Agnès Varda, in Ihrem Film „Die Strände des Agnes“ erklären Sie Ihren Wechsel von der Fotografie zum Filme-Machen mit den lapidaren Worten „Es war einfach Zeit, etwas anderes zu tun.“ Das kann doch nicht die ganze Wahrheit sein, oder?
Agnès Varda: Ich glaube, ganz so habe ich es auch nicht gesagt. Tatsächlich war mir die Fotografie wohl einfach zu still. Und ich wollte Menschen zusehen, wie sie sich bewegen. Als ich dann meinen ersten Film schrieb, hatte ich keine Ahnung, was auf mich zukommen würde. Ich war nie eine Regie-Assistentin oder ähnliches. Es war also ein Sprung ins kalte Wasser. Aber gleich am ersten Drehtag habe ich verstanden: das ist es, was ich machen will. Ich bin eine Filmemacherin.
Die meisten Ihrer Filme arbeiten sowohl mit dokumentarischen, als auch mit fiktiven Elemente. Geht das eine nicht ohne das andere?
Varda: Die Antwort steckt schon in der Frage. Auch unser Leben ist doch eine Mischung aus dem, was wir als wahr wahrnehmen und dem, was wir uns ausdenken. Als ich zum Beispiel „Mur murs“ machte, meinen Film über Mauergemälde in Los Angeles, fing ich ihn als einen Dokumentarfilm an. Aber es wurde zu einem Spielfilm, als die Protagonisten anfingen, darüber zu reden, wie sich die Stadt in diesen Mauergemälden ausdrückt. Auf der anderen Seite hat mein Spielfilm „Vogelfrei“ die Textur eines Dokumentarfilms, obwohl er komplett erfunden und gespielt ist.
Aber wie kann der Zuschauer dann unterscheiden, was wahr ist und was nicht?
Varda: Ich finde es generell sehr schwierig, im Kontext von Filmen von Wahrheit zu sprechen. Kino ist niemals Wahrheit. Es versucht nur, sich der Wahrheit anzunähern. Es ist einfach sehr schwierig, zu entscheiden, was an Bildern, an Spiegelungen wahr ist. Manchmal enthalten ja selbst total hollywoodeske „Fake-Filme“ eine wunderschöne Wahrheit.
Wie sehr identifizieren Sie sich dann mit Ihren Protagonisten, zum Beispiel mit Sandrine Bonnaires rebellischer Obdachlosen in „Vogelfrei“?
Varda: Na, im Vergleich zu ihr bin ich relativ clean. (lacht) Nein, ich bin nicht sie. Sie ist radikal gegen alles. Sie ist eine „Nein-Person“. Sie sagt Nein zur Gesellschaft, Nein zu jeder Hilfe, sogar Nein zu den anderen Hippies. Sie ist die reine Wut und man fragt sich, warum. Ich habe solche Menschen getroffen und nie herausfinden können, warum sie so sind, wie sie sind. Ich bin eher mittel-rebellisch. Ich bin keine Nein-Person, ich bin eine Nein-JaJa-Nein-Vielleicht-Nein-Ja-Person. (lacht)
Sie bauen in Ihrem neuen Film Orte nach, an denen Sie gelebt haben und lassen Szenen Ihres Lebens nachspielen. Welche Absicht steckt dahinter?
Varda: Es war eine gute Möglichkeit, zum Beispiel unseren Kindern zu zeigen, was für eine Bruchbude unser Haus früher einmal war. Sie kennen es ja nur aus Zeiten, in denen es aussah, wie man es eigentlich nur aus Magazinen wie „Schöner wohnen“ kennt. Das ist wie der Erinnerung Wirklichkeit verleihen. Ich habe allerdings nicht chronologisch mein Gedächtnis verfilmt. Es ist eher eine Assoziationskette geworden. Eine Erinnerung knüpft an die nächste. Das ergibt manchmal große Zeitsprünge, aber der Zuschauer, der sich auf diesen Fluss einlässt, wird ihm folgen können.
Sie werden „Die Großmutter der Nouvelle Vague“ genannt. Sind entsprechend Jean-Luc Godard, François Truffaut und die anderen so etwas wie Enkel für Sie gewesen?
Varda: Ich habe meinen ersten langen Film 1954 gemacht. Der war sehr radikal. Die sogenannte „Neue Welle“ explodierte 1959 mit Filmen wie „Außer Atem“ oder „Sie küssten und sie schlugen ihn“. Deren Haltung war zwar neu, aber ihre Filme wollten eher klassisches Kino sein. Zumindest zunächst. Sie kamen ja von der Filmkritik, hatten in der Les Cahiers du Cinéma das klassische Hollywood-Kino von John Ford und so weiter gepriesen. Das war nicht das meine. Das ging ja auch gar nicht, denn bis zu dem Zeitpunkt hatte ich nur ganz wenige Filme gesehen, also konnte ich auch nicht so sehr von Filmen beeinflusst werden. Ich bin nur Großmutter genannt worden, weil ich zuerst da war.
Ich bin keine Nein-Person. Ich bin eher mittel-rebellisch.
Und es ist erstaunlich, wie viele von ihnen immer noch arbeiten.
Varda: Ja. Neulich wurde ich von einer amerikanischen Zeitschrift gefragt: Was für ein Brot esst ihr da, in Frankreich? Ihr lebt so lang und filmt immer noch. (lacht) Resnais ist 86 und hat gerade einen neuen Film gemacht, Rivette ist 81 und filmt ständig. Truffaut und Demy sind gestorben, aber wir anderen sind noch da. Mann muss uns wohl erst umbringen, damit wir aufhören. (lacht)
Spielt der Gedanke an das Ende für Sie eine große Rolle?
Varda: An das Ende meines Lebens denke ich, manchmal. Und es könnte gut sein, dass „Die Strände von Agnès“ mein letzter langer Film war. Es wird mir einfach langsam zu anstrengend. Es war so schwierig, diesen Film zu beenden. Die Möglichkeiten der neuen Techniken sind mir einfach zu viel. Man muss auch so viel beachten, wenn man die Filme fürs Fernsehen oder die DVD neu bearbeitet. Früher brauchte es zehn Arbeitsschritte, um einen Film fertig zu stellen. Jetzt sind es gefühlte 48. Ich arbeite im Moment vor allem an Installationen und mache kurze Filme. Gerade gestern habe ich einen Sieben-Minuten-Film fertig gestellt, den ich sehr liebe. Er wird auf der Biennale in Lyon in einem Zelt gezeigt werden.
Warum gibt es eigentlich in Deutschland noch keinen Ihrer Filme auf DVD?
Varda: Zumindest „Die Strände von Agnès“ wird wohl auch hier erscheinen. Denn als ich die französische DVD vorbereitete und sie auch mit deutschen Untertiteln versehen wollte, meinte der Verleih: Oh nein, machen sie das nicht. Sie zerstören unseren Markt! Meine älteren Filme gibt es in Frankreich und in den USA auf DVD, mit englischen Untertiteln. Warum sie nicht in Deutschland erschienen sind – keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass wir zu teuer sind.
Sie waren mit dem 1990 verstorbenen Regisseur Jacques Demy verheiratet, der ganz andere Filme gemacht hat als Sie. Opulente Musicals zum Beispiel. Wie wirkten sich Ihre unterschiedlichen künstlerischen Visionen auf Ihr gemeinsames Leben aus?
Varda: In der Tat inspiriert mich die Realität, und Jacques faszinierten vor allem seine Tagträume. Aber ich liebe seine Filme. Einige von ihnen, zum Beispiel „Les Mademoiselles de Rochefort“, sind Meisterwerke. Sie sind in Deutschland allerdings kaum bekannt. Ich weiß nicht, warum. Er versuchte, die Menschen glücklich zu machen, obwohl er selber ein sehr melancholischer Mensch und sehr pessimistisch war, was die Gesellschaft betraf. Es war wunderschön, dieser anderen Welt so nahe zu sein, aber wir brachten unsere Welten nie durcheinander. Wir hatten ein gemeinsames Leben, gemeinsames Essen, ein gemeinsames Bett, gemeinsame Kinder, aber das künstlerische Arbeiten, das Erfinden ist die Sache jedes einzelnen. Das kann man nicht wirklich teilen.
Eine letzte Frage: wie schon in Ihrem Film „Die Strände von Agnès“ tragen Sie gerade weißes Haar, das zur Hälfte fliederfarben ist. Was ist mit Ihren Haaren passiert?
Varda: Meine richtige Haarfarbe ist weiß. Aber mir fehlt der Mut, sie ganz weiß zu lassen. So ist auch mein Haar jetzt eine Mischung aus mehreren Zeiten – aus dem Rot, in dem es früher ganz gefärbt war, und der weißen Gegenwart.