich ja kaum noch jemand an einzelne Maßnahmen der Schmidt’schen Regierungspolitik. Ich glaube, man schätzt nicht seine Regierungszeit, sondern diesen unbeugsamen, scharf analysierenden alten Herrn, der noch dazu auf so eine charmante Art und Weise die Nation voll raucht, ohne sich darum kümmern, was andere davon halten. Aber um das noch zu sagen: Ich habe in der Phase der deutschen Einheit auch große Bewunderung für Helmut Kohl gehabt, mit dessen Kanzlerschaft ich mich am Anfang eher schwer getan habe. Und ich bin sicher: Man wird auch über Gerhard Schröder etwas Gutes zu sagen finden – genauso wie über Angela Merkel.

Nach Ihrer Kanzler-Show wird mit dem TV-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier vor der Bundestagswahl das „Kanzler-Casting“ fortgesetzt. Angesichts der enormen medialen Beachtung, die dieses Duell bereits im Vorfeld bekommt und der Tatsache, dass sich die Kanzlerin ja mit ihrem Vizekanzler duellieren wird, mit dem sie vier Jahre lang zusammen regiert hat: Wie absurd ist diese ganze Veranstaltung eigentlich?
Seibert: Dieses Jahr ist es besonders schwierig, weil wir eben die Situation haben, dass im Grunde die Regierung miteinander diskutiert. Ich kann schon verstehen, dass sich die FDP namens der anderen Parteien im Bundestag stark dafür macht, das aufzubrechen. Ich möchte mir darüber nicht den Kopf zerbrechen müssen, wie man das am besten löst. Grundsätzlich finde ich diese Duelle immer schwierig. Ich habe auch noch keines gesehen, das mich als Bürger vollkommen befriedigt zurückgelassen hätte. Die Erwartungen sind immer gewaltig. Die Siege oder Niederlagen des einen oder anderen werden dann immer in irgendwelchen Nuancen davon getragen. Trotzdem sind sie wichtig. Das muss man einfach mal anerkennen. Dort hören Millionen Menschen konzentriert zwei Stunden lang hin – das ist im Wahlkampf kein zweites Mal der Fall. Und als Journalisten wären wir dumm, wenn wir diese Chance nicht ergreifen würden.

Ist die Wahlkampfberichterstattung in Zeiten einer Großen Koalition eine besondere Herausforderung für die Medien?
Seibert: Es hat für die gesamte Amtszeit der Großen Koalition gegolten, dass man sich nicht nur ausschließlich auf die beiden großen Parteien konzentriert. Ich kann für die ZDF-Nachrichten sagen, dass wir sehr bewusst darauf geachtet haben, dass die Opposition in der für sie sehr schwierigen Situation nicht zu kurz kommt und deren Meinungen und Standpunkte ganz penibel immer mit berücksichtigt werden. Es ist auch die Erwartung der kleineren Parteien, die sagen: „Kinder, ihr dürft uns jetzt aber nicht vergessen“.

Der heutigen Politikergeneration wird oft zu viel Show, zu viel Inszenierung vorgeworfen. Die Medien befördern das andererseits, indem sie die Politiker in Shows einladen, ihnen 500 Mal am Tag ein Mikrofon unter die Nase halten, sich die Bedingungen für TV-Duelle diktieren lassen, weil die sich selbst eine gute Show versprechen. Wie stellst dich dieses Wechselverhältnis von Medien und Politik in der heutigen Zeit aus Ihrer Sicht dar?
Seibert: Trotz aller Herausforderungen hat sich da im Grunde nicht viel verändert. Die Politik macht Politik, das heißt sie führt Debatten, trifft Entscheidungen, macht Gesetze. Und wir, die Medien, sind dafür da, die Zuschauer zu informieren. Warum ist das für sie und das Land wichtig? Was ist der Hintergrund dieser Entscheidung? Wie sind die verschiedenen Positionen? Wer will was warum? Welche Auswirkungen hätte das? Das klingt jetzt sehr banal, aber diese Aufgabe stellt sich jeden Tag aufs Neue. Mehr ist es nicht.

Aber auch nicht weniger.
Seibert: Es ist anspruchsvoll genug. Wir müssen dafür sorgen, dass der mündige Bürger, den wir draußen vor dem Fernseher vermuten, von uns die Informationsbausteine bekommt und anschließend in Kenntnis der Sachlage seine eigene Entscheidung fällen kann. Das ist ein ziemlich großes Ziel, das erreicht man auch nicht jeden Tag, weil manche Probleme sehr kompliziert sind. Aber es ist und bleibt unsere Aufgabe, daran hat sich nichts geändert.

Das Wechselverhältnis von Politik und Medien ist ja auch in Ihrem eigenen Haus ein besonders spannendes – in Zusammenhang mit der Diskussion um die aus CDU-Kreisen geforderte Ablösung von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender. Sind Sie auch einer von denen, die zuletzt die Unabhängigkeit der Medien in Gefahr gesehen hat?
Seibert: Ich habe den offenen Brief, den verschiedene Kollegen geschrieben haben, nicht unterzeichnet, weil ich ihn nicht kannte. Wenn ich ihn gekannt hätte, hätte ich es getan.

Sie haben sich selbst einmal als „ewiges Nachwuchstalent“ bezeichnet. Wie lange wollen Sie das noch sein, Herr Seibert?
Seibert: Das ist aber schon Jahre her, heute wäre das ja albern. Ich bin jetzt 48, da habe ich aufgehört, an mich selbst als „Nachwuchs“ zu denken. Die Talentfrage müssen andere beurteilen.

Könnten Sie auch Kanzler?
Seibert: Nein. Weil ich nicht Kanzler wollen würde. Ich würde Bundespräsident wollen – und werde mich melden, sobald es eine „Ich kann Präsident“-Show gibt (lacht).

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