Christoph Schlingensief

Die Vollhaftung geht ab.

Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief über Theater in Deutschland, Reality-Formate, den Liebeskongress Lovepangs, Provokation, Humor und die U-Bahn-Aktion U3000

Christoph Schlingensief

© Maika Gregori

Christoph, du machst immer viele Projekte und Aktionen – was liegt momentan bei dir an?
Schlingensief: Wir schneiden gerade den Opernfilm, den ich beim beim Liebeskongress Lovepangs auf der Bühne gedreht habe. Der läuft dann zuerst im neuen Hauptstadtsender von Alexander Kluge und Stefan Aust im Mai, zusammengeschnitten als Das Da Capo – Prinzip – Die Opernnacht. Schließlich werden wir einen Opernabend machen – wo Kluge dann hoffentlich keine Darmgrippe hat und mit auf der Bühne ist. Danach fahre ich nach Zürich und inszeniere den Hamlet, den ich auch noch selber spielen muss, was mir sehr schwer fällt, weil ich Text nicht behalten kann. Ich würde gern so eine Brille haben mit eingebauten Teleprompter – wenn’s jemanden gibt auf euren Seiten, der weiß wie das geht, dass ich den Text auf der Brille lesen kann und der andere denkt, ich gucke ihn an…

Das wünschen sich bestimmt viele Schauspieler.
Schlingensief: Ja, das wär eine Marktlücke. Könnte man richtig Geld mit machen. Wenn jemand das hört oder liest, und er kann so was bauen, dann soll er sich melden unter c.schlingensief@gmx.net.

Für einen Motorradhelm lässt sich das bestimmt machen.
Schlingensief: Falls was explodiert, dass der Kopf nicht so schwere Verletzungen kriegt. Sondern nur das Gesicht.

Und Hamlet wäre gleich neu interpretiert.
Schlingensief: Genau.

Theater in Deutschland – gibt es im Moment ein Haus, das dich reizt?
Schlingensief: Ich habe noch nie so viele Angebote gehabt wie seit der Wien-Aktion. Wenn ich wollte, könnte ich bis 2006 an allen möglichen Theatern durchinszenieren. Aber die Arbeit auf der Bühne reizt mich gar nicht mehr. Der Hamlet reizt mich, weil es in der Schweiz ist. Und weil ich mir zum ersten Mal ein klassisches Stück vornehme. Sonst habe ich an Theater nur noch Interesse als Intendant. So Häuser, die verhunzt werden, von Peymannnn zum Beispiel, oder wie Stromberg das Haus in Hamburg verhunzt – das könnte ich schon lange. Und es wäre bestimmt voller als bei Stromberg, und wesentlich interessanter als bei Peymannn. Der Gedanke einer Factory am Theater ist schon lange überfällig. Die deutschen Theater sind einfach nur Verwaltungsapparate, die sich mit Kunst schmücken. "Factory" im Sinne eines Theaters wo alle Abteilungen genutzt werden, wie eine Factory bei Andy Warhol, oder wie eine Drehwerkstatt bei Jack Smith. Das ist das Einzige was mich am Theater noch reizt. Sonst finde ich das Medium ausgelutscht und am Ende.

Tendierst du aus diesem Grund zu Reality-Formaten?
Schlingensief: Ja, genau. Am Theater hat jeder abends etwas anderes im Kopf. Aber die Schauspieler tun so, als hätten sie dasselbe im Kopf. Nämlich "dieses Stück" und "diese Figur". Das bezweifle ich. Das stimmt einfach nicht. Es gibt ein paar Schauspieler, die kommen auf die Bühne und ihnen ist das Stück völlig egal. Die sind als Person einfach toll. Und das hat einen Realbezug. Das haben wir auf der Bühne eigentlich immer probiert, Objekte von Außen mit einbringen, oder dass Zuschauer uns stören, oder uns anmachen, und wir mit denen arbeiten. Seit 1993 mache ich das, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich im Theater so lange bleibe und es nachhaltig zerstöre… Ich wollte immer Film machen. Aber am Theater langweilt mich diese Lügenmaschine, wo auch Gedanken nicht richtig greifbar werden, sondern nur in so einem abstrakten Rahmen: der Zuschauer sitzt davor, der Regisseur sitzt mittlerweile schon im Omnibus oder im Flieger und rast zum nächsten Gedanken… – das ist für mich keine Auseinandersetzung.

Kürzlich hast du an der Berliner Volksbühne den Liebeskongress Lovepangs initiiert, auf dem Liebeskranke ihr Herz bei engagierten Beratern erleichtern konnten – auch ein bisschen Theaterstück?
Schlingensief: Ganz wichtig ist erst mal, dass Lovepangs nicht mein Projekt ist, sondern das von Jeanette Müller und Carmen Brucic. Die haben sich das ausgedacht, aber mir hat das sofort eingeleuchtet – mich hat das sogar erinnert an die Chance 2000. An Parteien kann man sich ja auch kaum noch orientieren, das sind alles nur Windeier, wie Theater, da ist kein Gedanke mehr zu fühlen. Gott sei Dank kommt jetzt BSE und die Rinder- und So-und-so-Seuche, und die Maul- und Klauenoperation… Da sieht man auch mal, wie eine Politikerin wie die Künast so dicke Augenränder kriegt, weil sie Verwaltungsarbeit machen muss. Verwaltungsarbeit ist extrem schwierig, wenn man sie gut macht. Deshalb sehen die Beamten meist so gut aus, weil sie sich nicht wirklich in die Arbeit stürzen, und deshalb sehen Politiker extrem gut aus, weil sie nämlich überhaupt nichts mehr tun. Lovepangs hat ein tolles Element, was die beiden Mädchen da hervorgebracht haben, das heißt wir haben eine gemeinsame Plattform: Schmerz. Schmerz ist jedem klar. Lovepangs kümmert sich ja auch nicht nur um Liebeskranke, sondern um alle Arten von Verlust. Man verliert ein Bein, oder ein Auge, man verliert vielleicht seine eigene Identität, oder ein Aktienpaket. Das sind Verluste, die einem Schmerz zufügen. Zum Beispiel ich mit 40 – ich merke, die Bandscheiben gehen flöten. Da habe ich auch einen Verlust, das ist auch ein Schmerz. Und darum geht es, um diese gemeinsame Plattform. Schmerz ist immer vorhanden, wird aber in der Marktwirtschaft komplett ausgespart. Und genau da haben die beiden angesetzt! Und wie man gemerkt hat mit großem Erfolg und riesigem Interesse! Bei Lovepangs war es erstaunlich zu sehen, wie die Berater überrascht waren darüber, was man ihnen erzählt hat. Damit haben die gar nicht gerechnet. Ich habe einige Berater gesprochen nachher – die waren platt. Die dachten da kommt jemand der sagt "Ich hab Liebeskummer, was soll ich tun?" und dann laber ich den mal voll. War aber nicht – sondern die Berater wurden von den Besuchern vollgelabert. Das ist natürlich auch ein ideales Theaterstück. Der Zuschauer fängt an zu sprechen und der Schauspieler kommt gar nicht mehr zu Wort. Das nannte man früher Skandal.

Schauspieler kommen standardmäßig auf die Bühne. Das Publikum kommt gelegentlich auf die Bühne in deinen Theaterstücken. Du wendest dich jetzt den Reality-Formaten zu. Kann ich da eine Linie reininterpretieren, hin zu immer mehr Realität? Ist das ein Überziel, das du vom Anfang an verfolgt hast? Da spielen noch viele Stichwörter der Medien eine Rolle, die für dich reserviert sind: Provokation, Destruktion, Kunst…
Schlingensief: Als "Ziel" kann man es deshalb nicht endgültig formulieren, weil ich mich immer davor wehre, so ein Ziel anzustreben. Denn – was mache ich, wenn ich dieses Ziel erreicht habe? Das ist dann ein Dilemma… Wer genau weiß, er ist unverwundbar… – der ist eigentlich auch schon tot. Ich glaube, jeder der später mal geklont ist, und nachher unantastbar ist, wird nach einer Verletzung suchen. Man sieht’s ja an Boris Becker. Ein Mann, der eigentlich einen Punkt erreicht hatte, wo er unangreifbar war – er ist halt so unser Tennisking, kann auf jedes Cover drauf, kann jedes Aftershave, kann AOL, kann alles mögliche vertreiben, hat seine Villa – der hätte doch auch im stillen Kämmerlein ficken können. Oder hätte irgendwie seiner Frau sagen können "Du ich bin übrigens mal ganz kurz in Thailand, da gibt’s irgendwie so ein Match, da muss ich unbedingt mal hin" – nein, er muss es öffentlich machen, er muss es mit Presseerklärung machen. Er hat ja einen Orgasmus gehabt, als er da in dieser Live-Übertragung war. Er hat sich demontiert. Jetzt hat er sich eine Frau geholt, die plötzlich anfängt, sich die Brust zu vergrößern, und pleite ist er auch. Das ist eine Sucht: wenn jemand an den Punkt kommt "Ich hab ausgesorgt, jetzt ist es vorbei" – dann wirst du immer wieder Einschnitte feststellen, wo er versucht sich selber in Frage zu stellen. Das Reality-TV als solches reicht mir nicht. Weil – das hat Lovepangs auch gezeigt – wenn man nur Big Brother guckt, dann ist der Zuschauer immer hinter der Mattscheibe, ist immer weg. Wahres Reality-TV: das heißt, wirklich im Zug nach Eschede sitzen und dann gemeinsam gegen den Betonpfahl knallen. Und sehen was übrig bleibt. Ob der Zahn im Beton landet, oder ob man im Vorgarten den Kopf findet, oder wo ich dann lande. Und das dann als Gruppengefühl. Da kann man nachher die Leichen befragen, und die reden auch gerne untereinander noch über das Erlebnis. Das sind alles Reality-Formen, die sind vorhanden, werden aber nicht genutzt. Lovepangs hat es geschafft, auf den ersten Blick Reality-TV zu imitieren und nicht zu erfüllen! Wer sich normalerweise nur so mit hängender Zunge selbst darstellt, plötzlich – wie soll man sagen – also Bestandteil des anderen wird. Das ist nicht üblich bei Reality-TV, da muss immer jemand oben sitzen und organisieren. Hier wurde der Eine Bestandteil des Andern. Diese Richtung anzupeilen, als Ziel… da würde ich sagen: Ja.

Boris Becker macht Schlagzeilen, du aber auch. Stehst du gern in der Öffentlichkeit?
Schlingensief: Bei der Partei war leider ein Punkt erreicht, wo nur noch ich vorne stand. Und wenn ich gesagt habe "Wir gehen baden", haben auch alle geschrieben "Au fein, wir gehen baden, super super" – aber gekommen ist keiner. Ich hab dann da alleine gebadet, mit 200 Freunden. Das Phänomen gibt es zur Genüge. Wir wollen doch lieber im Sessel bleiben und einer soll’s mal machen. Zum Beispiel der "Spiegel" hat eine ganze Seite Interview so gekürzt, dass es so aussieht, als wäre ich der Erfinder von Lovepangs, nicht Carmen und Jeanette. Also man will, dass ich absorbiere: "Ach Schlingensief hat was erfunden? Schlingensief, das ist ja der von der Wien-Aktion, aah, der will wahrscheinlich hier politisch…, und der dreht dann durch, und dann kommt noch Farbe – na mit dem rede ich aber nicht…". Und so weiter. So wird das funktionalisiert. Wenn da Jeanette Müller und Carmen Brucic stehen würden: das ist ja eine Qualität, dass die nicht so bekannt sind! Dass die dann vielleicht dadurch bekannter werden kann ihr Glück sein, kann aber auch ihr Pech sein. – Ich habe im Moment für mich, also mit 40 und nachdem ich drei Mal "American Beauty" geguckt habe, folgenden Entschluss gefasst: ich werde nicht trainieren und nicht versuchen den Bauchspeck wegzukriegen und so, das werde ich nicht machen.

Könnte aber gut für die Bandscheiben sein.
Schlingensief: Ja, aber das darf ich gar nicht. Ist richtig verboten. Und der zweite Entschluss ist… – also es gibt viele Werbeagenturen, oder jetzt vom Roten Kreuz bis was weiß ich was, die gerne mal würden. Dass ich jetzt mal komme, und ihnen irgendwie so einen Task Force Einsatz mache. Der Intendant Stromberg in Hamburg zum Beispiel – weil es ihm vielleicht grade nicht gut geht, möchte er, dass man das thematisiert, und dass man dadurch eine Art Katharsis erzeugt, und ihn dadurch wieder auf die Bühne holt, indem man das ganze Schauspielhaus zum Thema macht, indem man das in der Stadt zum Thema macht, und dann auch vielleicht dadurch irgendeine Reinigung, irgendeine Veränderung stattfindet. Aber ich bin ja nicht deren Arzt. Dann sage ich: sollen sie mir eine halbe Million zahlen – also die Hälfte von seinem Intendantengehalt – und dann mache ich ihm gerne mal so die Beratungstheke auf. Mein dritter Entschluss: einfach mal überlegen, wie ist das eigentlich, wenn ich wieder hinter die Kamera trete, a) wieder Filme mache, und b) aber auch wieder Fernsehen mache, oder eben Aktionen von anderen mit unterstütze.

Du gehst zu Viva – eine geeignete Plattform für das was du vorhast, besser geeignet als MTV?
Schlingensief: Dieter Gorny kommt aus Dortmund, ich komme aus Oberhausen. Das passt schon mal perfekt. Gorny ist, glaube ich, nicht ganz sauber, ich auch nicht. Passt auch. Dann ist Viva in Köln und hat eine Selbstverwaltung. MTV ist einfach eine riesige fremdgeführte Veranstaltung. Die sind nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Die freuen sich, wenn man sagt: "Wir machen was zusammen." Die sind total lieb, die wollen auch für einen kochen. Wenn aber dann irgendeiner in London plötzlich sagt, wir brauchen jetzt so einen Retro-Techno-Internet-Scheiß – wo es fünf Minuten dauert bis ich die Komplettseite von denen mal angucken kann, weil ich noch kein ADSL habe – dann kannst du jede Diskussion sofort in der Tüte rauchen. Sie werden mit dir nicht reden. Sie können auch nicht mit dir reden.

Zitiert

Am Theater langweilt mich diese Lügenmaschine: der Zuschauer sitzt davor und der Regisseur mittlerweile schon im Omnibus oder im Flieger und rast zum nächsten Gedanken.

Christoph Schlingensief

Wusste MTV bei U3000, wohin die U-Bahn fährt?
Schlingensief: Nö. Die waren einfach nur glücklich, dass das jetzt stattfindet. Die haben natürlich alle gedacht, das wird Talk 2000 die zweite. Ich habe aber keine Lust gehabt, Talk 2000 noch mal zu machen. Das war so einmalig, und saß zu einer Zeit im Fernsehen, als alle noch ganz andere Talkshows gemacht haben. Die haben nicht gewusst worum es geht. Das hat die auch nicht interessiert. Mit Christiane zu Salm konnte man wenigstens noch reden, aber nach ihrem Ausstieg bei MTV war kein Gesprächspartner mehr vorhanden.

Deine Projekte sind immer politisch. Aber ich kann auch drüber lachen, weil schwarzer Humor darin vorkommt. Ich kenne aber Leute, die sagen: "Ja, was Schlingensief macht ist immer schön krass, aber der Humor… damit kann ich nichts anfangen". Wie siehst du dich selbst? Politisch ist klar – aber: Schlingensief und Humor, was ist das?
Schlingensief: Es gibt manchmal so Parallelen: "Der Schmidt, und der Raab, und der Schlingensief" und so weiter. Oder es gab ganz viele E-Mails, in denen stand: "Was soll der Scheiß, da ist Raab aber lustiger". Der Unterschied ist: der Humor von Herrn Raab und Herrn Schmidt hört immer da auf, wo die Person wirklich gefährdet ist. Also da wo die Person nachher nicht mehr gut aus dem Witz rauskommt. "Ich mach gerne einen Witz über Polen" sagt dann Schmidt, aber wenn ein Pole ankäme und sagen würde "Man hat mir gestern auf die Nase gehauen wegen ihrem Witz" – dann würde Schmidt ganz schnell weg sein. Der stände dann vielleicht hinter den Kulissen noch zur Verfügung, aber eine öffentliche Beschädigung ist nicht vorgesehen. Es gibt immer mehr Sendungen die sich als Talkshow ausgeben, aber eigentlich nur Ironie wollen. Nette Frager/innen, nett anzuschauen, wahnsinnig charmant und gut mit Kärtchen vorbereitet. Das nennt man zwar "ehrliche Befragungstechnik" – ist aber in Wirklichkeit nur unfreiwillige Komik. Denn den Politikern die da hingehen, denen traue ich doch sowieso von vorne bis hinten nicht. Boris Groyz hat einen schönen Text geschrieben zum Verdacht – wenn etwas einen Verdacht hat, dann ist es noch qualitativ okay. Es kann auch ein Selbstverdacht vorliegen, dass man sagt "Das ist aber jetzt verdächtig, wenn ich da lache". Und ich glaube, der Verdachtsmoment ist bei mir des Öfteren aufgehoben. Das ist dann nicht mehr verdächtig unter dem Motto "Das ist doch jetzt aber nicht lustig – oder ist es lustig?" Sondern es ist eine Indifferenz, die da durchkommt. Und ich habe nichts dagegen, eine Selbstbeschädigung zuzulassen. Das unterscheidet mich ganz krass von Stefan Raab zum Beispiel.

So ein Moment wie in U3000, wenn du nach der Sendung ans Ende des U-Bahn Wagens läufst, und gefilmt wirst während du weinst, ist das abgesprochen?
Schlingensief: Nein, das ist nicht abgesprochen. Oder dass ich da meinen Schwanz rausgeholt habe, das habe ich nachher auch bereut. Weil ich natürlich im Kontext eines morphologischen Gebildes lebe, nämlich im Kreise meiner Familie. Meine Eltern haben in Oberhausen Höllenqualen ausgehalten wegen dieser Nummern, und wurden beschimpft. Ich würde unheimlich gern Theater mit Tourett-Kranken machen, die einen inneren Drang verspüren, den sie nicht so leicht kontrollieren können und deshalb Dinge tun, die man eigentlich nicht tut: schreien, zucken, plötzliche Überreaktionen. Ein ausgesprochen kompliziertes Dasein, da unsere Gesellschaft zu 90% bereits entschlafen ist. Da will dann einer seiner Erklärung abgeben, oder will da seinen schönen Text jetzt mal so goutieren lassen, und dann ist da jemand, der hält diese Spannung nicht aus, der muss dann schreien, oder der muss dann schlagen, oder der muss dann was machen… Diese Momente…, die sind für mich entscheidend. Wenn ich im Fernsehen agiere, dann muss ich angreifbar sein, dann muss ich mich zur Verfügung stellen, dann darf ich nicht den Kasten dazu benutzen um mich, wie Herr Erich Böhme, mit Jörg Haider zu treffen, und dann die Brille schaukeln lassen und immer nur rufen "Sind sie Neonazi? Ja? Sind sie Populist, Herr Haider? Sind sie Neonazi?" Da komme ich nicht rein in den Fernseher. Da müssen Leute ins Publikum die dann Böhme fesseln und ihm helfen! Fernsehen wird einfach nicht genutzt. Noch größer, noch toller, noch mehr Frauen im Girlscamp und so weiter – das sind alles Sachen, die mich überhaupt nicht mehr interessieren. Aber das Nachspielen vom Girlscamp wäre toll, und dann muss es Nazicamp heißen, und dann muss man mit diesem Container in die befreiten Zonen und da leben dann zehn Naziskins drin und die treffen eben jede Woche einen Schwarzen, oder einen Inder. Und müssen mit dem da zusammenleben. Da kann auch noch ein Journalist dabei sein, der immer aufschreibt was passiert. Das wäre so real, dass es einem wirklich klar würde, dass es noch Dinge gibt, die wirklich authentisch sind, nämlich unsere Gedanken, unsere Angst, unsere Zweifel und unseren Verdacht! Da wollte jeder reingucken was die Skins jetzt mit dem Schwarzen machen. Da hättest du auch Kolosseum, und da hättest du auch eine Gefahr, und da könntest du auch drüber diskutieren, aber nicht über Girlscamp oder über Big Brother. Man muss auch das Unmögliche wagen. Ich hab ein Großprojekt in São Paulo vor, da soll einer mit seinem Motorrad einen Stunt machen, nämlich über die Favelas, die Armensiedlung, springen. Da wird eine riesen Schanze gebaut und der springt dann irgendwann da drüber. Natürlich möchte kein Favelas-Bewohner, dass da einer mit einem Motorrad drüberspringt, und die ganzen Sozialwissenschaftler und Feministinnen sehen darin eine unglaublich dekadente Veranstaltung. Weil sie die Armut nicht zur Geltung bringt, sondern darüber hinwegspringt. Das ist aber genau der Inhalt des Projekts! Das interessiert mich mehr als zu sagen: "Ich habe um acht Uhr die Tagesschau moderiert. Hab immer erzählt, was alles passiert ist in der Welt. War ich zwar nicht dort, aber ich hab das ja hier stehen… Hier steht das ja, hier." – das halte ich kaum aus. Deshalb sind wir damals auch in den Kosovo gefahren, weil jeder das Recht hat auf eigene Bilder. Stell dir vor, ganz Deutschland wäre nach Skopje gefahren, hätte gebucht, hätte dort Autos gemietet, oder das hätte ganz Europa gemacht – da wäre der Krieg aber überhaupt nicht mehr vor- oder zurückgegangen. Alle hätten da ihre Fotos gemacht, wir wären da rumgerannt… 600, 800 Millionen Menschen, die an der Kriegsschneise stehen um Fotos zu machen, um selber mal Belegmaterial zu sammeln. Dann hätte Herr Scharping so alleine im Bundestag gestanden mit seinen unscharfen Fotokopien und hätte geschrieen: "Die fressen Gras, wir müssen bombardieren." Das hätte alles nicht mehr funktioniert. Nein das klappt eben nicht. Wir gucken immer das einer sich bewegt. Wenn er sich zu viel bewegt, werden wir sauer, wenn er sich ein bisschen bewegt, ist es unser Freund, wenn er sich gar nicht bewegt, dann wählen wir ihn.

Die Leute sind dir zu wenig risikobereit.
Schlingensief: Ja klar. Die Vollhaftung geht ab. Die Vollhaftung fehlt. Viele baggern das Geld rein in die Tüte bis zum Gehtnichtmehr, was ist da noch für eine Haftung? Da ist doch gar keine mehr.

Hast du Aktien?
Schlingensief: Nein. Ich hatte fünf Stück, die hat mein Vater mir zum 18. Geburtstag geschenkt, Thyssen, Mannesmann und so was. Die habe ich vor zweieinhalb Jahren, als meine Partei hochruiniert war, verkauft, und habe 5000 Mark dafür bekommen.

Du wetterst in letzter Zeit gegen Aktien und gegen die Börse. Wie Menschen den DAX anstarren und mitfiebern. Aber eignen sich nicht eher die Banken für Kritik am System?
Schlingensief: Die Banken sind ja, so wie Globalismus aussieht, gesichtslos. Wer ist denn da der Chef? Da weiß kein Mensch, wer der Chef ist. Von Herrn Schremp und Herrn Sommer weiß man, und auch dass man an die nicht rankommt. Wo jetzt diese beiden Koryphäen auf der Abschussliste stehen, wird auch klar, dass es bald nicht mehr ein Gesicht gibt, dass etwas nicht hinbekommt. Man kann nicht mehr an Gesichter glauben. Die ganzen Gesichter kippen weg. Das heißt, der Globalismus siegt weiter, indem er sagt, wir machen gesichtslose Instanzen auf. Wenn ich den DAX angreife, dann greife ich ein Bild der Banken an. Die malen mit dem DAX. Und manchmal kann man vielleicht mit den Bildern, die ein anderer produziert, besser umgehen, als mit dem Chef selber.

Geht von der Börse eine Gefahr aus, für das Publikum, das an sie glaubt?
Schlingensief: Ich kenne Leute die haben ihre Familie extrem vor die Wand fahren lassen. Die hatten Nervenzusammenbrüche, weil sie was geordert hatten, und nicht mehr verkaufen konnten, weil sie nicht mehr mit AOL reinkamen. Da war dann der ganze Abend im Arsch. Bei mir sind’s auch so Sachen: hochdepressive Zustände werden am Laptop ausgelebt. Also meine Freundin ist in der Bude und ich sitze da sechs Stunden und mach irgendeinen Mist, lade irgendwas runter, und mach das hier hin, und guck mal auf jene Seite… Und man sitzt ja auch wie der Chef an so einem Ding. Also man redet dann so und schaut dann immer mal so ob eine E-Mail gekommen ist, und redet dann so weiter, klick klick. Das sind Gesten und Bewegungen – die können auch nicht lange bleiben. Also ich denke immer, das darf nicht wahr sein, dass das bleibt.

Klar, in wenigen Jahren hast du das alles in dieser Brille drin…
Schlingensief: Ja genau, das kommt dann auch noch. Ist ja nicht schlecht! Ich hab nix dagegen. Ich bin totaler Technikfreak. Ich mag unglaublich gerne kleine Laptops und kleine Nokia Kommunikatoren und kleine Jornadas und wie die alle heißen. Ich bereite einen Urlaub eher so vor, dass ich mich erkundige, was es für Provider gibt in dem Land, und welche Bandbreiten. Das ist ja auch krank. Früher habe ich mir Sonnenmilch gekauft. Oder ein Buch über den Urlaubsort, und hab dann vorgelesen, was da für eine Stimmung ist, und mich darauf gefreut. Heutzutage informiere ich mich darüber, ob dort E-Plus empfangbar ist, ob es einen Roamingpartner gibt.

Isst du noch Rindfleisch?
Schlingensief: Gestern Abend erst! Und zwar Neuland Fleisch. Ja, da war ich beim "Drogenhändler"… Das sind so Rinder, die haben Spezialtätowierungen und -marken, kommen von ökologisch kontrollierten Bauern… Ich esse Fleisch, damit die Tiere nicht mehr sterben müssen!

Und das ist auch konsequent, Rindfleisch zu essen. Wie ficken ohne Kondom in Zeiten von Aids.
Schlingensief: Naja – das würde ich nicht machen. Da würde ich dann auch mit der Haftung aufhören.

Wie stehst du heute noch zu deiner Aussage, Kunst sei ein Angriffsmittel?
Schlingensief: Das ist natürlich schwierig, weil Kunst auch von der Deutschen Bank beaufsichtigt ausgestellt wird, bei der Guggenheim Stiftung zum Beispiel. Damit man mal zeigt, dass man sich auch mit Kunst auseinandersetzt. Aber schon an den Einladungen merkt man, dass die ohne das Interesse eingeladen haben, den Leuten irgendwie Gedanken zu vermitteln. Kunst muss man nicht verschließen um sich zu schmücken. Kunst kann man benutzen! Bei Beuys zum Beispiel kommen Sätze vor wie: "Die Ursache liegt in der Zukunft". Ja, was ist das für ein Satz. "Die Ursache liegt in der Zukunft". Hört sich interessant an, ich kann ihn aber nicht genau erklären. Ich fange aber an, plötzlich an dem Gedanken irgendwie rumzuspinnen. Die Ursache liegt in der Zukunft. Und das ist so ein Element, wo ich sage, das soll Kunst sein! Ja! Das ist Kunst in Höchstform! Beuys konnte ja auch viel dazu erzählen, aber er hat die Leute nicht pädagogisch bedroht und behauptet, nur so ginge es. Er hat eine Freiheit beschrieben, dadurch dass er den Kopf in Gang gesetzt hat. Und dass ist das größte Glück, was passiert, dass da etwas passiert, dass da eine Kunst ist, die Leute in Bewegung setzt. Ohne dass sie gleich wissen, was das Ziel ist. Ich verehre Beuy und bin froh wenn ich bei der Arbeit das Ziel aus den Augen verliere. Das mag dann pubertär sein, aber pubertäre Eigenschaften mag ich sher. Darin steckt auch der Zweifel, und der Wille es zu ändern. Und, das ist noch nicht so leicht zu erklären: Es steht für viele Dinge, die möglich sind.

Das Leben ist ein Comic, welche Comic-Figur bist Du?
Schlingensief: Ein Comic? – Wer sagt das? Die Regierung? Wenn das Leben ein Comic ist, bin ich Bugs Bunny.

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