Herr Goosen, „Storys, wohin du guckst. Liegen auf der Straße. Musste nur aufheben.“, heißt es in Ihrem Roman „Sommerfest“ über das Ruhrgebiet. Worüber stolpert man denn in Ihrer Heimat?
Frank Goosen: Hier gibt es viele Geschichten zu erzählen, aber zu wenige tun es. Das hängt eng mit den Umwälzungen der letzten 170 Jahren zusammen. Vor 170 Jahren waren hier nur westfälische Bauern, dann fegte die Industrialisierung durch. Kohle und Stahl kamen und 100 Jahre später ging alles wieder den Bach runter. Dazu kommen die Einwanderungsströme. Berlin ist genauso arm wie das Ruhrgebiet, aber doppelt so sexy. Das kriegen wir hier irgendwie nicht hin. Die Gegend ist unterschätzt. Berlin funktioniert als Flucht- und Sehnsuchtsort. Das Ruhrgebiet bisher nicht.
Warum?
Goosen: Offensichtlich finden die jungen Kreativen, gerade die Autoren, woanders inspirierendere Umfelder, bessere Arbeitsbedingungen. Deswegen versuche ich mit meinen Mitteln, die vorrangig humoristisch sind, eine Lanze für das Ruhrgebiet zu brechen. Der große intellektuelle Wurf wird von mir nicht kommen, da müssen andere ran. Ich wünsche mir einen jungen, intelligenten Autor oder eine Autorin, die sich nach Bochum-Querenburg oder Essen setzt, sich alles ansieht, sich Gedanken darüber macht und einen großen Roman schreibt.
Von wem möchten Sie den großen Ruhrgebietsroman lesen?
Goosen: In meiner Generation gibt es kaum jemanden. Der einzige, der unter anderem auch Ruhrgebietsromane schreibt, ist der großartige Ralf Rothmann. Der lebt aber eben auch seit 1976 in Berlin.
Was lohnt sich im Pott anzusehen?
Goosen: Ich würde alle immer zu den klassischen Touristenorten schleppen, also zu den Überresten der Industriekultur. Zum Beispiel in die Bochumer Jahrhunderthalle. Da war ich erst neulich beim Randy Newman Konzert und auch er war begeistert von der alten Gaskraftzentrale. Aber auch die Zeche Zollverein in Essen mit dem Grubenmuseum oder die Jugendstilzeche in Dortmund Zollern sind großartig. Wenn die Tagestour zu Ende ist, wäre eine alte Ruhrgebiets-Eckkneipe Pflicht.
Was erfährt man dort über das Ruhrgebiet?
Goosen: Dort am Tresen lernt man die Leute kennen. Die Vielfalt ist groß, die Gegensätze auch. Da gibt es vom prolligen Kleinkriminellen bis zum polnischen Perfomancekünstler alles. Die Einrichtung und die Jukebox sind Ende 80er stehen geblieben. Das sind Lokale, in denen das Rauchverbot einfach nicht durchzusetzen ist. Es gibt zwar einen Nichtraucherraum, aber nur ganz hinten, wo die Wirtin nicht hinkommt.
Was macht die Menschen im Ruhrpott aus?
Goosen: Die Leute sind wie anderswo auch. Man kann gut mit ihnen klarkommen, wenn man über die erste Ruppigkeit hinweg sieht.
Stefan, der Held in „Sommerfest“, ein Bochumer, ist Schauspieler in München. Er muss zurück in seine Heimatstadt, um dort das Haus seiner Eltern zu verkaufen. Er will alles schnell erledigen und der Vergangenheit, die in seiner Heimat an jeder Ecke wartet, möglichst aus dem Weg gehen.
Goosen: Das klappt nicht, schon auf dem Weg zu seiner Omma in der Selterbude von Tante Änne erwartet ihn die Welt seiner Kindheit und Jugend. Da passiert dann auch eine typische Ruhrgebietssache, die hier jeder kennt: Du triffst wen, den du 10 Jahre nicht gesehen hast und den du noch nicht mal besonders leiden kannst und der sagt, komm wir müssen mal `nen Schrank aus Dortmund holen. Stefans Vorhaben – schnell hinfahren, Haus verkaufen und dann wieder zurück nach München – ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Er betrügt sich ja permanent selbst, wenn er glaubt, seiner Vergangenheit ausweichen zu können bzw. mit ihr abgeschlossen zu haben.
Im Roman sagt er: „Das alles ist Vergangenheit und die zieht dich runter und dann kommst du nie wieder hoch.” Warum kommt er trotzdem nicht los?
Goosen: Ohne Vergangenheit kann man nicht leben. Er kriegt sie einfach nicht aus den Klamotten und das arbeitet während der gesamten Zeit in ihm.
Sie schauen in Ihren Romanen häufig zurück. Heimat, Jugend, der Sound vergangener Jahrzehnte. Ist die Wehmut für Sie jetzt mit Mitte 40 anders als noch mit Mitte 30.
Goosen: Es ist schon so, dass ich durchaus auch eine sentimentale Ader habe. Ich habe den Eindruck, meine literarischen und humoristischen Mittel, diese Dinge zu bearbeiten, sind im Laufe der Jahre differenzierter geworden. In „Sommerfest“ ließe sich die besondere Liebesgeschichte zwischen Stefan und Charlie ohne die Vergangenheit nicht erklären, deshalb habe ich auch hier Rückblenden eingebaut, die etwas von der Zeit einfangen, in der die beiden groß geworden sind.
Berlin ist genauso arm wie das Ruhrgebiet, aber doppelt so sexy. Das kriegen wir hier irgendwie nicht hin.
Warum ist die Jugend überhaupt so wichtig?
Goosen: Ich denke, manchmal ist es wichtig, an einen Punkt im Leben zurückzuschauen, an dem die Dinge noch offener waren. Ich glaube, der Hauptgrund, sich mit der Kindheit und Jugend zu beschäftigen ist, dass sich viele zeitlebens immer wieder mal zurück sehnen in diesen Stand der Unschuld, an dem so vieles noch offen war. Am liebsten wäre einem, man könnte diesen Zustand noch einmal erleben mit dem Wissen von heute.
Stefan wehrt sich gegen seine Heimat, die verlorenen Eltern, eine verlorene Liebe. Nur über seine Großmutter sagt er, sie hätte er niemals genug umarmt. Sie haben „Sommerfest“ Ihrer Oma gewidmet?
Goosen: Omma mit zwei „m“. „Omma” oder „Oppa” mit einem „m” od. „p” geht für mich nicht. Klingt immer nach karierten Pantoffeln. „Omma” hat Biss. Und meine saß tatsächlich mal mit einer Kollegin in der Altersresidenz und sang politisch schwer unkorrekt: „Chamberlain, das alte Schwein, fuhr mit’m Pisspott über’n Rhein…“
Omma Luise im Buch hat ständig einen Spruch auf den Lippen. Ihre Omma auch?
Goosen: Mittlerweile produziert sie die nicht mehr in der Frequenz wie früher. Aber tatsächlich konnte ich etliche Sachen, die sie Zeit ihres Lebens vom Stapel ließ, in meine Programme aufnehmen.
Beispiele?
Goosen: Sowas wie: „Omma, da war viel los in deinem Leben. Du hast den Oppa überlebt und den Zweiten Weltkrieg. Was war denn schlimmer?“ „Na, das mit dem Oppa hat halt länger gedauert.“ Und es gab immer Storys. Da ist sie mal vor der Tür überfallen worden und hat auf die Frage, wie viel Geld in ihrer Tasche war, 400 DM angegeben, obwohl nur 80 Mark drin waren. Mit der Begründung: „Den finden die sowieso nicht und wenn, dann steht sein Wort gegen meins.”
Was finden Sie toll an solchen Frauen?
Goosen: Abgesehen von der kabarettistischen Verwertbarkeit haben sie einfach viel erlebt, oft gelitten unter ihren Männern, den Umständen und Entbehrungen. Aber sie haben eben nicht alles hingenommen sondern immer auch gesehen, wo sie in all dem Elend selbst bleiben oder noch einen Vorteil finden.
Gehört der freche Spruch zum Ruhrpott?
Goosen: Der Ruhrgebietler an sich packt gern große Weisheiten in kleine Sätze. Mein viel zu früh verstorbener Vater zum Beispiel hatte eine klare Pointe zu Rosenkohl, den er nicht mochte, der aber immer wieder auf den Tisch kam: „Also – wenn dat Auge sich schon weigert!“ Mit dem Spruch bin ich aufgewachsen. Erst als ich ihn das erste Mal auf der Bühne fallen ließ, bemerkte ich, dass andere so was witzig finden.
Umgangssprache verwenden Sie sonst nur in Ihren Bühnenprogrammen. In „Sommerfest“ zeigen zum ersten Mal auch Ihre literarischen Figuren die Sprachkraft des Potts.
Goosen: Ja, aber es ist ja nicht im Dialekt geschrieben, sondern die Komik entsteht oft einfach nur durch die sprachlichen Bilder, die in dieser Gegend gerne benutzt werden. Den deftigeren Stellen im Buch stehen aber immer wieder melancholische gegenüber. Ich bin der Ansicht, man muss Situationen authentisch schildern oder gar nicht. Wenn ich mir zum Beispiel die zehnjährigen Jungen ansehe, die ich trainiere: Da sind fünf Akademikerkinder, der Rest hat einen anderen Hintergrund, und da weht dann sprachlich auch ein anderer Wind. Und die sind erst zehn. Wenn man mit den Größeren mal nach dem Spiel vor dem Vereinsheim sitzt, dann wird man schon ganz schön neugierig beim zuhören. Ich gehöre deshalb auch zu denjenigen, die Atze Schröder nicht übertrieben finden.
Wirklich?
Goosen: Ich bin mit exakt solchen Hackfressen hier in den 70ern aufgewachsen. Atze Schröders Frisur und Brille sind der Realität abgeschaut. Solche Kandidaten gab es. Die meisten hatten aber rechts auf der Schulter noch ihre Schachtel HB oder Marlboro eingedreht.
Sie sind nicht nur im Vorstand vom VFL Bochum und trainieren die E-Jugend, sondern legen auch gern öffentlich Bekenntnis zum Fußball und Ihrem Verein ab. Kommt Fußball in die Nähe des Religiösen für Sie?
Goosen: Ich stehe auf dem alten liberalen Standpunkt, dass Religion Privatsache sein sollte. Fußball ist ideal um seine Leidenschaften irrational auszuleben. Wenn man es aber ernsthaft betreibt und dann in den Bereich der religiösen Überhöhung kommt, meist gepaart mit einem gewissen missionarischen Eifer, dann finde ich das ätzend. Das ist bei Religionen ätzend, egal bei welcher und hat im Fußball auch nichts zu suchen. Fans kann man nicht missionieren.
Sondern?
Goosen: Wer als Fan richtig sozialisiert wurde, also Papa … Stadion … richtiger Verein. Der bleibt dann auch lebenslang Fan dieses Vereins. Wer missioniert wurde oder nach ein paar Jahren wechselt, ist kein wirklicher Fan.
Sollte Fußball für jeden wichtig sein?
Goosen: Nur für diejenigen, die hingehen. Nichts ist schlimmer als Leute, die alle zwei Jahre mal zum Endspiel gehen und dann überall ihren Senf dazugeben.