Frau Zeh, Sie bezeichnen Ihr neues Buch als „großen Gesellschaftsroman“. Ist solch ein Buch mit über 600 Seiten so etwas wie die Königsdisziplin der Schriftstellerei?
Für mich schon. Ich lese am allerliebsten Bücher, die nicht nur eine persönliche Geschichte erzählen, sondern darüber hinaus auch etwas über die Epoche oder die Zeit sagen, in der sie handeln. Wenn ich meine Romane der letzten Jahre so anschaue, muss ich sagen, dass ich bei „Unterleuten“ mit dem Ergebnis sehr zufrieden bin.
Das heißt, die Geschichte in „Unterleuten“ kann auch in 50 Jahren noch ein überzeugendes Abbild unserer derzeitigen Gesellschaft liefern?
Das glaube und hoffe ich. Oft geht es dabei ja um ein Lebensgefühl, das man gar nicht so klar benennen kann. Es gibt Bücher, die es geschafft haben, für eine Epoche stilprägend zu werden, weil darin Figuren auftauchen, die so stark unter dem Einfluss ihrer Zeit stehen, dass sie in der Lage sind, intuitiv ein Gespür dafür zu vermitteln, wie man zu der Zeit gelebt hat. Das ist es eigentlich, was ich mit meinem Buch versucht habe. Es geht nicht um historisches Faktenwissen, dafür gibt es die Geschichtsschreibung, sondern mehr darum, die Möglichkeit zu bieten, sich einzufühlen, in die Psychologie einer Zeit.
Sie haben fast zehn Jahre an diesem Buch geschrieben. Wann kam das Dorf als zentraler Handlungsort in die Geschichte, direkt zu Beginn Ihrer Arbeit?
Das Dorf war der Ausgangspunkt von allem. Wie sich dann die einzelnen Bestandteile nach und nach angesiedelt haben, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Es war ein langer, langsamer und sehr organischer Prozess. Ich habe lange Zeit an dem Buch geschrieben, ohne technisch zu planen oder mir Notizen zu machen, zu den Figuren oder dem Handlungsverlauf. Ich habe es sehr lange vor sich hinplätschern lassen und wusste auch nicht von Anfang an, ob die Geschichte letztendlich fertig wird.
War der Auslöser Ihr Umzug von Leipzig aufs Land?
Ja, das war im Jahr 2007 und ein großer Einschnitt. Ich bin auf dem Land erstmal mit sehr vielen Situationen konfrontiert worden, die mich sehr überrascht haben. Eine völlig andere Welt, in die ich als Städterin eingetaucht bin, und feststellen musste, wie wenig Ahnung ich vom Landleben habe. Als Schriftstellerin verarbeite ich immer eigene Erfahrungen, auch wenn man sich natürlich vieles dazu ausdenkt, oder überspitzt. Bei einigen Autoren fußt die Arbeit auf Recherche, beim mir ist es eher das Erlebte.
Besitzen Sie Haustiere, wie sie für das Leben auf dem Dorf opportun erscheinen?
Ja, aber keine Ochsen, mit denen ich pflüge oder so (lacht)! Wir haben eine Katze und zwei Pferde.
Objektiv betrachtet ist die Lage verheerend.
Wie stark ist Ihrer Einschätzung nach der Sog bei den urbanen Twentysomethings in den deutschen Großstädten, hinaus aufs Dorf zu ziehen?
Für die Twenty- bis hin zu den Fiftysomethings ist das glaube ich ein Riesentrend, den ich sehr spannend finde, hauptsächlich weil mich die Gründe dafür beschäftigen. Warum wollen die Leute aufs Dorf? Wovor laufen sie weg? Aus meiner Sicht ist das ganz eindeutig eine Fluchtbewegung. Das ist auch ein Teil dessen, was ich mit einem Gesellschaftsroman abbilden möchte, dieses Gefühl, dass sich sehr stark verbreitet hat, dass wir in der heutigen Welt nicht mehr klarkommen, überfordert sind, dass wir raus wollen, es aber kein „raus“ mehr gibt. Weil die Entwicklung dazu geführt hat, dass Kultur immer flächendeckender wird, das Exotische immer weniger vorhanden ist und der Weltinnenraum langsam zum Gefängnis wird. Man müsste dann schon zum Mond fliegen, damit es wirklich anders aussieht. Mit diesem Gefühl entdecken die Leute dann die Provinz, die neue Exotik, den neuen Fluchtort, die neue Sehnsucht. Auch wenn sie vielleicht nur ein paar Kilometer von der eigenen Haustür entfernt liegt.
Erfüllen sich diese Wünsche und Träume denn, wenn man erst einmal umgezogen ist?
Nein, natürlich nicht! Das ist zum Scheitern verurteilt. Leider ist es mit menschlichen Wünschen ja häufig so, dass sie schnell ins Surreale driften, wenn sie einem über den Kopf wachsen. Dann zielen die Wünsche nicht mehr auf einen konkreten Lebensentwurf, sondern auf etwas, was nicht sein kann. Das Verlassen unserer Zeit, unserer Gesellschaft steckt vielleicht dahinter, aber das gibt es natürlich nicht für uns. Und deswegen sind Menschen häufig bitter enttäuscht, wenn sie glauben, sich diese Wünsche dadurch erfüllen zu können, dass sie hinaus aufs Land ziehen.
Ist das vergleichbar mit dem Wunsch junger Schulabgänger, aus der Provinz nach Berlin zu ziehen, wo ja angeblich das wahre Leben spielt?
Das ist für mich quasi das nächste zu behandelnde Thema, die gegenläufige Bewegung, ja. Auf mich wirkt das aber, und das soll jetzt niemanden denunzieren, fast ein bisschen antiquiert, jetzt noch nach Berlin ziehen zu wollen. Das ist etwas, was wir in den 1990ern, und vielleicht auch noch kurz nach der Jahrtausendwende wollten. Wirklich hip ist man, wenn man aus Berlin schon wieder weg ist (lacht)!
Ist es nicht vielleicht sogar ein Trend, erst nach Berlin zu ziehen, um dort dann den Wunsch zu verspüren aufs Land zu ziehen?
Sicher kann man es darauf runterbrechen und dann ist da auch überhaupt nichts dabei. Wenn man ein paar Jahre in Berlin gelebt und gearbeitet hat, ein bisschen was verdient hat, und dann für die Familiengründung den Wunsch verspürt, aufs Land zu ziehen, um da für einen kleinen Pfennig ein Haus zu erwerben. Auch weil es sich im Berliner Umland momentan noch sehr viel günstiger wohnen lässt. Diese Phase, in der viele Leute nach Berlin gezogen sind hat ja durchaus historische Gründe. Nach der Wiedervereinigung war unser Land geprägt von einer starken Euphorie, wir haben an die Möglichkeiten der Demokratie geglaubt, daran dass der Weltfrieden nach dem Ende des Kalten Kriegs ein Stückchen näher gerückt ist. Die Wiedervereinigung und Europa, das waren positive Begriffe. Wir wollten mitmachen und in die großen Städte ziehen, wir wollten Partizipation und Teilhabe. Es gab ein positives Lebensgefühl. Und momentan ist es eher ins Gegenteil umgeschlagen, keiner will mehr bei irgendwas mitmachen, der Rückzug ins Private, die heimelige, überschaubare Welt ist populär geworden.
Wenn Sie nach wie vor glücklich sind auf dem Land, was haben Sie denn anders gemacht, als diejenigen, die vom Landleben enttäuscht worden sind?
Der große Unterschied ist für mich persönlich die Tatsache, dass ich gar nicht aufs Land wollte. Ich war tatsächlich auch auf dem „ich will nach Berlin“-Trip, habe dann versucht in Berlin eine Wohnung zu finden und dabei gemerkt, dass ich überhaupt nicht warm werde mit der Stadt. Dann war ich mir mit einem Mal gar nicht mehr so sicher. Dass es am Ende die Provinz geworden ist, war eher dem Zufall geschuldet, als dem Versuch, eine Sehnsucht zu erfüllen. Mein Mann und ich haben eben dieses Haus entdeckt, fanden es ganz toll und haben dann Kamikaze-mäßig die Kaufentscheidung getroffen. Eingezogen sind wir tatsächlich erst ein paar Jahre später, weil es am Anfang eine echte Bruchbude war. Ich hatte aber keine Erwartungen und keine Hoffnungen, deswegen konnte ich auch nicht enttäuscht werden. Wir haben nicht darüber nachgedacht und haben nicht viel damit verbunden, außer, dass wir das Haus einfach schön fanden, und verwundert waren, dass wir uns das tatsächlich auch leisten konnten. Natürlich kam dann das dicke Ende im Laufe der Sanierung, aber bereut haben wir es nicht.
Wie viel Kritik am Landleben, und dessen Verweigerungshaltung gegenüber Veränderungen und Modernisierungen steckt in „Unterleuten“?
Ich finde gar nicht, dass man das kritisieren oder loben kann. Es sind einfach Lebensräume und niemand ist dafür kritisierbar, wo er geboren ist oder sich aufhält oder hinzieht. „Unterleuten“ beschäftigt sich ganz stark mit der Frage, was Menschen motiviert, wie die einzelnen Figuren drauf sind, die dort aufeinandertreffen. Ich mag diese Figuren, empfinde viele von ihnen in ihrem Scheitern als tragisch, einige sind verblendet. Und auch die Epoche kann man nicht kritisieren, weil man es denn Leuten nicht vorwerfen kann, dass sie Angst haben, oder sich überfordert fühlen. Man kann dann nach den Gründen fragen, versuchen den Leuten Mut zu machen. Es ging mir eher darum, einen Spiegel zu erschaffen, in dem man vielleicht etwas erkennen kann, anstatt zu sagen: Ihr macht etwas falsch!
Wer ist in „Unterleuten“ am Ende glücklicher, die alteingesessenen Bewohner oder die Neuzugänge?
Keiner! Der Ort Unterleuten verurteilt ja quasi alle Beteiligten zum Scheitern, ein Happy End gibt es eigentlich für niemanden. (Überlegt) Ich persönlich habe ein klein bisschen mehr Sympathie für die Alteingesessenen, für diese Prinzipientreue, die sich aus der Verwurzelung ergibt. Sie können nicht weg und gehen auch nicht weg, sondern setzen sich mit dem auseinander, was vor Ort passiert und versuchen das so gut wie möglich zu regeln. Das hat einen sympathischen Anspruch für mich, gerade in der heutigen Zeit, die auch ich als sehr flüchtig, zu schnell und chaotisch empfinde.
Wie stark werden alteingesessene Dorfstrukturen von der Urbanisierung bedroht? Braucht es tatsächlich viel Zuzug von Außen, damit viele Dörfer in Ost- wie Westdeutschland nicht irgendwann leerstehen?
Objektiv betrachtet ist die Lage verheerend. Ich wundere mich immer noch, dass die Politik das hartnäckig ignoriert. Hier gäbe es so viel Wichtiges zu tun und zu verändern, damit die Region nicht völlig entvölkert wird und sich am Ende selbst überlassen bleibt. Es entstehen anarchische Strukturen, wie auch im Buch thematisiert, wenn die Leute sich fragen, warum sie sich eigentlich noch für den Staat interessieren sollten, wo er sich doch eh nicht um ihre Belange kümmert. Dann regeln sie ihre Probleme eben einfach alleine. Das kann gut funktionieren, aber auch ganz gewaltig in die Hose gehen, was dann wieder das ganze Land betreffen würde. Es bräuchte in ländlichen Gegenden ernstgemeinte Infrastrukturmaßnahmen. Wir haben kaum noch Ärzte hier, es gibt zu wenig Schulen, Kindergärten sind von der Schließung bedroht. Wenn man das den Leuten wegnimmt, können sie irgendwann einfach nicht mehr auf dem Land wohnen.
Können Sie da praktische Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung nennen?
Unser Kindergarten sollte vor ein paar Jahren geschlossen werden, was wir mit einer Protestaktion verhindern konnten, und weil sich letztlich doch ein Träger gefunden hat, der den Weiterbetrieb übernommen hat, wofür ich nach wie vor unendlich dankbar bin. Das ist ein ganz klassisches Beispiel: Wenn es ein paar Jahre mit schwächeren Geburtenzahlen gibt, führt das zwangsläufig dazu, dass der Kindergarten dichtgemacht wird. Inzwischen ist unser Kindergarten aber wieder überfüllt, weil es sehr viel Nachwuchs gibt. Die ärztliche Versorgung ist auch besorgniserregend, da herrschen Zustände, die ich zunächst gar nicht glauben konnte, weil man teilweise sehr weit fahren muss, um einen Arzt zu finden, der einen behandeln kann.
Aber man kann sich damit arrangieren …
… Naja, vor allem wenn man jung ist, Geld und ein Auto hat. Ich bewundere es total, wie die Leute das hier aber auch ohne diese Voraussetzungen schaffen. Es ist eine arme Region, die Leute in der Nachbarschaft haben teilweise derart wenig Geld zur Verfügung, dass kann sich ein Städter in Berlin, der glaubt er wäre arm, wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Aber alle helfen sich gegenseitig, die Oma, die kein Auto hat, wird kurzerhand von den Nachbarn gefahren. Das ist toll, weil es natürlich zusammenschweißt und ein gesundes Sozialleben schafft.
Klingt aber auch ein bisschen nach Sozialromantik, oder?
Nein, hier herrschen teilweise eben noch sehr einfache Verhältnisse, von denen wir in Deutschland gemeinhin glauben, dass wir sie überwunden hätten. Manchmal fühlt es sich auf dem Land wirklich an wie in einer vergessenen Region. Wenn wir Besuch bekommen und ich sage, wir holen euch vom Bahnhof ab, heißt es: Macht euch keine Mühe, wir nehmen uns ein Taxi. Aber es gibt hier keine Taxen! Nicht nur am Bahnhof nicht, sondern nirgendwo, das glaubt einem keiner. Wenn man ein Taxi will, muss man das aus Potsdam kommen lassen und eine Menge Geld auf den Tisch legen.
Sie sind als eloquente Stimme zu gesellschaftlichen und politischen Themen bekannt, zuletzt u.a. in der FAZ zum Thema „Privatsphäre und Literatur“. Würden Sie sich zutrauen, zum derzeitigen Zustand der Gesellschaft, Stichwort Flüchtlingskrise, einen Roman oder eine Novelle zu schreiben, oder ist es schwierig, da den richtigen Ton zu treffen?
Ein Roman, der alle damit verknüpften Themen behandelt, ist aus meiner Sicht undenkbar, man könnte darüber vielleicht einen groß angelegten Essay schreiben.
Ein Buch, dass Stimmungen auffängt, und ein bisschen zu ergründen versucht, was Menschen rechtsradikal macht, oder was ganz aktuell zu Ausländerfeindlichkeit führt, das würde ich mir zutrauen und werde es vielleicht auch versuchen. Mich allerdings direkt am Diskurs zu beteiligen, in Interviews oder Beiträgen, halte ich derzeit nicht für angebracht, weil die Diskussion momentan derart psychopathisch ist, dass jeder Beitrag es nur noch schlimmer macht. Allerdings werde ich diese Abstinenz, je nachdem wie das so weitergeht, eventuell nicht mehr lange durchhalten können.
Ist man im Landkreis Haveland, wo Sie wohnen, und wo der nächste größere Laden 30 Kilometer entfernt liegt, vermeintlich geschützter vor aktuellen politischen und sozialen Entwicklungen?
Ich habe mit eigenen Augen nichts davon gesehen, aber natürlich verfolge ich die Medien, ich weiß was passiert und auch was geredet wird. Nicht nur im Internet, sondern auch in meinem Umfeld. Persönlich fühle ich mich natürlich nicht bedroht, aber dass wir als Gesellschaft momentan leicht angeknackst sind, kann ich nur bestätigen. Von einem beschützten Gefühl kann im Augenblick wohl nicht die Rede sein.
Sind Flüchtlingskrise, Ausländerfeindlichkeit und Europapolitik denn ein Thema bei Ihnen im Dorf? Wie wird darüber gesprochen?
Ein konkretes Thema ist das im Dorf nicht. Das würde sich aber in dem Moment ändern, wenn im Umkreis von wenigen Kilometern Flüchtlinge angesiedelt werden sollten. Ich behaupte jetzt aber mal, dass mein Dorf, und ein paar umliegende, die ich kenne, damit klar kämen, wenn die Politik es schaffen würde, ein paar Grundregeln des menschlichen Miteinanders zu beachten. Da wird einfach sehr viel versäumt, bestimmt auch aus Zeit-, Geld- und Kapazitätsgründen. Man kann im Nachhinein immer erklären, warum etwas schiefläuft. Aber es wäre vermeidbar. Unglaublich wichtig ist glaube ich, dass die Leute vor Ort eingebunden werden, man kann die Akzeptanz erhöhen, wenn man Leute in solche Prozesse einbindet. Das ist keine originelle Erkenntnis, das weiß jeder, aber trotzdem wird es nicht gemacht.
Wie würde das Dorf „Unterleuten“ im Buch damit umgehen?
In „Unterleuten“ ist ja das Thema Windkraftanlage die große Bedrohung. Eine Windkraftanlage und ein Flüchtlingsheim kann man jetzt vielleicht nicht qualitativ vergleichen. Wenn man es strukturell betrachtet, sind es aber einfach zwei Sachen, die den Leuten vor die Nase gesetzt werden. Ohne dass man sie fragt, ob sie das wollen und ohne dass man sich dafür interessiert, was für Ängste das auslöst und welche gefühlten oder echten Nachteile daraus vielleicht entstehen. Wenn man dafür aber das Gespräch sucht, könnte mein Dorf diese sogenannte Integrationsleistung aufbringen, glaube ich. Platz hätten wir, es gibt genug Leerstand, dafür müsste man keine Heime bauen. Was man nicht machen darf, ist, den Leuten einfach unkommentiert etwas hinzuknallen.
Sie sagten in einem Interview mit der „Zeit“, dass es zwei Regeln in Ihrem Dorf gäbe: Nicht nerven, und wenn’s geht nicht aus Sachsen sein. War das negative Bild, welches derzeit auf das Bundesland Sachsen projiziert wird, also in Ihrem Dorf schon länger bekannt, oder woher rührt dieser Ablehnung?
(Schmunzelt) Da muss man zwei Sachen auseinanderhalten. Zum einen diese alte, sogenannte Feindschaft zwischen Preußen und Sachsen, die ist irgendwo angesiedelt zwischen Witz und echten traditionellen Ressentiments. Zum anderen besteht die Frage, warum der Rechtsradikalismus in einem Bundesland so überhand nimmt. Ich habe dreizehn Jahre in Leipzig gelebt und wir hatten von Anfang an, seit ich 1995 dahingezogen bin, ständig Probleme mit Nazis. Also mitten in der Stadt und eben nicht nur in der Provinz. Ich habe öfter die Polizei gerufen, weil üble Naziaktivitäten auf der Straße passierten, und die Polizei kam dann nicht, weil sie keine Kapazitäten hatten. Man konnte das Staatsversagen von Tag zu Tag sozusagen live beobachten. Und erst jetzt schlagen die Politiker die Hände über dem Kopf zusammen und fragen sich, was denn da los ist! Ganz ehrlich, das ist schon sehr lange bekannt, es gibt sogar Literatur darüber, dass schon die Wiedervereinigung von bestimmten Gruppen aus rechtsnationalistischen Gründen begrüßt wurde. Dem ist schon lange nicht entgegengewirkt worden.
Haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, unseren gesellschaftlichen Zwängen noch stärker zu entfliehen, also nicht nur aufs Dorf – sondern nach Afrika, Asien oder Südamerika auszuwandern?
Ja, ich hatte solche Fluchtgedanken, vor anderthalb Jahren ganz massiv. Da hatte ich, vielleicht auch aufgrund von zu viel politischem Engagement, einen Punkt erreicht, an dem ich so erschöpft war, und bereit, dem Land den Rücken zu kehren und ganz woanders hinzuziehen, weil es mir einfach egal war. Das entspricht aber letztlich nicht meinem Charakter und außerdem liebe ich Deutschland. Ich bin immer mal wieder gerne weg, aber kann mir tatsächlich nicht vorstellen auszuwandern.
Sind Sie eigentlich noch bei Facebook?
Ich habe eine Facebookseite, aber die habe ich quasi seit zwei Jahren nicht mehr benutzt, was ich ganz ehrlich bedauere. Das hatte auch mit der eben genannten Erschöpfung zu tun, ich musste es etwas ruhiger angehen lassen. Ich habe auf Facebook ja keine Bilder von meinem Frühstück oder so etwas geteilt, es war ja viel eher ein Diskussionsforum für mich, welches ich sehr geliebt habe und wo ich ziemlich aktiv war. Aber es hat mich jeden Tag eben auch ein bis zwei Stunden gekostet, deswegen habe ich die Seite 2014 eingefroren, und momentan bin ich einfach noch nicht so weit, das wieder aufleben zu lassen.
Mit denunzierenden Kommentaren und Shitstorms hatte das aber nichts zu tun?
Nein, das war nicht das Problem. Es war ja vor der Flüchtlingskrise und es ging in den Diskussionen auch nicht um Rechtsradikalismus, sondern vor allem um Überwachung und die Digitalisierung, da war der Umgangston meist sehr respektvoll. Wenn es mal jemanden gab, der quergeschossen hat, wurde er meist von den anderen Diskutanten zur Ordnung gerufen, ich musste da gar nicht viel moderieren. Aber die Gefühle gingen trotzdem hoch und runter, weil Politik für mich eine Leidenschaft ist.
Ist das die Frau Zeh,die als Jubelkomparsin bei auftrat?