Frau Anne-Sophie Mutter, kennen Sie den englischen Tenor Paul Potts?
Anne-Sophie Mutter: Sie meinen den mit der Zahnlücke?
Genau. Potts ist ja in sehr kurzer zum weltbekannten Klassik-Star avanciert, hat quasi über Nacht eine riesige Fangemeinde…
Mutter: Ja, ich habe ihn neulich im Fernsehen gesehen. Ein toller Werbespot.
Nun werden auch Sie sehr oft als Klassik-Star bezeichnet – allerdings schon seit 30 Jahren. Hatten Sie am Anfang mit so einer langen Karriere gerechnet?
Mutter: Also, ich finde das Wort „Karriere“ passt im Zusammenhang mit Kunst so gar nicht.
Warum nicht?
Mutter: Weil ein Künstlertum nicht planbar ist, weil große Kunst eben nicht aus monetären Gründen angestrebt wird, sondern aus Idealismus. Karriere passt einfach nicht zu einem Künstlerleben, nicht zu meinem Begriff eines Künstlerlebens.
Aber als Sie mit 13 Ihr Solo-Debüt gaben, hatten Sie da nicht den Gedanken: Jetzt mache ich Karriere?
Mutter: Nein, überhaupt nicht. Ich wollte schon mit sechs Solist werden. Musik hat mich immer fasziniert, das Mysterium Partitur, die Klanggestaltung auf einem Streichinstrument, Emotionen umzusetzen in Klangbilder…
Und dass Sie das Zeug zu einer Solistin hatten, wann haben Sie das gemerkt?
Mutter: Ich wollte das einfach. Und mit sechs denkt man: „Was man will, das schafft man.“ In gewisser Weise stimmt es ja auch: Was man will, ist tatsächlich erreichbar. Naja, meistens. Wenn man Glück hat.
Wenn man wie Sie so viele Jahre an der musikalischen Weltspitze arbeitet, was braucht man dazu – außer Glück?
Mutter: Leidenschaft. Um bei einer Sache zu bleiben, sich immer wieder an einem Werk zu messen, an der eigenen Arbeit und dem, was man daraus machen kann – das geht eigentlich nur durch und mit tiefer Leidenschaft. Man gibt sich einer Sache völlig hin.
Erfordert es auch ein Stückweit Selbstausbeutung?
Mutter: Nein, es ist Hingabe. Sich einer Sache zu verschreiben. Wobei ich mich nicht nur auf das Musizieren konzentriere, sondern für mich ist es genauso interessant, mit Musik Dinge zu verändern. Eins meiner großen Anliegen sind Benefiz-Projekte, weil ich dann aus meiner Eierschale heraus komme, wo es dann nicht darum geht, noch schneller, schöner oder näher an der Wahrheit der Interpretation eines Werks zu spielen, sondern wo ich etwas wirklich Sinnvolles in der Gesellschaft bewirken kann. Wo ich Kindern helfe, alten Menschen oder Behinderten, denjenigen, die irgendwo im Schatten unserer Gesellschaft leben.
Braucht man für die Beständigkeit also auch bestimmte Dinge außerhalb der rein musikalischen Beschäftigung?
Mutter: Ich würde sagen, um in diesem Beruf beständig zu sein, braucht man nicht nur physische sondern auch mentale Kraft. Und die ist wahrscheinlich auch genetisch verankert. Ich kann nicht alle großen Momente meines Lebens auf meine Kappe nehmen und behaupten, ich hätte das alles voraus geplant. Auch ich bin in meinem Leben kreativen Schwankungen unterworfen, das gehört dazu. Um so schöner ist es dann, wenn man gerade wieder mal in Höchstform ist.
Wie wichtig ist Ausstrahlung, Charisma?
Mutter: Charisma schadet nicht. Ich erinnere mich da an Karajan, wenn er einen Raum betrat, das war einfach irre. Selbst wenn er Taxifahrer gewesen wäre, das Charisma spritzte bei ihm aus jeder Pore heraus.
Kann man Ausstrahlung lernen?
Mutter: Das weiß ich nicht. Man braucht sicher als Interpret ein großes Mitteilungsbedürfnis, nicht seiner selbst, sondern eine Fähigkeit, den musikalischen Inhalt zu transportieren. Aber da kommen wir dann glaube ich wieder zur Leidenschaft zurück. Wenn ich leidenschaftlich an ein Werk glaube, mich darin verliere, dann bleibt bei den Zuhörern eine Menge an Emotionen hängen, auch wenn sie vielleicht das Werk intellektuell nicht wirklich begreifen.
Wie wichtig ist Schönheit in Ihrem Beruf?
Mutter: Was meinen Sie, Schönheit des Klangs?
Des Musikers.
Mutter: Ach, Schönheit ist ja immer ein sehr subjektiver Begriff, manche lieben zierliche Menschen, andere lieben große, viel Busen, wenig Busen – keine Ahnung. Äußerliches sollte in der Kunst keine Rolle spielen.
Wie wichtig ist es, eine Dicke Haut zu haben?
Mutter: Dicke Haut ist nicht gut bei einem Künstler. Höchstens vorne, hier (zeigt auf ihre Hand) an den Fingerkuppen, damit man sich nicht an den Stahlseiten das Fleisch…
Ich meinte das mehr als Metapher.
Mutter: Ich habe Sie schon verstanden… Aber nein, ich glaube wirklich, dass eine dicke Haut nicht gut ist. Man sollte sich selber nicht permanent so wahnsinnig ernst nehmen. Und man sollte sich weder die extrem positiven noch die extrem negativen Kommentare verinnerlichen. Schließlich ist jeder Künstler sich selbst der schärfste Kritiker.
André Previn hat einmal gesagt, Sie wären mit dem eigenen Spiel nie hundertprozentig zufrieden.
Mutter: Ja, das stimmt (lacht). Er ist aber auch nie zufrieden, insofern… Darin liegt ja auch immer eine Hoffnung.
Die Hoffnung auf den perfekten Auftritt?
Mutter: Ich sehe das immer von zwei Seiten: Zum einen ist da die Tatsache, dass man nie ankommt, zum anderen gibt es aber Momente, in denen man seinem Traum ganz nahe ist.. Und dann gibt es Gott sei Dank auch in jedem Konzert mit einem Orchester oder in einer kleineren Kammermusik-Formation, Dialoge, die sich ganz spontan entwickeln.
Die Tatsache, dass ich nie ganz zufrieden bin, immer noch neue Träume habe im Leben, birgt für mich die Hoffnung, dass ich diesen Träumen immer wieder nachjagen kann.
Unzufriedenheit als stetiger Ansporn?
Mutter: Ja, für mich ist das eine ständige Inspiration für weitere Nachfragen, für eine Veränderung meiner Interpretation, zum Beispiel für den Versuch, Bach mit dem Barockbogen zu interpretieren, sich 18 Musiker zu nehmen, wie zu Bachs Zeit in Köthen, als er bei Leopold von Anhalt angestellt war und diese 18 fabelhaften Musiker hatte, mit denen er seine Werke aufgeführt hat.
Je älter ich werde, um so klarer wird mir jedenfalls, dass es eben nicht die eine Formel gibt. Es gibt kein Rezept für ein Werk. Genauso wie ich mich verändere, verändert sich meine Einstellung zum Werk. Und das ist auch richtig so, sonst wäre das eine tote Veranstaltung, ein Gipsabdruck von immer derselben Sache, eine Lithographie mit 100.000er Auflage, wo Sie am Schluss gar nichts mehr auf dem Papier sehen.
Aber der Traum ist doch schon, eines Abends zu 100 Prozent mit einem Konzert zufrieden zu sein, oder?
Mutter: (überlegt) Naja, es wäre natürlich toll, so ein göttlicher Moment und dann tritt man ab in Glanz und Gloria – aber das ist absoluter Kinderkram. Natürlich wird das nie stattfinden.
Wie wichtig ist Kontrolle für einen Künstler wie Sie?
Mutter: Kontrolle worüber?
Zum Beispiel über die Cover-Gestaltung. Soweit ich weiß, haben Sie da sehr ein Auge drauf…
Mutter: Ich habe für meine letzten CDs die Fotografen ausgesucht. Jetzt ist das die Anja Frers, deren Arbeit ich sehr gerne habe. Und ich will mich auch irgendwo verstanden fühlen, nicht nur das Gesicht hinhalten und dann stellt jemand irgendetwas damit an. Natürlich sehe ich auf dem Cover viel besser aus als in Wirklichkeit, so ist es nun mal. Aber abgesehen vom Aussuchen des Fotografen, nehme ich wenig Einfluss. Da macht die Plattenfirma ihre Arbeit und die finde ich sehr gelungen.
Welche Dinge muss man als Künstler aber unbedingt kontrollieren?
Mutter: Im Vordergrund steht natürlich die Programmgestaltung und die Kontrolle darüber, wann ich wo, was mit wem idealerweise aufführe, soweit das planbar ist. Weil Uraufführungen oft überraschend spät oder überraschend früh fertig sind, und man dann wieder alles über den Haufen schmeißt, teilweise auch Tourneen cancelt, um eben diesen neuen Werken genügend Raum zu schaffen.
Versucht man die eigene Medienpräsenz zu kontrollieren?
Mutter: Wenn ich Interesse hätte, in Society-Lokale zu gehen und in der „Frau hinterm Spiegel“ zu stehen, dann würde ich das wahrscheinlich auch schaffen. Aber offensichtlich ist mein Interesse daran sehr gering.
Vor diesem Interview musste ich eine „Verpflichtungserklärung“ unterschreiben. Aus welchem Grund? Haben Sie so schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht?
Mutter: Schlechte Erfahrungen nicht unbedingt, aber doch die Erfahrung, dass Dinge manchmal nicht verstanden werden, besonders wenn sie musikspezifisch sind. Da werden Inhalte manchmal falsch wiedergegeben, aus dem Kontext herausgerissen, und so wird im Laufe des Lebens – ich bin jetzt 45 –dieser Rattenschwanz, den man hinter sich herzieht, immer größer. Beim Interview muss man deswegen immer mehr Punkte klären, bevor man zu den eigentlichen Inhalten kommt. Und da meine Akte inzwischen einen gewissen Umfang hat, ist es einfach für beide Seiten angenehm zu wissen, dass etwaige Missverständnisse nicht schon wieder irgendwo gedruckt werden.
Kommen wir zur Musik, genauer gesagt, zur zeitgenössischen Musik. Sie haben angefangen, Werke von lebenden Komponisten aufzuführen als Sie 23 waren…
Mutter: Ja, das war Lutosławski 1986, am 31. Januar.
Es heißt, er sei eine Schlüsselfigur für Sie gewesen.
Mutter: Ja, das stimmt. Ich kannte seine Musik bis dahin nur rudimentär und als ich Ende 1985 eingeladen wurde, sein Werk „Chain 2“ uraufzuführen, war das erst mal ein großer Schock für mich. Weil ich mir das nicht zugetraut habe. Meine musikalische Ausbildung, mein Repertoire, das hörte ja in den 1930er Jahren auf, mit Strawinsky, Berg und Bartok.
Aber Lutoslawskis fahle Farben, dieses Non-Vibrato… Das waren am Anfang wirklich nur zwei Takte im zweiten Satz von „Chain 2“, die mich einfach umgehauen haben. Und von da an war mein Sportsgeist geweckt. Ich hatte jetzt endlich einen Gesprächspartner und die Möglichkeit, ein Werk zu hören, wie es zum aller ersten Mal erklingt. Dieser Moment, wenn Sie auf die Bühne gehen und sich dieses Schwarz-Weiß-Puzzle, was man sich im Kopf zurechtgezimmert hat, zusammensetzt und plötzlich das farbige Bild entsteht – das ist ein unbeschreibliches Erlebnis. Die Nähe zum Werk ist sehr eng, weil man in einer Hebammen-Funktion der Erste ist, der es anrühren darf. Das ist schon ein unglaubliches Gefühl. Und mich hat es süchtig gemacht.
War diese erste Begegnung mit zeitgenössischer Musik für Sie eine Art Erwachsenwerden? Ist man als Interpret erwachsener, wenn man auch die Musik der lebenden und nicht nur die, der viel gehörten toten Komponisten spielt?
Mutter: Erwachsener? Also, es gibt ja viele Musiker, die den Zugang zur zeitgenössischen Musik nicht suchen und aber bestimmt ein erfülltes Leben haben, mit Bach, Beethoven usw. Ich selbst habe diesen Zugang ja auch nicht gesucht bis Paul Sacher kam.
Ein Künstlertum ist nicht planbar, weil große Kunst nicht aus monetären Gründen angestrebt wird, sondern aus Idealismus.
Aber irgendwann haben Ihnen Bach, Tschaikowsky und Beethoven nicht mehr gereicht.
Mutter: Ich wurde ins kalte Wasser geschmissen. Und dafür bin ich ewig dankbar. Zeitgenössische Musik ist für mich heute eine riesige Inspirationsquelle, weil sie mich intellektuell erfrischt, weil sie mich jedes Mal an die Grenzen meiner Fähigkeiten bringt. Manchmal existieren Ausdrucksmittel in einem, deren man sich nicht bewusst ist. Sie müssen nur abgefragt werden. Das war glaube ich auch das Schlüsselmoment bei Lutosławski, ich merkte, dass im Instrument Geige viel mehr steckt als ich bis dato wusste. In dem man herausgefordert wird, wächst man natürlich auch. Oder man verändert sich. Und ich liebe Veränderung, ich liebe Wandel. Nichts hat Bestand, wie wir alle wissen. Materie ändert sich ständig, und so ist durch die permanente Suche nach neuer Aufregung die zeitgenössische Musik zu einem ganz wichtigen Inspirator für mich geworden.
Lutoslawski hat es tatsächlich mal so formuliert, er würde versuchen, die in den Künstlern schlummernde Energie zu wecken. Hat das Sofia Gubaidulina mit ihrem für Sie komponierten Violinkonzert auch geschafft, eine schlummernde Energie in Ihnen zu wecken?
Mutter: Ich würde nicht sagen, dass „in tempus praesens“ irgendwas Schlummerndes weckt, sondern es ist überhaupt eine Apokalypse. Es geht um die Extreme, die Gegenüberstellung von dunkel und hell. Einer der Höhepunkte ist die Geißelungs-Szene der Sophien-Figur, wir beide tragen diesen Vornamen – gefolgt von einer im flehentlichen Duktus beginnenden Kadenz. – am Ende obsiegt die Geige auf dem hohen F. Gubaidulina ist eine Musikerin, die die Extreme besonders scharf empfindet. Das sieht man beispielsweise an der Gegenüberstellung von Moll und Dur, am Ende des Werkes, wenn der riesige Gong, die Wagner-Tuben und die Kontrabässe noch mal die Erde aufbrechen und die Geige auf dem hohen F noch so einen kleinen Hoffnungsstern setzt.
Die Komponistin hat sich bei dem Werk sicherlich eine Menge gedacht. Aber was kommt davon dann eigentlich bei den Hörern an?
Mutter: Ich weiß nicht, wie der Zuhörer empfindet. Ich weiß auch nicht, ob Frau Gubaidulina das Werk so empfindet wie ich, oder wie der Dirigent. Jeder von uns empfindet anders. Bemerkenswert war die Uraufführung in Luzern, jeder im Saal war ergriffen. Das ist eine große Qualität von Gubaidulinas Musik. Sie pflegt einen so hohen intellektuellen Anspruch – wenn man sich diese Arbeitsvorgänge und Zahlenreihen anschaut, diese komplizierte Struktur, der sie ihre Klangwelt unterwirft. Ihre Musik ist verkopft, aber ohne dass dieser Kopf je im Vordergrund steht. Sie schafft es, den Hörer unmittelbar zu berauschen, so dass man nicht über die Struktur staunt, sondern einfach nur das Gefühl hat: It hits you right between the eyes.
Solche Beispiele sind in der zeitgenössischen Musik aber relativ rar gesät, oder?
Mutter: Ja, Gubaidulina ist eine der Ausnahmen.
Und es besteht das Problem, dass die Leute bei vielen modernen Komponisten eben nichts mehr spüren und deshalb keine Konzerte mit zeitgenössischer Musik besuchen.
Mutter: Jipp.
Warum gibt es dieses Problem? Bei Pop-Musik zum Beispiel taucht das ja überhaupt nicht auf.
Mutter: Es sind viele Faktoren, die da zum Tragen kommen. Ich glaube, ein nie gefördertes, nie geschultes Ohr, dass nicht zwischen großer Musik und Müll unterscheiden kann, solch ein Ohr ist wahrscheinlich bei jeder Form von meisterhaft komponierter Musik – ob das Jazz ist oder klassische Musik – verloren. Ohne eine wenigstens rudimentäre musikalische Bildung ist es einfach ein schmalerer Genuss.
Aber es gibt doch durchaus moderne Komponisten die diesen Genuss auch jenen Zuhörern verschaffen können, die über diese Bildung nicht verfügen. Ein Beispiel wäre Philip Glass.
Mutter: Ich bin kein uneingeschränkter Glass-Fan. Aber es ist sehr gut komponierte Musik, ohne Frage. Ich möchte auch dies Gelegenheit nicht ungenutzt lassen um darauf hinzuweisen: Was ich nicht kenne, höre ich nicht und was ich nicht kenne, sehe ich nicht. Die Vertiefung eines Inhalts hat der Rezeptionsfähigkeit eines Menschen noch nie geschadet. Natürlich kann man Gubaidulina lieben und geplättet sein von ihrer Musik, ohne dass man je eine einzelne Note gelesen hat. Aber genauso muss ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Wenn Sie ein bisschen was drüber wissen, dann ist das Erlebnis viel intensiver.
Ein anderes Beispiel: Die Berliner Philharmoniker haben im September 2008 mit viel Aufwand das Werk „Gruppen“ von Karlheinz Stockhausen aufgeführt. Der Komponist hat für die Komposition drei Jahre gebraucht – aber ich würde behaupten, dass 99 Prozent der Zuhörer nicht verstanden haben, was er mit dem Werk ausdrücken wollte.
Mutter: Es ist auch für Musiker nicht leicht, Stockhausen zu verstehen. Es ist für einen Interpreten in vielen Fällen auch unmöglich, komplexe Partituren so zu präsentieren, dass für den Zuhörer auf einmal alles völlig klar da liegt. Darum geht man ja auch immer wieder zurück und spielt ein Werk viele Male.
Musik erschließt sich, wie jede hoch entwickelte Kunstform, nicht ohne Weiteres. Aber es lohnt sich, sich damit zu beschäftigen. Ich persönlich liebe Gubaidulina, ich bewundere Stockhausen. Ich kann zwar nicht sagen, dass ich ihn verstehe, ich kann auch nicht behaupten, dass ich die komplexen Zusammenhänge in seinen Werken alle heraushöre. Ich meine, letzten Endes bleiben wir alle Konsumenten. Ich bin auch ein Konsument, genau wie Sie und natürlich sind wir weit unter dem Level des Schöpfenden. Man sollte sich dadurch aber nicht abschrecken lassen.
Was haben Sie selbst denn schon komponiert?
Mutter: Kompositionslehre gehörte natürlich zu meiner Ausbildung. Ein paar Kadenzen zu Mozart-Konzerten habe ich geschrieben, sonst aber nichts was … Nein, das ist geradezu peinlich, ich kann nicht komponieren.
Sie haben in einer US-Talkshow einmal erwähnt, es gäbe da „complexes, that I am not able to be a composer”. Wenn man das jetzt übersetzt: Haben Sie einen Komplex, dass Sie nicht komponieren können?
Mutter: „Komplex”, das würde die Sache etwas zu sehr in den Vordergrund rücken. Aber natürlich hängt die Tatsache, dass ich der zeitgenössischen Musik so einen zentralen Platz in meinem Leben gegeben habe, auch damit zusammen, dass ich dadurch dass Manko überwinden kann, nicht selbst gut zu komponieren: in dem ich der Geburtshelfer einer zeitgenössischen Partitur bin, manchmal auch Inspirator, und in dem ich so nah am Kompositionsprozess bin wie nur eben möglich als Nicht-Komponierender.
Warum ist das denn ein Manko?
Mutter: Nun ja, wer würde denn nicht gerne alles können? Ich fänd’ das schon cool! Wenn ich zum Beispiel André Previn sehe, er ist ein großartiger Komponist, fabelhafter Dirigent, spielt höllisch gut Klavier und kann auch noch Jazz improvisieren. Da kann ich nur sagen: That’s pretty cool.
Haben Sie es denn zwischendurch immer wieder versucht?
Mutter: Nein, ich habe es aufgegeben. Das ist auch ok. Ich beschäftige mich mit anderen Dingen.
Komponisten wie Krzysztof Penderecki, Wolfgang Rihm und Henri Dutilleux haben Ihnen Werke gewidmet. Was bedeutet so eine Widmung für den Widmungsträger?
Mutter: Vorausgesetzt, das Werk ist großartig, dann ist das natürlich wunderbar. Es gibt auch Werke, die mir gewidmet wurden und werden, mit denen ich nichts am Hut habe und die nicht immer zur Krone der musikalischen Schöpfung gehören. Auch in dem Fall ist es sehr lieb gemeint und natürlich auch ein Kompliment. Aber Widmungsträger eines Werkes von Henri Dutilleux oder Sofia Gubaidulina zu sein übertrifft alles! Es gibt nichts Schöneres für mich als Musiker.
Glauben Sie, Sie haben diese Werke durch Ihre Person beeinflusst?
Mutter: Nein. Ich denke da jetzt auch nicht tiefsinniger drüber nach, ob ich tatsächlich die Quelle aller Genialität im Werk bin. Es ist einfach ein wunderbares Geschenk, vor allen Dingen das Geschenk der Exklusivität an einem Werk. Das ist für mich eine ganz besondere Zeit.
Kommen wir zu einer anderen Form der Gegenwartsmusik: Crossover, sprich verpoppte Klassik. Haben Sie eine Meinung dazu?
Mutter: Nein, das interessiert mich nicht.
Ist alles gut, was gefällt?
Mutter: Nein! (lacht) Sind Sie wahnsinnig?
Verträgt Klassik also nicht jede Kombination mit modernen Mitteln?
Mutter: Natürlich können wir ein Kunstwerk wie Bach nicht zerstören. Doch ich denke, die Verjazzung von Bach ist beispielsweise etwas, was das Tänzerische und die Lebenslust dieser Musik besonders gut transportieren kann.
Ansonsten frage ich mich: Warum sollte man diese großen alten Meister in eine andere Form bringen, für die sie nicht geschaffen wurden? Klassische Musik ist so großartig, so vielfältig, bietet so viele Möglichkeiten, den Zuhörer anzusprechen, ob über die Theaterform einer Oper, oder das Faszinosum eines Klaviers. Da ist es doch überflüssig, sie in eine schlichtere Form zu quetschen. Man würde doch ein Selbstportrait von Van Gogh auch nicht mit „Hello Kitty“-Ohren versehen, damit das Bild zugänglicher wird. So ein Schwachsinn!
Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen: „Wir können ein Kunstwerk wie Bach nicht zerstören“?
Mutter: Das heißt, dass diese Werke schon so vieles überdauert haben, viele Sichtweisen, verschiedene Orchestergrößen, Tempi, dynamischen Wahnsinn, verschiedene Bearbeitungen…
…und sie lassen sich auch durch den Pop-Filter nicht zerstören.
Mutter: Natürlich nicht. Selbst wenn wir derartigen Unfug betreiben, können wir die Größe eines Kunstwerkes nicht zerstören, weil es diesen Blödsinn überlebt.
Ich finde, es ist auch ein völlig falscher Ansatz, klassische Musik durch Crossover einer größeren Zuhörerschaft nahe bringen zu wollen. Man muss sie nicht übersetzen in eine modernere Sprache. Sie ist zeitlos. Es gibt nun mal Kunstwerke, die zeitlos sind. Dazu gehört die Wiener Klassik und dazu gehören auch Debussy und Ravel. Diese Musik in ihrem Originalzustand zu präsentieren heißt, immer wieder das zu repräsentieren, wofür sie steht, die Ästhetik. Sie umzusetzen in eine andere Klangwelt bedeutet in jedem Fall, sie einzuengen zu verkleinern und sie ihrer Identität zu berauben.
Mit Klassik werden heute viele Produkte verkauft, am meisten vermutlich Bier…
Mutter: Ich glaube Daniel Barenboim hat sich kürzlich darüber aufgeregt, dass eine Firma ihr Toilettenpapier mit einem Stück aus dem Mozart-Requiem beworben hat.
Stört Sie das?
Mutter: Natürlich stört es mich.
Was wäre in Ihrem Sinn?
Mutter: Es gibt doch fabelhafte Komponisten, die nicht nur sehr gute Filmmusik schreiben, sondern sicher auch in der Lage wären, die perfekte Musik für jedweden Werbespot zu liefern. Das wäre mir persönlich sehr viel lieber als wenn man Ausschnitte aus Meisterwerken einfach in den Alltag hinein wirft und sie dadurch verstümmelt.
Passiert diese Verstümmelung auch bei Formaten wie „Klassik-Radio“, wo Klassik in erster Linie als Entspannungsmusik angeboten wird?
Mutter: Ist das der Sender bei dem von einem Werk immer nur ein Satz läuft und meistens erfährt man gar nicht, was es war und wer gespielt hat? Ja, das nervt natürlich tierisch. Dass man dem Hörer nicht zutraut, ein ganzes Werk zu ertragen, verstehe ich nicht.. Und das nennt sich dann Klassikkanal. Dann auch immer diese beruhigende Stimme: (flüstert) „Es ist Samstag morgen und sie hören jetzt Klassik zum Frühstück“.
Hilary Hahn sagte uns im Interview, Klassik wäre für sie keine Entspannungsmusik, weil sie immer versucht ist, ganz genau hinzuhören. Ist das bei Ihnen auch so?
Mutter: Ja, ich könnte nicht einfach einen Satz einer Bruckner-Sinfonie auflegen und nebenher irgendwas tun. Dafür fesselt mich diese Musik zu sehr. Und wenn es Geigenrepertoire ist, ja, dann spiele ich innerlich immer mit. Und wenn’s ein Kollege ist, kritisiert man natürlich auch ständig innerlich. Also, zum Zurücklehnen ist das nicht geeignet.
Trotzdem die Frage, gibt es Klassik-CDs, die Sie zum Entspannen einlegen?
Mutter: Nein. Ich höre in meiner Freizeit sowieso wenig Klassik, sondern fast ausschließlich Jazz. Das ist meine große Leidenschaft. Und auch das ist keine Hintergrundmusik.
Wenn man die Aufführung von Jazz und Klassik vergleicht: Ist der interpretatorische Freiraum eines Jazz-Musikers, der einen Standard spielt, größer, als wenn Sie Bach, Mozart oder Gubaidulina spielen?
Mutter: Natürlich ist er größer, weil im Jazz improvisiert wird. Man kann im Jazz sehr viel freier mit der Kernsubstanz der musikalischen Idee umgehen und nach eigenem Gutdünken Abwandlungen erfinden. Natürlich wird auch geplant und wenn Jazzmusiker zusammen spielen, wissen die, auf welcher Tonart sie sich wiedertreffen.
Trotzdem ist man als Besucher einer Jam-Session immer wieder überrascht, wie dieses Zusammenfinden funktioniert.
Mutter: Ich glaube das war Count Basie, der mal gefragt wurde, woher er denn so genau wüsste, bei welchem Chorus er seine Big Band reinholt. Und er hat gesagt: “You know, when I Can feel, the real deep shit coming, I bring the orchestra in.” Das ist eine Instinkt-Frage. Und es muss ein tolles Gefühl sein, wenn man die Improvisation auf die Spitze treiben kann und im richtigen Moment den Höhepunkt setzt.
Was mich am Jazz über alle Maßen fasziniert ist der Umgang mit Tempo. Im Jazz rennt keiner davon und es schleppt keiner. Trotzdem wird sich zurück- oder nach vorne gelehnt, was der Musik die entsprechende Dynamik verleiht.
Das klingt fast so, als könnten klassische Musiker von Jazz-Musikern etwas lernen.
Mutter: Also, ich muss Ihnen gestehen, wenn ich in klassische Konzerte gehe, ist mir oft stinklangweilig. Weil es steht. Ich meine, nicht mal die Akropolis steht wirklich symmetrisch. Die Asymmetrie, die Agogik innerhalb eines Taktes, das ist doch das, was die große Kunst einer Interpretation ausmacht, neben Dynamik und Klangfarbe. Und da bewundere ich eben Jazz-Musiker enorm, in ihrem Umgang mit Zeit. Dass es immer im Fluss ist.
Bei einem Klassik-Konzert bewundere ich immer das Werk, aber die Interpretation langweilt mich manchmal zu Tode. Es ist einfach nix los da oben! Und natürlich verstehe ich es dann auch sehr gut, wenn manche junge Menschen sich damit nicht identifizieren können. Deshalb bedarf es auch immer wieder einer ganz jungen Generation Musiker, die richtig mit Power dahinterstehen, die auch Risiken eingehen als Interpret. Aber gerade heute sind wir in einem Zeitfenster gefangen, dass so wahnsinnig viel Wert auf Gleichförmigkeit legt, auch in Interpretationen. Das ist genau der falsche Schritt, wenn keine persönliche Aussage dahintersteht.
Sie meinen, es bräuchte wieder einen Glenn Gould?
Mutter: Genau, ja. Es gibt zu wenig eigenwillige Grübler auf der Bühne, zu wenig, die wie Gidon Kremer einen ganz anderen Weg gehen, eine Interpretation wirklich für sich selbst entdecken und nicht eine Kombination aus vergangenen Ausnahmen präsentieren. Viele Interpretationen von heute sind weder zu schnell, noch zu langsam, sind nicht zu laut – sie sind in gewisser Weise richtig, neutral, angenehm. Aber sie entsprechen nicht meiner Auffassung von Kunst. Deshalb berührt mich auch eine Sofia Gubaidulina so sehr. Musik muss aufregen, Kunst muss aufregen, sie muss uns zu Diskussion anregen, uns erregen. Und eine glatte Oberfläche – also, ich finde das nicht erregend.
Bei all Ihrer Faszination für den Jazz, warum findet sich in Ihrer umfangreichen Diskographie bislang kein Jazz-Projekt?
Mutter: Auch ich kann nicht alles können. Ich finde, ich bin da völlig unbegabt. André meinte zwar, er könnte mir das Improvisieren beibringen – aber nee, ich bewundere es als Zuhörer.
Wie gestaltet sich denn Ihr Verhältnis zum eigenen Schaffen, zu Ihrer Diskographie, Ihren Konzerten? Haben Sie ein besonderes Platten-Regal?
Mutter: So ein einen Schrein meinen Sie (lacht)? Nein, meine CDs sind in irgendeinem Schrank verstaut. Manchmal hole ich dann welche raus, um sie zu verschenken.
Und Plakate?
Mutter: Ja, da werden welche aufbewahrt in irgendeinem Keller – warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht, damit man die später als 80-Jähriger entrollt und in Tränen ausbricht. (lacht)
Hören Sie sich eigene Aufnahmen von früher an?
Mutter: Nein. Der Wunsch besteht nicht, weil ich mich ziemlich genau erinnere, wann ich wie gespielt habe und im Übrigen kein Mensch bin, der zurückblickt. Ich lebe mit meinen Erinnerungen wie jeder andere Mensch auch und schöne Erinnerungen sind etwas Großartiges. Ich bin aber immer auf dem Sprung nach vorne.
Die alten Aufnahmen sind mit sehr viel Herzblut entstanden, auch mit der Hoffnung, dass es etwas Bleibendes ist. Aber es ist mir fast unangenehm sie anzuhören. Manchmal lässt es sich halt nicht vermeiden.
Wenn Sie das Radio anmachen.
Mutter: Ja, das ist dann auch noch ganz lustig. Zu überlegen, wer könnte das sein, und dann merkt man „Oh Schreck“, man ist es selber. Richtig schlimm wird es allerdings, wenn man mit einem lieben Menschen im Auto sitzt und der will einem dann einen Gefallen tun und legt eine CD von mir auf.
Das ist Ihnen unangenehm?
Mutter: Ja, das muss vermieden werden. Da wird dann sehr schnell eine Pinkelpause eingelegt.
Frau Mutter, eine Schlussfrage: Wenn das Leben ein Comic ist, welche Figur wären Sie?
Mutter: Ich glaube, ich wäre Batman. Ich finde Batman einfach supersexy, die tollen Autos, der schwarze Umhang, er kann fliegen. Er ist nicht so ganz der ‚Good Guy’, aber auch nicht wirklich völlig verloren, eben ein Wesen mit Stärken und Schwächen – und er könnte geigen, wenn ich Batman wäre. Die ultimative Waffe wäre dann das hohe F.