Hatice Akyün

Warum muss ich einen Migrationshintergrund haben?

Autorin Hatice Akyün über Integration, ihr Leben in Deutschland, Migranten in den Medien, Vorurteile und typisch deutsche Eigenschaften

Hatice Akyün

© Random House

Frau Akyün, was empfinden Sie, wenn Sie in der Diskussion um die jüngste Integrationsstudie Schlagzeilen lesen wie "Türken bleiben die Verlierer"?
Akyün: Das ist ja eine harmlose Schlagzeile. Ich habe noch gelesen: "Warum Türken bei der Integration nicht mitspielen" oder: "Die Türken verweigern sich eisern der Integration". Ich frage mich, mit welcher Intention die Verfasser solcher Schlagzeilen an die Öffentlichkeit gehen? Wer soll der Empfänger ihrer Interpretation der Studie sein? Und ich frage mich, sind alle Türken damit gemeint? Jeder Einzelne von den zwei Millionen?

Eine Zeitung stellte die Frage: "Sind Türken Integrationsmuffel?" Was würden Sie antworten?
Akyün: Gar nichts. Die Frage ist mir zu polemisch und deutet nicht darauf hin, dass man sich ernsthaft mit der Sache auseinandersetzen möchte. Ich frage mich: Wo beginnt Integration, wo hört sie auf? Mein Vater hat sechs Kinder großgezogen, hat hier gearbeitet und fühlt sich nach 40 Jahren als Duisburger, aber er spricht nicht sehr gut Deutsch. Ist er integriert oder nicht? Nach der Statistik wohl nicht. Dann gibt es da noch das Beispiel eines Türken, der in Deutschland eine Lebensmittelkette aufgebaut hat. Er hat keinen Schulabschluss, aber er beschäftigt 250 Angestellte. Ist er integriert? Der Begriff ist sehr flexibel anwendbar.

Mittlerweile sprechen aber auch Migrationsforscher von "Integrationsverweigerung".
Akyün: Ich bin keine Migrationsforscherin und will von daher nicht bewerten, auf welcher Basis solche Begriffe in die Diskussion kommen. Ich finde überhaupt, dass mit zu vielen Schlagworten gearbeitet wird, die es leider immer schwieriger machen, dass man sich vorwurfsfrei begegnet.

Manchmal muss man ein Thema auf den Punkt bringen.
Akyün: Und spitzt es manchmal damit unnötig zu. Ich gebe Ihnen ein scheinbar harmloses Beispiel: In den vergangenen Jahren kam die politisch korrekte Bezeichnung "Mensch mit Migrationshintergrund" auf. Ganz ehrlich: Ich bin in Deutschland aufgewachsen, das ist das Land, in dem ich leben möchte, in dem ich meinen Beruf als Journalistin ausüben kann, und die ersten 35 Jahre meines Lebens war ich Hatice Akyün. Jetzt bin ich ein "Mensch mit Migrationshintergrund". Ich will nicht abgestempelt werden, ich will keinen Hintergrund.

Wie sollten wir das Thema diskutieren?
Akyün: Es gibt viele Gründe, weshalb sich Menschen verweigern, weshalb sie sich nicht bilden wollen, weshalb sie Angebote der Gesellschaft nicht aktiv wahrnehmen. Das ist fraglos auch ein größer werdendes Problem bei Türken, vor allem in der jungen Generation. Aber es ist nicht allein das Problem der Türken. Viele deutsche Kinder aus ärmeren Schichten finden doch auch keinen Zugang zu Bildungsangeboten, bleiben ohne Lehrstellen – und verweigern sich dann aus Trotz der Gesellschaft. Sind die etwa besser integriert?

Die finanzielle Notlage ist das Hauptproblem?
Akyün: Ob es das Hauptproblem ist, weiß ich nicht, ich bin keine Wissenschaftlerin. Es scheint mir aber ein Problem zu sein, das Deutsche und Türken gemeinsam haben, das sich nur verschieden auswirkt. Deshalb wünschte ich mir, Türken und Deutsche würden sich gemeinsam Sorgen machen, anstatt sich gegenseitig ihre Fehler vorzuhalten. Ihr Türken, wir Deutschen – und umgekehrt: Diese Form der Diskussion bringt uns nicht weiter.

Wie sind Sie aufgewachsen?
Akyün: Ganz entscheidend war: Die Türken der Generation meines Vaters hatten Arbeit, fast ausnahmslos. Ich war in erster Linie ein Arbeiterkind. Dass ich Türkin war, spielte damals doch kaum eine Rolle, deshalb habe ich mich auch in Deutschland sehr schnell heimisch gefühlt, ohne groß darüber nachzudenken.

In Ihrem Buch "Ali zum Dessert" schreiben Sie, dass "Waschlappen, Würstchen und Weihnachten" in Ihrem Leben eine besondere Rolle gespielt haben…
Akyün: (lacht) Das sind die Dinge, die ich als Kind sehr vermisst habe. Ich bin in Duisburg-Marxloh in einer Zechensiedlung groß geworden. Und meine deutschen Freundinnen haben sich mit Waschlappen gewaschen. Das fand ich toll. Das war für mich modern.

Wie war es denn bei Ihnen zu Hause?
Akyün: Wir haben uns mit fließendem Wasser gewaschen, meine Mutter weigerte sich Waschlappen zu kaufen, weil sie sagte, dass man damit nicht sauber werde. Fließendes Wasser steht in der türkischen Kultur für Reinheit.
Und Weihnachten gab es bei uns auch nicht. Am ersten Weihnachtsfeiertag sind die anderen Kinder auf die Straße gegangen, mit ihren Diskorollern, Fahrrädern und neuen Klamotten – und ich bekam gar keine Geschenke. Mit den Würstchen war es genauso. Beim Kindergeburtstag bekamen alle deutschen Kinder ein Würstchen und ich einen Hühnchenschenkel. Ich durfte ja kein Schweinefleisch essen. Heute wäre mir das egal, aber als Kind, da will man nicht anders sein. Als Kind will man  dazu gehören. Und so gehörte ich eben nicht dazu. Es sind diese Kleinigkeiten, die mich spüren ließen, dass ich anders war.

Haben Sie darunter gelitten?
Akyün: Ich habe nicht heulend im Bett gelegen, aber ich hab mir gewünscht, dass es bei uns so ist, wie bei den anderen. Ich habe mir gewünscht, dass ich an Weihnachten auch raus gehen kann und meine Geschenke zeige. Als Kind macht man sich nicht so viele Gedanken über Identität oder Religion. Man weiß, man ist muslimisch, geht in die Moschee und die Freundinnen gehen in die Kirche.  Wir hatten zwar unser Zuckerfest, aber das hat ja niemand mitbekommen. Weihnachten dagegen war überall, schon Wochen vorher wurde man darauf eingestimmt. Das hätte ich mir beim Zuckerfest auch gewünscht: Ich hätte den Fernseher angemacht und gesehen, heute ist Zuckerfest und alle feiern.

Aber es gab noch keine Satellitenschüsseln.
Akyün: Das war mein großes Glück. Es gab nur zwei Programme, ARD und ZDF und die haben wir geguckt. Mein Sprachgefühl für die deutsche Sprache habe ich zuerst über das Fernsehen und später dann mit dem Lesen entwickelt. Heute läuft bei vielen türkischen Familien nur noch türkisches Fernsehen, was ich sehr schade finde. Mein Menschenverstand sagt mir, dass das vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass so viele Kinder der dritten Generation nicht mehr richtig Deutsch sprechen lernen. Belegen kann ich das allerdings nicht.

Ihre Eltern können weder lesen noch schreiben – und Sie sind Autorin geworden. Das ist eine erstaunliche persönliche Entwicklung…
Akyün: So erstaunlich ist das doch gar nicht. Nur weil meine Eltern Analphabeten sind, heißt das ja nicht, dass ich dumm bin. Natürlich ist es einfacher mit Büchern aufzuwachsen, wenn der Vater eine Bibliothek hat, oder zu studieren, wenn die Eltern Akademiker sind. Aber ich war nicht weggesperrt! Ich habe die Welt mitbekommen, habe Familien kennen gelernt, die ganz anders lebten, und Lehrerinnen, die studiert hatten. Mit neun habe ich die ersten Bücher in die Hand genommen. Mit zwölf, dreizehn Jahren kam dann die Phase, in der ich immer mehr gelesen habe und dann fing ich an, mich für Politik zu interessieren.

Für die deutsche Politik?
Akyün: Ja. Und das Schlimmste war für mich, dass es politisch nur Helmut Kohl gab. In der Zeit von Kohl existierten meine Eltern und ich als Migranten nicht. Wir waren zwar da, haben hier gearbeitet und gelebt, aber stattgefunden haben wir nicht. Die Medien haben weder positiv noch negativ über uns berichtet. Das einzige Gute daran war, dass wir dadurch nicht mit so vielen Vorurteilen kämpfen mussten. Wir waren eben die Akyüns mit den sechs Kindern. Die Nachbarn sind gerne zum Grillen rüber gekommen. Sie haben uns akzeptiert. Für die war das nicht beängstigend, dass da jemand mit Kopftuch nebenan wohnte, dass mein Vater in die Moschee gegangen ist.

Finden die Leute das heute beängstigender?
Akyün: Ja, unbedingt! Ich merke das zum Beispiel während meiner Lesungen. In meinen Büchern beschreibe ich, wie ich und meine Familie leben.  Das ganz normale Leben. Ich habe nichts erfunden und nichts dramatisiert. Es gibt nun einmal nichts Böses oder Tragisches in meinem Leben, das ich erzählen könnte. Aber trotzdem enden 80 Prozent meiner Lesungen immer beim Thema Zwangsverheiratung und Ehrenmord. Immer.

Wie erklären Sie sich das?
Akyün: Erst einmal ist da dieser Reflex: Die kommt aus diesem Kreis, die fragen wir jetzt, die muss es ja wissen. Denen brennt die Frage auf der Seele, weil sie vielleicht davon gelesen oder gehört haben.

Wahrscheinlich auch, weil die meisten Deutschen keine Migranten kennen, keinen Umgang mit ihnen haben, oder?
Akyün: Ja, sie sehen oder lesen etwas in den Medien, die fast nur negative Geschichten über Migranten bringen. Da bildet sich dann ein bestimmtes Bild. Allerdings frage ich mich oft, wie es die Italiener geschafft haben, die Deutschen zu integrieren? Italien wird gleich mit Dolce Vita verbunden. Von den italienischen Kindern, die in der Schule genauso schlecht sind, wie die türkischen Kinder, wird nicht gesprochen. Ich möchte auch so ein Image haben, wie die Italiener. Wenn ein italienischer Kellner in Deutschland nur Italienisch spricht, dann finden die Leute das toll. Wenn ein Türke aber nur Türkisch spricht, dann heißt es gleich „Warum spricht der kein Deutsch? Der integriert sich nicht!“ . Ich habe eine spanische Freundin, die mit einem deutschen Mann verheiratet ist. Ihre zwei Kinder wachsen zweisprachig auf. Immer wenn sie das erzählen, finden die Leute das wunderbar! Wenn ich mit meinem Kind unterwegs bin und erzähle, dass ich türkischer Herkunft bin, dann sagen die Leute „Aber Sie sorgen schon dafür, dass ihr Kind Deutsch lernt, oder“?

Zitiert

Die ersten 35 Jahre meines Lebens war ich Hatice Akyün. Jetzt bin ich ein "Mensch mit Migrationshintergrund". Ich will nicht abgestempelt werden, ich will keinen Hintergrund.

Hatice Akyün

Woran liegt das?
Akyün: Ich glaube die Türken kommen nicht so sympathisch rüber, weil sie einfach anders aussehen. Man sieht die Mütter mit den Kopftüchern – das ist nicht sympathisch. Mich stört das nicht. Wenn ich durch die Stadt gehe und eine Frau mit Kopftuch sehe, ist das für mich ganz normal, weil ich damit aufgewachsen bin. Ich habe nur Probleme damit, wenn kleine Mädchen Kopftücher tragen, die sich nicht selbst dafür entschieden haben. Dann werde ich wütend.
Was ich jedoch eigenartig finde ist, dass ich nur von Deutschen gefragt werde, warum ich kein Kopftuch trage. Meine Familie, in der einige Mitglieder Kopftuch tragen und Türken haben mir diese Frage noch nie gestellt. Weil jeder weiß, dass es meine persönliche Entscheidung ist, und die wird respektiert.

Warum wirkt das Kopftuch so bedrohlich?
Akyün: Weil es fremd ist. Die Leute haben Angst davor. Natürlich fühlt man sich einem Italiener oder einer Spanierin auch mehr verbunden, weil sie Christen sind. Aber beim Kopftuch ist es auch das Aussehen. Ich habe das immer so empfunden, dass es nicht schick ist, türkisch zu sein. Es ist schick italienisch zu sein, aber nicht türkisch.

Und deswegen haben Sie das Türkischsein in weiten Teilen auch selbst abgelehnt? Wenn man Ihre Bücher liest, hat man ja auch das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Nationalität nicht zufrieden sind.
Akyün: Ganz im Gegenteil – meine Bücher sind ein Plädoyer für das Leben in zwei Kulturen!

Aber Ihr Traummann muss unbedingt ein Deutscher sein.
Akyün: …mit türkischem Temperament. Ich wollte den Hans mit scharfer Soße.

Aber Sie verwenden doch viele negative Attribute gegenüber den türkischen Männern.
Akyün: … aber auch gegenüber den deutschen Männern! Sie sind unhöflich, können keine Komplimente machen, sind kalt und zahlen getrennt im Restaurant. Alles, was man so mit deutschen Männern erleben kann…
Mein Buch ist eine Liebeserklärung an die deutsche und an die türkische Kultur. Früher wollte ich keine Türkin sein, mit Anfang 20 dachte ich, es wäre viel schöner, Spanierin oder Portugiesin zu sein. Bis ich irgendwann gemerkt habe: Ich bin glücklich mit mir, so wie ich bin. Außerdem kann ich es mir ja gar nicht aussuchen, ich wäre nicht der Mensch, der ich heute bin, wenn ich nicht türkisch wäre. Ich habe irgendwann begriffen, dass mich das ausmacht und dass Menschen, wenn sie mich mögen, genau diese Kombination aus Deutsch und Türkisch sympathisch finden.

Aber Sie selbst haben lange gebraucht, bis Sie sich so akzeptiert haben?
Akyün: Ja. Die Einsicht, dass ich mich nicht zwischen zwei Kulturen entscheiden muss, kam sehr spät. Aber ich werde noch häufig gefragt „Wie viel Prozent an dir ist deutsch, wie viel türkisch?“ Die Leute denken, dass sie mich dann besser einschätzen könnten. Aber die Frage kann man gar nicht beantworten. Was einen prägt sind die Erfahrungen, die man macht, die Menschen, denen man begegnet. Ich habe eine Zeitlang in Amerika gelebt. Das hat mich auch beeinflusst, ein Teil von mir ist amerikanisch.
Ich werde diese Fragen auch nicht mehr beantworten: „Was ist türkisch an ihnen? Was ist deutsch?“ – Warum kann ich nicht einfach keinen Hintergrund mehr haben? Warum muss ich einen Migrationshintergrund haben? Warum kann ich nicht selbstbewusst sagen: „Ich bin Deutsche?“ Weil ich dann hundertprozentig gefragt werde „Aber woher kommen Sie denn ursprünglich.“

In Ihrem Buch scheinen Sie aber doch sehr fixiert auf Nationalität. Immer wieder beschreiben Sie, was typisch deutsch und typisch türkisch ist.
Akyün: Ich beschreibe die Erfahrungen, die ich als Deutsche und Türkin mache. Ich sage auch ganz deutlich, dass ich teilweise selbst Menschen nach ihrer Herkunft beurteilt habe, obwohl es das Dümmste ist, was man machen kann. Es ist eben einfach, eine Meinung von Menschen zu haben, die man nicht kennt. Deswegen wollte ich ja nie einen türkischen Mann. Aber dann kommt einer um die Ecke, in den ich mich wahnsinnig verliebe und dieser wunderbare Mensch zeigt mir meine eigenen Vorurteile auf. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich dafür geschämt habe! Ich bin selbst in die Falle der Vorurteile getappt. Niemand ist frei von Vorurteilen.

Aber eine andere Qualität nehmen Vorurteile an, wenn sie zur Diskriminierung führen.
Akyün: Sicher, aber ich wäre ja masochistisch, wenn ich mir alles Negative, das ich täglich erlebe, zu Herzen nehmen würde. Das sind Menschen, die mich nicht kennen und die ich nicht kenne.
Natürlich ist es manchmal schwierig, die Dinge nicht an sich heran kommen zu lassen. Diese Antiislamisierungsgeschichte in Köln zum Beispiel. Je intensiver die Berichterstattung darüber wurde und je absurder die Aktionen von „Pro Köln“ wurden, etwa die Bustouren durch die Problembezirke, desto wütender hat mich das gemacht. Ich habe zwar immer gedacht, so etwas betrifft mich gar nicht. Aber es betrifft mich doch. Man ist trotzdem nicht frei davon.

Es macht ja auch Deutsche betroffen, weil unter den „Pro Köln“-Anhängern die Dummheit regiert.
Akyün: Aber was soll ich mit dem Vermieter machen, der mir wegen meines türkischen Nachnamens die Wohnung nicht vermieten wollte? Ich will ihn nicht belehren, aber auch nicht verbittert in einer Ecke sitzen. Ich denke, der kennt mich ja nicht. Wenn er mich kennen würde, wir abends mal ein Bier trinken gehen würden, hätte er mir die Wohnung wahrscheinlich mit Handkuss vermietet.

Welches sind denn die Vorurteile gegenüber den Deutschen, die sich für Sie bewahrheitet haben?
Akyün: (Überlegt lange) Es ist das sehr Sachliche. Wenn ich Deutsche kennen lerne, ist da diese Distanz. Erst einmal wird geguckt: Will der etwas von mir? Auf welcher Ebene ist das Gespräch? Das tarieren die Deutschen erst einmal aus, die  Begegnungen sind sehr kopfgesteuert.
Ein anderes Beispiel: Ich war hochschwanger in der Türkei. Und als ich in Istanbul in die U-Bahn einstieg, standen sofort sechs Leute auf und boten mir ihren Platz an. Das ist selbstverständlich. In Deutschland stehen sie nicht auf. Nicht weil sie unhöflich sind, sondern weil sie ihr Umfeld nicht sehen. Sie sitzen in der U-Bahn und merken nicht, was um sie herum passiert. Sie schotten sich ab. Das ist wirklich deutsch. Wenn ich in New York mit dem Kinderwagen unterwegs bin, stürmen drei Leute sofort auf mich zu und wollen mir helfen. In Hamburg stehe ich häufig minutenlang im Bahnhof an der Treppe und muss jemanden bitten, mit mir den Wagen zu tragen.

Vielleicht ist es ja nicht nur ein Nicht-Sehen, sondern auch ein Nicht-Trauen? Die Angst davor, jemanden etwas zu schulden?
Akyün: Ja auch. Wenn ich mit einem deutschen Mann essen gehe, dann ist es zu 99 Prozent so gewesen, dass wir getrennt gezahlt haben. Nicht weil der deutsche Mann unhöflich war oder kein Interesse an mir hatte, sondern weil befürchtete, dass ich ihm etwas schulde, wenn er für mich mitbezahlt.
Dieses Getrennt-Zahlen ist in Deutschland sowieso immer ein Problem. Wenn ich in der Türkei mit zehn Freunden essen gehe, dauert es keine zwei Minuten bis die Rechnung bezahlt ist. Dann geht man in Deutschland essen, mit vier Freunden, da kann es schon mal zehn Minuten dauern. Das ist bei den Deutschen auch eine Sache des Prinzips: „Ich habe eine Suppe gegessen, der hat ein Hauptgericht gegessen, warum sollen wir dann durch vier teilen?“

Sie haben einige Jahre in New York gelebt, wo die Menschen ihre kulturelle Herkunft viel stärker leben, als etwa die Migranten in Berlin oder Hamburg. In China Town wird kaum Amerikanisch gesprochen, alles riecht, schmeckt und sieht anders aus. Es herrscht eine völlig andere Atmosphäre.
Akyün: Ja, sie leben ihre Traditionen viel stärker aus als hier. Das liegt aber auch daran, dass in Kreuzberg, allein schon unter den Türken so unterschiedliche Türken leben. Schauen Sie sich mal die türkischen Mädchen an, mit ihren super engen Jeans, gestylt und geschminkt, die mit High-Heels durch die Straßen laufen. Daneben sehen Sie dann aber auch eine total verschleierte Frau. Da sind schon innerhalb der türkischen Gemeinschaft große Unterschiede, wie soll da ein türkisches Gefühl entstehen?

Haben die Migranten sich nicht sehr stark an die Deutschen angepasst?
Akyün: Natürlich haben sie sich im Laufe der Zeit angepasst. Ich bin ja auch angepasst. Ich sitze ja auch nicht in der Straßenbahn und unterhalte mich lautstark mit jemandem. Ich telefoniere auch nicht im Zug, weil ich das peinlich finde, wenn ich einen Anruf bekomme. Ich schätze diese deutsche Zurückhaltung sehr. Da bin ich auch angepasst.

Initiativen wie „Pro Köln“ schüren in der Bevölkerung Ängste vor dem Islam. Haben Sie für diese Ängste Verständnis?
Akyün: Natürlich. Die Frage ist aber: Woher kommen die Ängste? Sind das begründete Ängste? Ängste, weil man sich damit auseinandergesetzt hat? Oder sind es Ängste, weil man einfach dieses Hirngespinst hat? Ich sage, man kann diese Ängste nur aus der Welt schaffen, wenn man sich miteinander unterhält.
Meine Eltern wohnen neben vielen deutschen Nachbarn noch in der Zechensiedlung, in der ich aufgewachsen bin. Mein Vater geht dort seit 40 Jahren in die Moschee und unsere Nachbarn hatten nie Probleme damit. Sie fanden das normal. Dann kam der 11. September und die Leute waren plötzlich verunsichert. Sie begannen meinen Vater zu fragen: „Was machst du da? Wo gehst du denn da hin – ist es da schlimm?“ Mein Vater hat sie mit in die Moschee genommen. Der Vorbeter spricht Deutsch, sie haben sich über den Islam unterhalten und mein Vater hat aus seinem Leben erzählt. Er  glaubt an das Paradies und dass er ein guter Mensch sein muss, um in dieses zu kommen. So denkt mein Vater. Er kann sich zwar kaum auf Deutsch mit seinen Nachbarn unterhalten, aber er zeigt ihnen einfach diese Dinge, es findet eine Art von Kommunikation statt. Man kann sich Ängste nur nehmen, wenn man sich kennen lernt.

Dafür muss man sich erst einmal begegnen.
Akyün: Ja, ich werde auf Lesungen oft gefragt, was man tun kann und da sage ich: „Sprechen Sie doch mal ihren Nachbarn an. Klingeln Sie mal bei denen und sagen sie folgenden türkischen Satz: „Tanri misafiri kabul ediyormusunuz – Habt ihr für Allahs Gast einen Platz an eurem Tisch?“ Das ist ein türkisches Sprichwort. Wenn Sie das verwenden, wird Ihnen kein Türke die Tür vor die Nase zu machen, sondern er wird Sie bitten: „Kommen Sie herein.“ Es geht dabei doch gar nicht um dieses ganze Staatstragende, Migration, Dialog – es geht darum, dass man sich einfach mal unterhält. Und fragt: Na, wie geht’s dir? Was machst du eigentlich?

Sind Ihre Bücher auch ein Versuch, den Menschen diese Berührungsängste zu nehmen?
Akyün: Ich bin nicht naiv. Ich weiß natürlich, dass ein kleines Buch von Hatice Akyün nicht die Probleme aus der Welt schaffen wird. Heute Abend werden mir bei einer Lesung 150 Leute zuhören. Wenn ich eine Handvoll von ihnen dazu bringe, darüber nachzudenken, ob ihre Vorurteile berechtigt sind oder nicht, oder woher ihre Vorurteile eigentlich kommen, dann habe ich schon eine Menge erreicht.

Ein wichtiges Mittel scheint dabei Ihr Humor zu sein.
Akyün: Man kann über Unterschiede lachen oder sie problematisieren. Ich habe mein Leben nie problematisiert. Ich bin schon immer mit sehr viel Humor durch das Leben gegangen. Wenn jemand mit Erstaunen zu mir gesagt hat: „Sie sprechen aber gut Deutsch“, habe ich entgegnet: „Sie aber auch“. Ich kenne auch türkische Frauen, die darauf ganz verbittert reagieren würden, so nach dem Motto „Was denken Sie denn, ist doch selbstverständlich, dass ich Deutsch spreche.“ Aber in dem Moment, wo ich sage, „Sie aber auch“ weiß derjenige sofort, was ich damit meine und sagt „Stimmt, da haben sie natürlich recht“ Ich habe ihn dann auf eine andere Art und Weise dazu gebracht, über sein Vorurteil nachzudenken. Und wir haben dabei noch gemeinsam gelacht.

Es herrscht viel Unwissenheit über das Leben von Migranten in Deutschland. Trägt daran auch die Berichterstattung in den deutschen Medien eine Teilschuld?
Akyün: Ja. Ich bin selber Journalistin und ich muss immer wieder mit Erschrecken feststellen, wie einseitig diese Berichterstattung ist. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn ich mit einer positiven Migrantengeschichte um die Ecke komme, sagt der Ressortleiter: „Das will keiner lesen, hast du nicht so einen Ehrenmord in der Schublade?“ – „Nein, habe ich gerade nicht!“ Verlage haben mich angesprochen, ob ich für sie problembelastete Bücher schreiben will, für viel Geld – ich kann es einfach nicht.

Sie haben in Ihrem Buch sehr ausführlich auch über private Dinge geschrieben. Sie lassen fast nichts aus, vom Kaiserschnitt bis hin zu privaten Emails. Warum?
Akyün: Ganz einfach, weil die türkische Frau das Image hat, dass alles irgendwie tabu ist. Viele deutsche Frauen machen heute einen Kaiserschnitt und es ging mir darum, zu zeigen, dass auch eine türkische Frau einen Kaiserschnitt bekommt. Für Menschen in der deutschen Provinz bin ich eine Exotin. Für die bin ich jemand, der gerade vom Mond gekommen ist. Natürlich gibt es türkische Frauen, die zu Hause weggesperrt sind, von ihren Familien unterdrückt werden und ein schreckliches Leben haben. Aber mein Anspruch ist es doch gar nicht, mit meinen Geschichten diese anderen Geschichten auszuradieren. Ich habe ein Unterhaltungsbuch geschrieben und darin das Leben einer normalen deutsch-türkischen Frau beschrieben. Ich bin nichts Besonderes und auch keine Ausnahme, sondern ich habe das Bild einer türkischen Familie, wie sie in Deutschland lebt, nur etwas vervollständigt.

Sie schreiben auch über Ihren Bruder, Mustafa, der etwas einfach gestrickt und teilweise grobschlächtig rüberkommt. Haben Sie ihn damit verärgert?
Akyün: Nein. Das ist doch meine Familie, ich liebe meine Familie! Was glauben Sie denn, dass ich ein Buch über meine Familie schreibe und dann hoffe, dass sie es schon nicht lesen werden? Ich schreibe das Buch, dann gehe ich zu ihnen und wir sprechen darüber. Da meine Eltern es nicht lesen können, haben wir es beim ersten Buch so gemacht, dass ich viele Kapitel vorgelesen und meine Schwester es simultan ins Türkische übersetzt hat. Beim zweiten Buch brauchte ich mir gar keine Gedanken mehr zu machen, weil ich natürlich mit meinem Vater darüber gesprochen hatte. Und natürlich habe ich auch mit Mustafa darüber gesprochen. Ich beleidige doch niemanden. Ich schreibe so, wie es ist, und fertig.

Frau Akyün, könnten Sie uns zum Schluss noch eine Definition von Heimat geben?
Akyün: Ich habe da ein Bild im Kopf: Heimat ist für mich die A42, die durch Duisburg geht. An einer bestimmten Stelle sieht man die Hochöfen, die in den Himmel ragen. Ich kenne diese A42 wirklich in- und auswendig. Aber auch wenn ich zum eine millionsten Mal dort  vorbeifahre, berührt es mich – das ist Heimat.

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