Helene Hegemann

Der Jugendbonus ist unglaublich praktisch.

Helene Hegemann über ihren Debüt-Film „Torpedo“, Lebenserfahrung, Kinder-Erwachsenen-Rassismus und Körperverletzung im Theatersitz

Helene Hegemann

© credo:film

Helene, dein Debüt-Film „Torpedo“ feierte auf den Hofer Filmtagen Premiere und wurde gefeiert. Anerkannte Filmschaffende und Experten geraten in Aufregung, du giltst als Wunderkind – wie fühlt sich das an?
Helene Hegemann: Eigentlich nicht anders als sonst. Plötzlich ist es aber legitim, Dinge zu tun und zu äußern, die ohne den Erfolg, den ich gerade habe, bestimmt bescheuert oder unangemessen wirken würden. Und plötzlich schätzen mich Leute, die mich unter normalen Umständen nie beachtet hätten, weil ich unter 18 bin. Ein Selbstbewusstseinsaufbau.

Wie groß ist dieses „unter 18“-Ding für dich?
Hegemann: Nicht sehr groß. Ich kokettiere natürlich mit meiner Minderjährigkeit und ich kokettiere sogar damit, dass ich mit diesem Jungendbonus kokettiere. Ich bin mir diesem Bonus bewusst, zugegebenermaßen ist er auch unglaublich praktisch. Im Privaten ist der mir aber weitestgehend egal – auch wenn ich mich daran gewöhnt habe, immer in der Position der Jüngsten zu sein. Irgendwann, wenn ich die nicht mehr bin, wird mich das bestimmt in eine Identitätskrise stürzen und einiges an Gewöhnung erfordern. Generell muss man sich als junger Mensch erst etablieren, indem man nachweist, gesellschaftsfähig zu sein…

…und dass man Lebenserfahrung hat.
Hegemann: Genau, wobei dieses Thema schon nicht mehr ins Gewicht fällt.
Ich habe einfach viele Erfahrungen gezwungenermaßen früher gemacht als unbedingt nötig.

Inwiefern?
Hegemann: Das fängt an mit meinen alles andere als geregelten familiären Zusammenhängen, die mich von vornherein daran gewöhnten, mich an Erwachsenen zu orientieren. Ich habe unterbewusst immer versucht, das durchzuziehen, was die schon durchgezogen hatten, um dadurch den Leuten näher zu sein, die in irgendeiner Weise Verantwortung für mich hätten übernehmen können. Ich hatte einfach keine Lust auf diese anstrengende Standardauffassung von pubertärem Verhalten. Was nicht heißen soll, dass ich nicht schwerstpubertär bin. Selbst mit 42 werde ich wahrscheinlich noch schwerstpubertär sein.

Du hast also nicht das Gefühl, gerade auf ein Stück Jugend zu verzichten?
Hegemann: Nein, ich denke es geht schlicht und ergreifend immer nur um das, was einen interessiert. Ich wollte nicht fortwährend unter Beweis stellen, mich in meine Klasse integrieren zu können, um dann ausschließlich mit halbwegs adäquaten Gleichaltrigen mein Leben zu teilen. Das hat mir einfach nicht so viel gebracht, weil ich es uninteressant und beklemmend fand.

Warst du Außenseiter in deiner Klasse?
Hegemann: Nein, überhaupt nicht. Ich habe überhaupt nicht versucht, mich in irgendeiner Form abzugrenzen. Aber ich fand dieses ganze kollektive hilflose Teenagerrumgerenne unsexy und nicht annähernd so spannend, wie mit einem 65-jährigen über Adorno zu diskutieren. Dabei fand ich nicht Adorno toll, sondern den Vorgang, mich in einer Erwachsenenwelt zu etablieren. In meiner Zeit in Bochum, wo ich vorher gelebt habe, empfand ich es streckenweise als unheimliche Belastung, mich permanent selbst zu betrügen, indem ich mich an dieses Grundregelwerk gehalten habe, Teil einer überdurchschnittlich coolen Gruppe von Jugendlichen zu sein.

Wo man sich dann trifft, weil man das halt so macht…
Hegemann: Ja, um nicht als nicht-integriert eingestuft zu werden. Hätte ich mich ausschließlich mit mir selbst beschäftigt, wäre ich ein Problemkind gewesen. Das war alles nur Fake und Tarnung in Bochum. Und plötzlich kam ich nach Berlin und fand die Freunde, die ich mein Leben lang haben wollte und war dadurch ausgeglichener als je zuvor. Dabei spielt es absolut keine Rolle, wie alt meine Freunde sind. Es ist nichts mehr abhängig von irgendeinem Geburtsjahr.

Du hast mal gesagt, es gibt viele Erwachsene, die als Argumentation häufig nicht mehr in der Hand haben als ihre Volljährigkeit…
Hegemann: Ja, zum Beispiel Schuldirektoren, die einen auf das Geburtsjahr reduzieren. Das ist ein Kinder-Erwachsenen-Rassismus, der eine große Belastung für beide Seiten darstellt.

Kommen wir mal zu deinem Film. Worum geht es in „Torpedo“?
Hegemann: In erster Linie geht es um ein 15-jähriges Mädchen, das nach dem Tod seiner Mutter zur Tante nach Berlin zieht und in diesen ganzen, anstrengenden Prenzlauerberg-Snobismus katapultiert wird. In dieser Gesellschaft stellt das Mädchen fest, dass hier niemandem etwas anderes übrig bleibt, als sich ausschließlich für sich selbst zu interessieren und seinem eigenen Wahnsinn zum Opfer zu fallen. Niemand ist das, was gemeinhin unter einem vernünftigen Erziehungsberechtigten verstanden wird.

Wie viel Helene steckt in deiner Hauptfigur Mia?
Hegemann: Natürlich einiges. Einerseits ist alles Realität und ich habe jede Szene in irgendeiner Form erlebt, andererseits ist alles total verfremdet oder ausgedacht. Ich habe keine Lust mich ununterbrochen von meinem Film und der Hauptfigur zu distanzieren, obwohl das scheinbar seit Neustem von mir erwartet wird. Mia hat genauso wenig und genauso viel mit mir zu tun wie mit Alice Dwyer, von der sie gespielt wird. Der Film deckt nicht mein Leben auf sondern zeigt, was ich beobachte.

Das Buch zu deinem Film hast du mit 14 geschrieben…
Hegemann: Das entstand aus den jungen Nebeln meins Bewusstseins heraus.
Ich kann mich absolut nicht erinnern, wie und warum und aus was für einem Impuls heraus ich dieses Ding zustande gebracht habe. Das ist untypisch für mich, weil ich ein ganz kalt kalkulierender Mensch bin.
Nachdem ich „Torpedo“ zu Ende geschrieben hatte, musste ich lange warten, ehe sich mit credo:film endlich eine Produktionsfirma fand, die das Projekt gemeinsam mit mir durchziehen wollte. Der nächste Schritt war es, die Schauspieler zu casten, an die ich teilweise schon dachte, während ich das Buch geschrieben hab.

Also hast du Figuren für Schauspieler geschrieben, die du schon persönlich kanntest?
Hegemann: Ja. Caroline Peters kannte ich zum Beispiel schon länger über die Volksbühnen-Connection meines Vaters. Aber Leute wie Alice Dwyer oder Matthias Matschke habe ich dann einfach zum Casting eingeladen. Die waren überzeugt vom Buch oder zumindest nicht dermaßen abgeneigt, dass mein Alter ein Grund gewesen wäre, nicht zuzusagen.

Wie schwierig war es für dich als junge Regisseurin autoritär mit deinen Schauspielern zu sein und wie schwer war es für deinen Cast?
Hegemann: Überhaupt nicht schwierig, da allen Beteiligten von vorneherein klar war, dass mein Alter ein großer Teil des Projekts ist und inhaltlich auch einer der interessantesten Aspekte. Aber niemand empfand es als Notwendigkeit mein Alter oder sein eigenes Alter zu thematisieren. Ich habe nie zuvor ein Filmset von Nahem gesehen und das war kein Problem, sondern großartig. In dieser Position wäre ich aber auch nie auf die Idee gekommen, plötzlich die Regie-Faschistin raushängen zu lassen. Gerade dadurch, dass ich häufig nicht eingegriffen habe oder meine Autorität unter Beweis stellen musste, sind ganz tolle Dinge geschehen.

Zitiert

Ich hatte einfach keine Lust auf diese anstrengende Standardauffassung von pubertärem Verhalten.

Helene Hegemann

Wie schwer ist es, als formell Nicht-Erwachsene die Finanzierung eines Films zu verwirklichen?
Hegemann: Irgendwie fühlte ich, dass der Film entstehen wird. Aber es gab auch viele ganz schreckliche Exzesse, zum Beispiel Förderungen der staatlichen Filmfinanzierungsanstalten, die zurückgezogen wurden, weil eine Panik ausbrach. Es gibt einfach keinerlei gesetzliche Grundlagen, wie lange eine 15-jährige Regisseurin arbeiten darf.

So ein Kinderarbeits-Paragraph.
Hegemann: Ja. Schauspieler unter 16 Jahren dürfen nur drei Stunden am Tag drehen. Hätte ich mich an eine ähnliche Verordnung halten müssen, wäre das Ganze unrealistisch und nicht machbar gewesen. Aber gesetzlich ist das eher eine hellgraue Zone, da bin ich vergleichbar mit sechsjährigen Klavier-Virtuosen, die zwölf Stunden täglich in einem dunklen Kämmerchen Stücke üben.
Neben meinem Alter war sicher auch ein Problem, dass das Projekt und Buch nicht den üblichen Vorstellungen vom „jungen deutschen Film“ entsprach. Nach einem halben Jahr ist die Bundeskulturstiftung eingesprungen und hat das Ganze als Experiment getarnt, in dessen Rahmen das Prinzip „renommierte Regisseure arbeiten mit verhaltensgestörten Jugendlichen“ umgedreht wird, in „eine gestörte Teenagerin arbeitet mit renommierten Schauspielern“.

Du betrachtest dich als gestörte Teenagerin?
Hegemann: Klar! Das kann ich ganz offen zugeben.

Wie überzeugt man als gestörte Teenagerin eine Produktionsfirma?
Hegemann: Mit dem Drehbuch. Zwar spielt da sicherlich eine Sensationsgier eine Rolle. Aber 15 oder 14 zu sein ist total einfach.
Ein gutes Drehbuch zu schreiben dagegen nicht.

Bist du vielleicht auch die größere Chance für die Firma?
Hegemann: Ich bin viel eher das größte Risiko, das diese Firma je in Kauf genommen hat.

Wie zufrieden bist du jetzt mit dem, was draus geworden ist?
Hegemann: Total zufrieden. Vor dem Film habe ich mich von vielen Erwartungen gelöst, doch der Film hat viel mehr mit mir zu tun, als ich jemals erwartet hätte. Ich betrachte ihn und bereue nichts.

Welchen Vorbildern folgt deine Arbeit als Regisseurin?
Hegemann: Meine Sozialisation fand in der Berliner Volksbühne statt, wo mir klargemacht wurde, worum es in dieser sozialen Kunstform Theater im besten Fall gehen muss. Mein absoluter Lieblingsregisseur ist – auch wenn mein Film nichts mit ihm zu tun hat – John Cassavetes, der unter anderem „Opening Night“ drehte.

Von dir stammt der Satz „Film hat Theater abgelöst, wie die Fotografie die Bildende Kunst abgelöst hat.“ – hast du mal auf einer Festival-Pressekonferenz gesagt.
Hegemann: Ja, das sind so Situationen, in denen ich mich wundere, was aus so einem Teenager alles rauskommen kann. Furchtbar. Aber doch, dazu stehe ich. Im Theater werden alte Brauchtümer aufrechterhalten. 90 Prozent der Theaterbesuche sind wirklich langweilig. Ich empfinde es als Körperverletzung vier Stunden in einem Stück sitzen zu müssen, das man vorher vielleicht sogar schon gelesen hat. Im Theater wird diese Langeweile aus einem mir unerfindlichen Grund einfach nicht in Frage gestellt.

Harte Worte…
Hegemann: Ich bin sehr froh an dem Punkt angelangt zu sein, das sagen zu können, ohne zu denken, ich würde nicht richtig funktionieren. Ich denke, diese Kunstform Theater wird völlig falsch aufgefasst. Man sollte es als Volksversammlung oder Rockkonzert begreifen. Einen Raum, in dem echte Menschen dabei beobachtet werden, wie sie sich spielerisch zu einem Text verhalten. Kein Theatermacher kann erwarten, dass sich Zuschauer ernsthaft für ein Tschechow-Stück interessieren, dass bereits überdurchschnittlich oft aufgeführt worden ist. Betrachtet man die Leute, wirkt das total vorsintflutlich, wie die da auf der Bühne rumrobben und versuchen mit der Rolle eins zu werden. Das macht nur Spaß, wenn man in den Hauptdarsteller verknallt ist und sich auf jede Szene mit ihm freut. Das sind die einzigen Gründe, ins Theater zu gehen.
Es geht mir hauptsächlich um die Schauspieler und darum, was der oder der Regisseur für halbherzige Einfälle hat, aber absolut nicht um die Geschichte.

Glaubst du das Theater wird aussterben oder wenigstens ein Nischendasein fristen?
Hegemann: Das Theater als Brauchtum wird es immer geben. Betrachte ich aber Leute in meinem Alter, die irgendwann die Theatermacher ablösen müssten, kann ich behaupten, dass die absolut nicht interessiert, was heute im Theater stattfindet. Ins Theater zu gehen ist uncool und out.
Ich glaube, dass es abgesehen von überambitionierten schillerlesenden Zehntklässlern mit roten Haaren, nicht mal mehr jemanden gibt, der so wirken will als würde er sich für Theater interessieren.

Also verstehst du Film als das Medium unserer Zeit?
Hegemann: Auf jeden Fall. Ich kann Filme ernster nehmen. Ein schlechter Film ist auch erträglicher als ein schlechtes Theaterstück. Theater würde nur dann funktionieren, wenn es die Möglichkeit des Vorspulens gäbe.

Wie beurteilt dein Vater, der Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann, deine Einstellung zum Theater?
Hegemann: Der sieht das genau so. Und er versucht etwas dagegen zu tun.

Welche Rolle spielt dein Vater bei deinem Werdegang?
Hegemann: Im Grunde ist er in einer völlig anderen Szene unterwegs als ich. Also, wir sind nicht zu vergleichen mit Familien, in denen das Kind die Metzgerei der Eltern übernimmt. Wir diskutieren zwar ununterbrochen.
Aber wenn er versucht hätte, mir mit seinen Connections oder seiner Position in irgendeiner Form behilflich zu sein, hätte er wohl ausgesehen, wie einer dieser überambitionierten Eislauf-Väter, die verzweifelt ihre Tochter in irgendeinem kreativen Bereich unterbringen wollen. Vermutlich werden die Leute mir meinen Vater vorwerfen, denn natürlich beeinflusst er mich und natürlich bin ich in gewisser Weise seine Schülerin.

Nun ja, er ist dein Vater. Also lernst du von ihm und bist so eine Schülerin. Wie jeder andere auch Schüler seiner Eltern ist. Wahrscheinlich sogar seine Lieblingsschülerin…
Hegemann: Wir verstehen uns auch super. Bestimmt, weil ich erst mit 13 und somit in einer Phase zu ihm kam, in der ich nicht mehr gegen alles rebellieren musste was mit meinen Eltern zu tun hat. Aber sicher, wäre mein Vater nicht mein Vater, wäre ich wahrscheinlich auch nicht auf die Idee gekommen, mich mit „Torpedo“ als einem ernsthaften Lebensinhalt auseinanderzusetzen. Und mir wäre nie klar geworden, dass Leute Geld verdienen können, indem sie hysterisch über eine Bühne hüpfen oder Drehbücher schreiben.

Unsere Schlussfrage: Das Leben ist ein Comic, welche Figur bist du?
Hegemann: Daffy Duck. Dieser wilde Exzentriker, der unentwegt durchs Bild saust und den Ruf „Hoo-hoo! Hoo-hoo!“ ausstößt.

Helene Hegemann wurde 1992 in Freiburg geboren. Sie wuchs in Bochum auf, bevor sie 2005 nach Berlin ging, wo sie bei ihrem Vater Carl Hegemann lebt, Dramaturg an der Berliner Volksbühne. Von der „normalen“ Schule hat sie sich verabschiedet, Hegemann mehr

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