Herr Stockhausen, gehen Sie ab und zu ins Konzert oder in die Oper?
Stockhausen: Nein, in die Oper sowieso nicht.
Warum so ganz entschieden?
Stockhausen: Weil der Spielplan mich nicht interessiert. Ich möchte, wenn ich in die Oper ginge, etwas erleben, was ich nicht kenne, was mich erstaunt, wofür ich studieren muss.
Sind Sie immer auf der Suche nach dem Neuen?
Stockhausen: "Suche" ist vielleicht falsch. Es gibt ja das berühmte Wort: Wer suchet, der findet. Aber ich finde meistens, ohne zu suchen. Ich arbeite praktisch, ich schreibe und arbeite viel in Studios, schon seit Anfang meiner Arbeit, und bei der Realisation in den Studios finde ich viel.
Aber Sie haben den Anspruch an Ihre Musik, immer Neues zu schaffen.
Stockhausen: Ich fange gar nichts an, wenn mich nicht etwas fasziniert, was ich noch nie probiert habe.
Braucht man nicht auch etwas Vertrautes in der Musik?
Stockhausen: Ich jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Von Anfang an war es für mich unheimlich wichtig, dass ich ergriffen war – oft durch Träume – von etwas, was ich nicht kannte und was mir sehr fremdartig, faszinierend vorkam. Was auch so war, dass ich gar nicht wusste, wie ich das nun realisieren sollte.
Man hat Ihnen oft vorgeworfen, Sie hätten mit der Tradition gebrochen.
Stockhausen: Wie sollte ich das denn machen? Nein, das ist ja Unfug. Ich habe Schulmusik und Klavier studiert und als Pianist Bach, Mozart, Schubert und Beethoven gespielt. Auch Hindemith, Schönberg und Webern. Das ist die Tradition, sie bleibt bis heute meine Lebenserfahrung. Zu Webern habe ich mehrere Analysen geschrieben. Er wurde ja extrem abgelehnt in Deutschland. Ich habe gekämpft wie ein Löwe, dass man ihn endlich mal zur Kenntnis nimmt und auch aufführt.
Aber Sie haben einen neuen Musikbegriff definiert.
Stockhausen: Es gab ja "Neue Musik". Der Begriff ist nach dem Krieg ganz besonders wichtig geworden. Aber die meisten so genannten Neue Musik-Komponisten schreiben mittlerweile ganz konventionell. Selbst meine Schüler – ich bin ganz überrascht – passen sich der traditionellen Aufführungspraxis an und schreiben Stücke im alten Stil, mischen alles durcheinander. Die tun hier und da ein bisschen Paprika hinein, aber alles in allem ist der Trend auf der ganzen Welt zur Zeit, im neoromantischen Stil zu komponieren. Und es gibt ja noch viele Verrückte, die Crossover-Musik schreiben, um oft aufgeführt zu werden.
Ist Ihnen das denn nicht wichtig?
Stockhausen: Nein.
Für wen komponieren Sie dann?
Stockhausen: Ich komponiere. Doch ich habe noch nie gesagt, für wen. Ich freue mich natürlich, wenn einige Musiker, die ich gut kenne und mit denen ich zusammen musiziere, das interessant oder gut finden. Aber darüber hinaus weiß ich ja gar nicht, was die Welt denkt. Allerdings finden meine Werke in zunehmendem Maße ein großes und sehr sympathisches Publikum. Die Säle sind voll, wenn ich Konzerte gebe. Die Widerstände von den Veranstaltern – und das verstehe ich sehr gut – kommen, weil die Werke zu viele Proben verlangen und wegen der Kosten für Lautsprecher, Mischpult, Mikrofone, Beleuchtung usw.
Ihr Werk LICHT soll in sieben Theatern an sieben Wochentagen hintereinander aufgeführt werden. Ist das realistisch?
Stockhausen: In drei Häusern könnte man drei Tage von LICHT gleichzeitig produzieren. Man bräuchte für jeden Teil ungefähr zwei Monate Vorbereitung, mit drei verschiedenen Regisseuren in drei Häusern. Das gibt es nur in Berlin, und Udo Zimmermann, der zukünftige Indendant der Deutschen Oper, möchte das gerne irgendwann machen. Aber mehr als drei wird er wohl nicht schaffen. Dann müsste man wieder ein halbes Jahr für Proben lassen und dann die nächsten vier aufführen. Das wäre ein großer Probenaufwand, aber sehr schön.
In Verbindung mit dieser zyklischen Schaffensweise werden Sie oft mit Wagner verglichen.
Stockhausen: Wagner hat mich noch nie interessiert, weder früher noch jetzt.
Ist denn das zyklische Komponieren ein Modell für das zukünftige Musiktheater?
Stockhausen: Im Moment sehe ich nur, dass Komponisten – selbst die, die noch am strebsamsten sind – zurückschauen, sich zum Beispiel sperren, in elektroakustischen Studios zu arbeiten. Ich glaube, die kompositorische Arbeit ist ohne Studioerfahrung, ohne Integration der modernen Elektroakustik und Elektronik in Zukunft hoffnungslos. Wer das nicht kann und nicht will, der ist meines Erachtens historisch weg vom Fenster. Aber da ist eben ein Gegentrend. Junge Komponisten schreiben wieder Sinfonien, Kammermusik für konventionelle Besetzungen, Solokonzerte. Ein Solist probt solch ein Stück so lange, wie er will. Wenn er es gut macht, bekommt er viel Applaus, und das Orchester wird daruntergewaschen. Das kann man dann in drei Proben einstudieren. Damit erzielt man wenigstens eine breite Wirkung, die imponiert. Das ist natürlich stark dekadent.
Was ist die Alternative?
Stockhausen: Man wird alle Massenmittel ersetzen. Das Orchester wird man reduzieren auf Ensembles von selbstverantwortlichen, hervorragenden Instrumentalisten. Diese Musiker sitzen dann nicht mehr nur hinter Notenpulten und starren über den Rand der Noten den Dirigenten an, sondern spielen auswendig, bewegen sich auch gemäß choreographischer Notation, proben so lange, bis ein Werk fertig studiert ist – wie die besten Interpreten in anderen Kulturen. Unsere Orchestermusiker sind ja gewohnt, wie Untergebene dirigiert zu werden und das zu tun, was sie gelernt haben und was der Dirigent sagt.
Mögen Sie das Klangerlebnis eines Sinfonieorchesters nicht?
Stockhausen: Der gewohnte Orchesterklang ist, selbst wenn hier und da Schlagzeuginstrumente dazwischenfetzen, ein Klischee, eine permanente Imitation. Für mich ist Klangfarbe genauso wichtig wie Tonhöhe, Zeitdauer und Lautstärke. Also sollten auch die Klangfarben für jedes Werk einmalig und neu sein. Im Orchester wird über die Klangfarben nicht mehr diskutiert, sondern man nimmt es hin, dass es wieder mal wie ein Orchester klingt. Ich kann das nicht mehr überhören, schon lange nicht mehr. Alle meine Orchesterwerke sind, von den ersten angefangen, in der Zusammenstellung der Instrumente, in der Platzierung, in der Auswahl ganz bestimmter Zusatzinstrumente möglichst eigenständig. Das letzte Werk, das ich bei den Donaueschinger Musiktagen 1999 dirigiert habe, hat zweieinhalb Wochen Proben mit 29 solistisch spielenden Musikern gekostet. Jeder hatte ein Mikrofon und stand mitten im Publikum, und das Publikum saß in neun Dreiecken verteilt im großen Sportsaal. Das klang wunderbar.
Sie haben mal gesagt, "Die wichtigste Berufung des Menschen kann nur sein, Musiker zu werden."
Stockhausen: Der Meinung bin ich noch heute, vor allem im Hinblick auf die Zukunft. Meine Vorstellung ist ja, dass wir nicht in alle Ewigkeit so reden, wie wir es jetzt tun, also zufällig innerhalb einer Quarte oder Quinte, was die Tonhöhen angeht, und zwischen Dauern von circa einer achtel und einer Sekunde, was die Rhythmen betrifft. Es sollte dahin kommen, dass jeder singen lernt und in einer künstlerischen, gesanglichen Art spricht. Zum Teil ist das in anderen Kulturen der Fall: Die Chinesen haben neun Toneme, und jede Tonhöhe desselben phonetischen Lauts hat eine andere Bedeutung. Der differenziertere Mensch der Zukunft wird ein Sänger sein, ein Musiker, der alles in musikalischen Kategorien fühlt und denkt. Denn Musik ist die feinste, die ätherischste, die immateriellste Sprache, die es überhaupt gibt. Für mich sind die Schwingungen auch der außerirdischen Welten, Körper und Elemente – Musik.
Wird man sich trotzdem noch hinsetzen und die Musik anderer hören und für andere musizieren?
Stockhausen: Das glaube ich schon, denn ich höre mir ja auch an, was Sie sagen. Meistens kommt man ja zufällig in Kontakt mit dem, was andere tun, und manchmal horcht man auf. Es gibt Geister, die viel begabter sind als ich. Nur kommt es darauf an, in welchem Fach, was und wie sie es tun.
Lasset die Zukunft beginnen
Aber ach, sie kommt ja von selbst, zum Glück.
Schönes Interview, motivierender Geist.