Thomas Helmer

Das Verhalten der FIFA ist stur und dickköpfig.

Thomas Helmer über die Debatte um den Videobeweis, Rekordablösen und Trikotküsser

Thomas Helmer

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Herr Helmer, die Bundesligasaison begann mit einem großen Aufreger, das vermeintliche Tor zum 1:0 für Hoffenheim gegen den FC Bayern am ersten Spieltag entfachte erneut die Diskussion um die Einführung einer Torkamera. Wie stehen Sie dazu?
Helmer: Ich bin ein Verfechter der Torkamera. Es gibt immer wieder spielentscheidende Situationen, in denen der Schiedsrichter und seine Assistenten nicht sehen können, ob der Ball wirklich die Linie überschritten hat. Die technischen Möglichkeiten für eine Torkamera sind vorhanden. Und ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Wäre Hoffenheim tatsächlich in Führung gegangen, wäre das Spiel ganz anders verlaufen.

Hoffenheim wurde ein Tor geklaut. Sie „erzielten“ im April 1994 für den FC Bayern gegen den 1. FC Nürnberg das berühmte „Phantomtor“.
Helmer: Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Kein Wunder, ich werde auch heute noch immer darauf angesprochen. Da war ich 17 Jahre Profi – und das Erste, was man mit mir in Verbindung bringt, ist dieses Tor (lacht).

Eine Torkamera hätte das sicher verhindert.
Helmer: Dass es kein Tor war, hätte der Schiedsrichter auch ohne Videobeweis erkennen können. Ich selbst wusste damals in dem Moment zunächst gar nicht, was los ist. Viele behaupteten später, ich wäre jubelnd abgedreht, was aber gar nicht stimmt. Aus heutiger Sicht muss ich sagen: Der Schiedsrichter und ich haben den Fehler gemacht, dass wir nicht miteinander gesprochen haben.

Warum ist die Torkamera in anderen Sportarten möglich, im Fußball aber nicht?
Helmer: Gute Frage! Im Eishockey etwa wird sie schon seit vielen Jahren erfolgreich eingesetzt. Man müsste die FIFA mal fragen.

Die Gralshüter im International Board des Weltverbandes FIFA, die den Einsatz einer Torkamera bislang untersagen, haben angeblich ein Durchschnittsalter von 82,5 Jahren. Könnte das eine Rolle spielen?
Helmer: (lacht) Nein, ich denke, der eigentliche Grund ist, dass nicht überall auf der Welt die technischen Voraussetzungen zum Einsatz der Torkamera vorhanden sind. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum man sie nicht wenigstens dort einführt, wo es möglich ist. Das Verhalten der FIFA ist stur und dickköpfig. Aber ich glaube nicht, dass es was mit dem Alter der Herren zu tun hat.

Bayern-Coach Louis van Gaal bezeichnete die Tatsache, dass es noch immer keine Torkamera gibt als lächerlich. Stimmen Sie mit ihm überein?
Helmer: Gut, er hat es drastisch formuliert. Aber grundsätzlich hat er recht: Es hätte schon längst etwas passieren müssen. Wir leben schließlich im 20. Jahrhundert, die technischen Mittel sind vorhanden. Für mich geht es letztlich nicht um die Frage: Torkamera ja oder nein, sondern mehr darum, welches das beste Hilfsmittel ist. Eine Alternative wäre der Chip im Ball, der bereits so ausgereift sein soll, dass Fehlentscheidungen nahezu ausgeschlossen sind. Der Chip hätte zudem den Vorteil, dass der Schiedsrichter das Spiel nicht lange unterbrechen müsste. 

Für viel Diskussionsstoff sorgte in den vergangenen Monaten auch der Transferwahnsinn um Cristiano Ronaldo, Kaka & Co. Wie beurteilen Sie die Entwicklung um die Rekordablösesummen?
Helmer: Sie haben selbst von Transferwahnsinn gesprochen. Da muss ich Ihnen recht geben. Gerade in Zeiten der Weltwirtschaftskrise ist es sehr heikel, wenn man mit soviel Geld um sich schmeißt, wie es Real Madrid derzeit macht. Summen wie die 94 Millionen Euro für Ronaldo sind wirklich abenteuerlich. Ich kann mich noch erinnern, als ich als teuerster Abwehrspieler der Bundesliga für acht Millionen Mark von Borussia Dortmund zu Bayern München wechselte.

Das war 1992. Sie sollten damals über den Umweg AJ Auxerre transferiert werden, was für viel Wirbel sorgte.
Helmer: Die Überlegungen kamen auf, weil ich in meinem Vertrag eine Ausstiegsklausel für das Ausland hatte. Diese lag bei drei oder vier Millionen Mark. So hätte der FC Bayern viel weniger für mich zahlen müssen. Aber am Ende haben die Bayern und auch ich dieses Modell abgelehnt…

…und Uli Hoeneß musste acht Millionen Mark für Sie auf den Tisch legen. Für damalige Verhältnisse eine sehr hohe Summe.
Helmer: Wohl wahr. Die Ablöse war für mich damals eine ganz schwere Hypothek, mit der ich arg zu kämpfen hatte. Wir sind damals unter Erich Ribbeck zwar mit sieben Siegen in die Saison gestartet, aber ich stand im Kreuzfeuer der Kritik. Die Zeitungen schrieben, dass von einem 8-Millionen-Einkauf einfach mehr kommen müsse. Für einige wurde ich schon als Fehleinkauf abgestempelt. Diese Zeit war wirklich nicht einfach für mich.

Ist ein Cristiano Ronaldo denn 94 Millionen Euro wert?
Helmer: Er hat letzte Saison bewiesen, dass er der beste Spieler der Welt ist. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass er mehr kostet als alle anderen Spieler. 94 Millionen Euro ist er sicher nicht wert – auch wenn er selbst das vielleicht anders sieht. Allerdings sind heutzutage auch viele Durchschnittsspieler viel zu teuer.

Sind Transfersummen in dieser Höhe überhaupt noch refinanzierbar?
Helmer: Sicher nicht. Da muss man ja nur Uli Hoeneß genau zuhören, der eine klare Meinung dazu hat. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass in England, Spanien und Italien viele Klubs hoch verschuldet sind. Natürlich holen Vereine wie etwa Manchester United oder Real Madrid durch weltweites Merchandising viel Geld rein, aber viele von ihnen wären ohne einen zahlungskräftigen Investor gar nicht mehr überlebensfähig. Diese Entwicklung ist sehr gefährlich. Auch wenn man momentan glauben könnte, dass die Weltwirtschaftskrise am Fußball vorbeigeht: Ich denke, die Gefahr eines Super-Gaus ist in diesen Ligen enorm hoch.

Kann man den Fans solche Summe eigentlich noch vermitteln?
Helmer: Das ist sehr schwierig. Aber in der Bundesliga sind wir von diesen wahnsinnigen Dimensionen zum Glück weit entfernt. Hier wird, auch bei den kleineren Vereinen, einfach seriöser gewirtschaftet – und das, obwohl die Fernsehgelder viel niedriger sind als in den genannten Ligen. Und die Begeisterung ist ungebrochen, was der neue Dauerkartenrekord unterstreicht.

Zitiert

Ich bin ein Verfechter der Torkamera.

Thomas Helmer

Sind Vereine nur noch reine Wirtschaftsunternehmen?
Helmer: Nein, das sehe ich nicht so. Natürlich macht es manchmal den Eindruck, dass es nur noch darum geht: Wer hat das höchste Budget, wer das meiste Geld, um sich entsprechend verstärken zu können? Aber zum Glück kann man sich den Erfolg nicht erkaufen. Chelsea etwa wartet noch immer auf den Gewinn der Champions League.

Die Bayern-Bosse haben Real Madrid angeprangert, weil sie Franck Ribéry trotz laufenden Vertrages nicht in Ruhe lassen. Aber sind die Bayern nicht ein wenig scheinheilig? Schließlich haben sie sich in der Vergangenheit auch oft nicht um bestehende Verträge geschert. Das Werben um Manuel Neuer ist da nur ein Beispiel.
Helmer: Scheinheilig? Das wäre zu hoch gegriffen. Es ist doch legitim, dass man sich über Spieler Gedanken macht, die gut in die eigene Mannschaft passen würden. Dass man versucht, sie trotz Vertrag beim aktuellen Klub loszueisen, finde ich nicht  dramatisch. Was Ribéry betrifft: Ich denke, die Bayern waren vor allem deshalb verärgert, weil Real nur mit dem Spieler und nicht mit dem Verein gesprochen hat.

Sind Verträge im Fußball nichts mehr wert?
Helmer: Die Spieler haben heutzutage sicher sehr viel Macht, aber man muss die Lage auch mal aus ihrer Sicht sehen. Eine Fußballer-Laufbahn dauert nur wenige Jahre. Die Zeit, in der man auf seinem Topniveau spielt, ist sehr begrenzt. Zudem besteht immer die Gefahr, dass man sich im Training oder im Spiel so schwer verletzt, dass von heute auf morgen die Karriere beendet ist. Deshalb ist es legitim, wenn ein Spieler viel Geld verdienen möchte und versucht, seinen sportlichen Höhepunkt auch finanziell auszunutzen.

Sie waren in Ihrer Karriere kein Wandervogel, blieben Ihren Vereinen stets etliche Jahre treu. Heute ist das bei vielen Profis anders. Sehen Sie Tendenzen in Richtung Söldnertum?
Helmer: Sie haben recht. Ich war immer sehr bodenständig, habe mich aber auch mit meinen Vereinen immer hundertprozentig identifiziert. Egal ob in Bielefeld, in Dortmund oder in München – ich habe mich bei meinen Klubs und in den Städten wohl gefühlt und immer genau abgewogen, ob es sich für mich lohnt, den Verein zu wechseln. Heute ticken viele Spieler offenbar anders als ich damals. Aber das möchte ich nicht verurteilen.

Die letzte Station Ihrer Karriere war der FC Sunderland. Haben Sie sich mit diesem Verein auch identifizieren können?
Helmer: Ja, dort wurde es mir sehr leicht gemacht, weil mich die Fans sehr euphorisch aufgenommen haben. Aber leider habe ich dort kaum noch gespielt. Letztlich war die Zeit für mich dort fast wie ein Abtrainieren. Ich wurde von Verletzungen zurückgeworfen, kam nicht mehr richtig in Tritt und habe nach einem Kurz-Engagement bei Hertha BSC Berlin meine Laufbahn dann ausklingen lassen.

Haben Sie mal im Nachhinein bereut, ein Vertragsangebot nicht angenommen zu haben?
Helmer: Ja, nachdem Ottmar Hitzfeld mir im Winter 98/99 sagte, dass mein Vertrag beim FC Bayern nicht verlängert wird, bekam ich ein Angebot vom FC Liverpool. Die „Reds“ haben sogar zweimal angefragt – das erste Mal im Dezember und dann noch einmal im Januar. Weil sie mir nur einen Kontrakt über vier Monate angeboten hatten, habe ich letztlich beide Male abgesagt. Aus heutiger Sicht war das sicher ein Fehler.

Zurück zu Ribéry: Finden Sie es gut, dass die Bayern gegenüber Real Madrid stur bleiben?
Helmer: Auf jeden Fall. Allerdings ist auch klar: Wenn Ribéry irgendwann wirklich unbedingt weg will, sind die Bayern in einer schlechten Position. Es macht keinen Sinn, einen unzufriedenen Spieler dieser Klasse mit aller Macht zu halten. Rein wirtschaftlich betrachtet, müsste man bei einem Angebot in der Größenordnung von 70 oder 80 Millionen ohnehin ernsthaft darüber nachdenken, ihn zu verkaufen. Andererseits: Es ist fraglich, ob die Zahlen, die kolportiert wurden, wirklich stimmen. Und die Bayern  sind wirtschaftlich so gut aufgestellt, dass sie überhaupt keinen Druck haben, Ribéry verkaufen zu müssen.

Hätten Sie Verständnis dafür, wenn Ribéry unbedingt wechseln wollte?
Helmer: Fakt ist: Der FC Bayern hat mit Ribéry vor zwei Jahren einen super Fang gemacht. Aber er hat mit den Bayern auch einen sehr guten Verein gefunden, schließlich lief für ihn zuvor bei Olympique Marseille nicht alles rund. Kurz gesagt: Er hat den Bayern gut getan und die Bayern haben ihm gut getan. Aber ich kann nachvollziehen, dass er jetzt noch einmal einen Sprung machen möchte. Real Madrid ist für viele ein Kindheitstraum.

Ist Franck Ribery genauso viel wert wie Cristiano Ronaldo?
Helmer: Er liegt vielleicht minimal hinter ihm. Ich bin begeistert von Ribery. Er ist einer der herausragenden Spieler weltweit. Die Zuschauer gehen seinetwegen ins Stadion.

Bundesliga-Präsident Rauball kritisierte zuletzt heftig die Trikotküsser, die nach einem Torjubel das Vereinslogo abknutschen, um diese Geste dann Monate später bei ihrem neuen Klub zu wiederholen. Ist das geheuchelte Vereinsliebe?
Helmer: Ich weiß gar nicht, ob den meisten diese Geste überhaupt bewusst ist. Ich denke, das ist einfach eine emotionale Reaktion nach einem Tor, vergleichbar mit dem Trikotausziehen. Ich würde das nicht so hoch bewerten.

Im Sommer drehte sich auch das Trainerkarussell sehr heftig. Ein neuer Trend?
Helmer: Diesen Eindruck hatte man sicher kurzfristig. Ich war auch überrascht. Aber ich würde nicht soweit gehen, daraus einen Trend abzuleiten und zu sagen, dass die Trainer den Spieß nun umdrehen und sich für die Rauswürfe der vergangenen Jahre rächen. Die vielen Wechsel waren eher ein Zufall. Der Beruf des Trainers ist nach wie vor ein undankbarer Job.

Können Sie sich eine Karriere als Trainer vorstellen?
Helmer: Nein, das war für mich nie ein Thema. Als ich meine Fußballschuhe an den Nagel gehängt hatte, wollte ich einen anderen Lebensrhythmus haben. Als Trainer würde das nicht funktionieren. Im Gegenteil: Da muss man sogar im Urlaub arbeiten und sich um neue Spieler bemühen und kann wahrscheinlich nie abschalten. Ich könnte mir eher vorstellen, als Sportdirektor zu arbeiten. Auch ein Job beim DFB wäre unter Umständen reizvoll.

Als Bundestrainer?
Helmer: (grinst) Ja, wer weiß. Das wäre jedenfalls nicht so stressig.

Apropos Sportdirektor: Der HSV sucht noch einen Nachfolger für Dietmar Beiersdorfer. Ihr Name wurde auch schon gehandelt.
Helmer: Ich kenne die Leute beim HSV ganz gut, aber wir hatten diesbezüglich keinen Kontakt. Ich habe mich bislang nicht mit diesem Thema beschäftigt.

Letzte Frage: Wer wird Deutscher Meister 2009/10?
Helmer: Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn die Bayern in einer Saison mal nicht Meister wurden, haben sie es im nächsten Jahr geschafft. Aber sie müssen höllisch aufpassen: Ich schätze den VfL Wolfsburg und Stuttgart als ebenbürtig ein und rechne mit einem packenden Dreikampf…

Thomas Helmer wurde am 21. April 1965 in Herford geboren. Seine Profi-Karriere als Abwehrspieler begann er 1984 bei Arminia Bielefeld. Zwei Jahre später wechselte er zu Borussia Dortmund und 1992 schließlich zum FC Bayern München. Hier erzielte er mehr

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