Tine Wittler

Einer Frau, die „zu dick“ ist, wird abgesprochen, überhaupt eine Frau zu sein.

Tine Wittler über Schönheitsideale in Deutschland und Mauretanien, Zwangsfütterung und respektlose Beauty-Redakteurinnen

Tine Wittler

© privat

Frau Wittler, die Regisseurin Doris Dörrie erzählte uns im Interview wie sie zur Vorbereitung ihres Films „Die Friseuse“ im Fatsuit durch Berlin lief, um herauszufinden, wie es sich anfühlt, in Deutschland dick zu sein. Nach ein paar Stunden war sie den Tränen nahe. Können Sie das nachvollziehen?
Man muss ständig darauf vorbereitet sein, abwertend angeschaut zu werden. Jeder, der aus der Norm fällt, läuft Gefahr, diskriminiert zu werden. Ich möchte das gar nicht auf Übergewicht beschränken: Alles, was „anders“ ist, wird oft als Bedrohung empfunden. Ich denke, der Mensch ist ein Herdentier, er möchte „dazu gehören“. Und wenn einer aus der Art schlägt, kann man prima draufhauen und sich im Schutz der Masse erhaben fühlen.

Dörrie vermutet: „Der vermeintlich fröhliche Dicke ist wahrscheinlich ein sehr trauriger Dicker, der sich übermenschlich anstrengt, um nicht in Trübsinn zu verfallen.“ Stimmen Sie dem zu?
Seit ich „Einsatz in 4 Wänden“ moderiere, beschränkt sich die Presse oft darauf, mich als die fröhliche, zupackende Moderatorin darzustellen, die immer gute Laune hat. Bei anderen Moderatoren wird ihr Kameralächeln nicht weiter thematisiert – doch bei mir hebt man dies immer wieder hervor. Weil unterschwellig assoziiert wird: Die ist dick, die muss doch eigentlich unglücklich sein. Dann holt man das Klischee der fröhlichen Dicken aus der Schublade. Aber ein freundliches Gesicht gehört doch schlicht zu meinem Fernsehjob!

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Wer schön sein will, muss reisen“, wie Sie im Internet auf das Übelste beschimpft werden, u.a. als „fette Drecksau“. Gibt es eine Möglichkeit, sich dagegen zu schützen?
Ich frage mich, wer diese Menschen erzogen hat? Sobald man in der Öffentlichkeit steht, wird leider alles zu einem öffentlichen Gut – auch der eigene Körper, der doch nur einem selbst gehört. Man kann das kaum eindämmen. Man kann sich nur damit auseinandersetzen und sich für die Gründe interessieren, warum jemand so wird. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass viele solcher Leute eigene Probleme haben, von denen sie ablenken wollen. Oder schlicht nichts Besseres zu tun.

Würden Sie Sendungen wie „The Biggest Loser“ bei SAT.1 oder „Das große Abnehmen“ bei RTL moderieren?
Auf gar keinen Fall.

Warum nicht?
Gegenfrage: Warum sollte ich? Mir fällt da kein einziger plausibler Grund ein! Außerdem halte ich es für fragwürdig, dass durch solche Formate ja auch wieder der Gedanke transportiert wird: „Wenn du dicker bist als andere, kannst du gar nicht glücklich sein, also musst du abnehmen“.

Würden Sie sagen, dass sich der Schönheitsbegriff in Deutschland in den letzten Jahren verändert hat?
Schönheit ist seit ein paar Jahren wieder eine verhandelbare Größe. Es gibt „Makel“, die als niedlich oder hübsch gelten können – wie Sommersprossen, große Nasen, schiefe Zähne. Der einzige Fehler, der insbesondere Frauen weiterhin absolut nicht verziehen wird, ist Übergewicht. Einer Frau, die „zu dick“ ist, wird unverzüglich abgesprochen, überhaupt eine Frau zu sein. Sie ist dann ganz automatisch nicht mehr sexy, nicht hübsch und schon gar nicht begehrenswert. Sie ist ein Brecher, der es verdient hat, dass man darüber herfällt und Witze macht.

Für Ihr Buch sind Sie im Jahr 2011 nach Mauretanien gereist. In dem Land sind runde Formen das Schönheitsideal und ein Zeichen guter Herkunft. Haben Sie sich in Mauretanien schöner gefühlt als in Deutschland?
Ist es wichtig für mich und mein Fortkommen, mich „schöner“ zu fühlen? Nein. Es ist wichtig, meinen Körper anzunehmen, wie er ist. Und ihn genießen zu können mit allem, was zu ihm gehört! Es bringt mich im Leben langfristig nicht weiter, wenn andere mich für den Moment als schön wahrnehmen. Erst recht nicht, wenn ich meine Zeit und Energie darauf verwende, „schön“ sein zu wollen, obwohl ich sie an anderer Stelle viel sinnvoller einsetzen könnte. Mir wird seit der Veröffentlichung des Buches subtil immer wieder vorgeworfen, ich hätte diese Reise angetreten, um aus Deutschland zu fliehen. Um mich „endlich mal schön“ zu fühlen. Da könnte ich mich wahnsinnig drüber aufregen.

Aber der Titel Ihres Buches, „Wer schön sein will, muss reisen“, suggeriert genau diesen Wunsch.
Ich meine mit „schön“ ausdrücklich nicht die äußere Schönheit. Viele Menschen denken bei „schön“ immer erst nur an das, was außen liegt. Aber was einen Menschen meiner Meinung nach schön macht, ist Offenheit. Es ist die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand zu schauen und lernen zu wollen. Nur, wenn ich andere Kulturen kennen lerne, kann ich erkennen, was in meinem eigenen Land passiert. Ich bin nach Mauretanien gereist, weil es mich erstaunt hat, dass es Länder gibt, in denen das Schönheitsideal ganz anders ist als bei uns. Ich wollte lernen und verstehen, welche Faktoren Schönheitsideale beeinflussen.

Hat sich durch die Reise Ihr Selbstverständnis als Frau verändert?
Die Mauretanierinnen sind sehr starke, engagierte und würdevolle Frauen. Trotz ihrer juristischen Rechtelosigkeit in der Islamischen Republik Mauretanien, in der die Scharia Gesetz ist, bewegen sie Großes. Dies geht einher mit einem Selbstverständnis, das mir neu war. Die Mauretanier sagen: „Du bist eine Frau, also bist du schön.“ Das ist ein Naturgesetz. Selbst, wenn eine Frau sehr dünn ist, oder wenn sie sich zum Beispiel nicht pflegt, wird sie nicht als hässlich bezeichnet. Die Mauretanier sagen dann: „Man kann ihre Schönheit nicht so gut sehen“. Aber sie ist und bleibt eine schöne Frau, die ihre ganz besonderen, einzigartigen Vorzüge hat.

Zitiert

Ist es wichtig für mich und mein Fortkommen, mich „schöner“ zu fühlen? Nein. Es ist wichtig, meinen Körper anzunehmen, wie er ist und ihn genießen zu können.

Tine Wittler

In Mauretanien haben Sie an einer „Gavage“ teilgenommen, der traditionellen Zwangsfütterung mit Kamelmilch, die die Chancen junger Frauen auf dem Heiratsmarkt erhöhen soll. Wie stehen Sie dazu?
Im Internet kursiert bereits der Vorwurf, ich würde die „Gavage“ verharmlosen wollen oder gar gutheißen. Das tue ich natürlich nicht! Ja: In Mauretanien werden kleine Mädchen auch heute noch qualvoll gemästet. Zum Glück ist diese Tradition auf dem Rückmarsch, denn sie ist gefährlich und kann tödlich enden. Bei uns hingegen diskutieren 10-jährige Mädchen auf dem Schulhof Diäten und essen tagelang nichts, weil sie Angst haben, zuzunehmen. Wir sollten darüber nachdenken, was das über unsere Welt aussagt. Wahn ist Wahn, hier wie dort.

Also sind die Frauen hier wie dort Opfer eines gesellschaftlichen Wahns?
Ein kleines Mädchen in Mauretanien, das zwangsgefüttert wird, hat oft keine Wahl. Für eine junge Frau dort kann es weiterhin überlebenswichtig sein, ob ein Mann sie schön findet und heiratet, damit sie versorgt ist. Als Frau, die in Westeuropa aufwächst, gibt es diese Überlebenswichtigkeit im Zusammenhang mit dem Thema „Schönheit“ nicht mehr. Und trotzdem wird diesem Thema eine Bedeutung zugeordnet, als wäre das noch immer so. Aber mit ein bisschen Grips in der Birne habe ich hier doch die Freiheit, mich zu entscheiden, wie weit ich das Spiel mitspiele. In Deutschland ziehen viel zu wenig Frauen ihre deutlichen Grenzen und sagen: Das bin ich, so will – und darf – ich sein. Und bleiben.

Wie stehen Sie zu dem Phänomen des weiblichen Sextourismus? Können Sie es verstehen, wenn europäische Frauen z.B. nach Kenia, Gambia oder Malawi reisen und sich in den Armen exotischer Beachboys erholen wollen?
Nein, ich verstehe diese Frauen nicht. Und ich finde das sexistisch. Ich finde es ja auch nicht in Ordnung, wenn Männer nach Thailand reisen, um dort mit Frauen Sex zu haben.

In Mauretanien tragen die Frauen die Malhafa, eine fünf Meter lange Stoffbahn. Haben Sie sich davon für Ihre eigene Modelinie inspirieren lassen?
Nein, weil die Malhafa sehr viel verhüllt. Das widerspricht der Philosophie meiner Modelinie: „Nicht verstecken, sondern betonen“. Aber ich habe mich von den Farben inspirieren lassen. In Deutschland läuft man sich die Hacken ab auf der Suche nach einem schönen Stoff. Auf den Märkten dort findet man die schönsten Farben und Muster.

Was läuft denn in Ihren Augen falsch in Deutschland bei der Mode für übergewichtige Frauen?
Eine runde Frau wie ich hat fast ihr ganzes Leben lang gelernt: „Kaschieren, kaschieren, kaschieren. Dunkle Farben tragen. Tarnen! Verstecken!“ Von der Industrie wurde runden Frauen lange jeglicher Spaß an Mode genommen. Zum Glück verändert sich in diesem Bereich seit einiger Zeit eine Menge.

Was müsste sich, abgesehen von der Modebranche, in Deutschland noch ändern?
Überall wird oberflächlich gegen den „Schlankheitswahn“ gewettert. Aber wer sich diesem nicht unterwirft, wird dafür angegriffen. Der Druck wird ganz subtil aufgebaut: Britney Spears wird als „Pop-Moppel“ bezeichnet, Lady Gaga als „Lady Schwabbel“ – bloß, weil sie ein paar Kilo zugenommen haben. Aber wer arbeitet denn in den Medien im Boulevard-, Lifestyle- und Fashion-Bereich und hat diese Dinge mit in der eigenen Hand? – Frauen! Mädels, denkt mal darüber nach, was ihr den ganzen Tag in euren Sendungen, Magazinen und Artikeln so raushaut. Wie doppelzüngig, menschenverachtend und respektlos das oft ist. Findet endlich eine Haltung dazu! Akzeptiert andere Frauen, so wie sie sind, und reduziert sie nicht auf ihre Körper. Dadurch könnt ihr euch selbst das Leben leichter machen. Es wäre völlig falsch, zu behaupten, „die Männer“ seien schuld. Die meisten Männer wollen gar nicht das Genormte. Das Problem ist also durchaus von uns Frauen hausgemacht.

Sie erleben das selbst, wenn über Sie geschrieben wird, Sie seien „dick im Geschäft“. Oder „schwer verliebt“…
… einer großen deutschen Tageszeitung fiel nichts Besseres zu meinem Buch ein, als zu schreiben, dass es „dick“ ist.

Wie gehen Sie damit um?
Ich habe auch schlechte Tage, an denen mich das Gefühl beschleicht: „Du hast doch vor der Kamera nichts zu suchen, so wie du aussiehst.“ Aber ich frage mich dann gezielt: Was würde sich in meinem Leben zum Positiven ändern, wenn ich nur schöner wäre? Wäre ich reicher? Erfolgreicher? Würden andere mich mehr lieben, hätte ich zum Beispiel mehr Männer? Aber will ich überhaupt „mehr Männer“ – reicht mir nicht einer, der mich nimmt, wie ich bin? – Wenn ich mir diese Fragen stelle, dauert es keine fünf Minuten, und ich weiß wieder, wie gut es mir geht. Erst recht, seit ich im bitterarmen Mauretanien zu Gast sein durfte. Wir machen uns selbst das Leben schwer, weil wir zu wenig über das nachdenken, was wirklich wichtig ist.

Haben Sie schon neue Reisepläne?
Ja, ich werde wieder reisen und mit Frauen einer anderen Kultur sprechen. Aber statt Sahara gibt’s als nächstes Berge und Schnee. Und es wird dann auch um ein neues Thema gehen.

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