Daddy G, du hast mit Robert Del Naja gerade das Album „Heligoland“ veröffentlicht. Nun ist ein komplettes Musikalbum heute nicht mehr so gefragt wie noch vor 20 Jahren, bedauerst du das?
Daddy G: Also, ich muss sagen, dass ich selbst auch… ich habe zum Beispiel in meiner Küche Itunes laufen und dafür mache ich mir bestimmte Playlisten. Es ist ja so, dass wir ursprünglich aus der DJ-Szene kommen, wo man immer Tapes und DJ-Sets macht, Zusammenstellungen von Songs verschiedener Bands. Das hat inzwischen mehr Relevanz als ein Album-Konzept. Und da erwarte ich jetzt auch nicht, dass die Leute bei uns jeden Track unseres Albums mögen.
Wie strikt geht ihr dann heute mit dem Album-Konzept um?
Daddy G: Wir haben mehr als 20 Tracks produziert und am Ende zehn auf das neue Album gepackt. Die anderen Songs werden wir dann später als eine Art Erweiterung des Albums veröffentlichen. Das ist jetzt eine Sache mit offenem Ende, man wartet mit der Veröffentlichung eines neuen Tracks nicht erst, bis das nächste Album rauskommt.
Aber wäre es nicht eigentlich schade, wenn sich die Leute in Zukunft gar keine ganzen Alben mehr kaufen würden sondern nur noch einzelne Songs?
Daddy G: Wenn man sich anguckt, was die Leute machen – ist es dann nicht schon längst so? Ein bestimmter Anteil lädt sich ja nur noch Songs runter, nicht Alben. Ok, jetzt klinge ich fast schon so, als würde ich meinen eigenen Beruf vernichten wollen… Aber wenn ich ehrlich bin, beispielsweise an meine Neffen und Nichten denke und deren Gewohnheiten, die laden sich eben nicht komplette Alben herunter sondern nur die Songs von einem Album, die sie mögen.
Also siehst du darin einfach eine normale Entwicklung…
Daddy G: Ja, das kannst du auch nicht aufhalten. Klar, ein bisschen bedaure ich diese Entwicklung auch, weil vorher haben wir das Album-Konzept schon als etwas begriffen, das, beinahe filmisch, das sehr umfassend war. Heute haben sich die Dinge im Musikgeschäft geändert, auch die Meinungen darüber ändern sich, wie man heute Musik rausbringt.
Ich persönlich mag das Album-Konzept auch heute, ich kaufe immer noch Alben, weil ich finde, dass sie eine Art Kohärenz haben. Da haben sich Leute Gedanken gemacht, wie ‚das ist der erste, das der letzte Track’, man merkt wie die Tracks zusammen funktionieren. Das schätze ich nach wie vor.
Und wie wichtig ist diese Kohärenz letztendlich für Massive Attack?
Daddy G: Hmmm, also, wie die Leute am Ende des Jahres das Massive Attack Album für sich begreifen werden, das kann schon ein Unterschied zu dem sein, was wir jetzt veröffentlicht haben, eben weil wir noch weitere Teile dieser Arbeit rausbringen.
Heute machen sehr viel mehr Menschen Musik als noch zur Zeit der Gründung von Massive Attack. Würdest du sagen, es ist heute schwerer geworden, einen einzigartigen Sound zu kreieren?
Daddy G: Gute Frage. Also, wir haben ja wie gesagt diesen DJ-Hintergrund, in den 80ern mit dem Kollektiv „The Wild Bunch“. Unsere Arbeitsweise bestand darin, Dinge zu kreieren, in dem wir die Musik anderer Leute verwendet haben. Wir haben nur neu definiert, was wir gesamplet haben. Ein Sample oder ein Loop war oft das Rückgrat eines Songs. Heute ist die Technologie so viel weiter, dass du das Prinzip auf den Kopf stellen kannst… Wir machen da jetzt aber auch eine andere Erfahrung als eine archetypische Band, die von vornherein als richtige Band angefangen hat. Wir hatten früher eine andere Perspektive beim Musikmachen als heute.
Aber der Sound ist schon unverwechselbar geblieben.
Daddy G: Ich denke, Tatsache ist, dass wir nie versucht haben, zu reproduzieren, was wir auf dem vorherigen Album gemacht haben. Aber wir sind natürlich immer Musik-Fans, bestimmte Macharten von Platten, die wir mögen und früher gespielt haben, die haben wir einfach im Kopf, wenn wir ins Studio gehen. Und die reproduzieren wir dann schon, aber auf eine andere Art und Weise. Wir leihen uns sozusagen deren Ästhetik, zum Beispiel wie eine Band das Schlagzeug behandelt hat, wie die Beach Boys einen bestimmten Sound kreiert haben. Da geht es um musikalische Vorstellungen und Ideen, die wir als Musik-Fans in unserem Archiv haben und darin wühlen wir dann.
Hörst du denn auch viel aktuelle Musik, während ihr neue Tracks produziert?
Daddy G: Ich persönlich nicht. Ich packe einfach Ideen und Gedanken zusammen, die ich über die Jahre gesammelt habe.
Ich kaufe immer noch Alben, weil ich finde, dass sie eine Art Kohärenz haben.
Verwendet ihr mit Massive Attack noch viele Samples?
Daddy G: Natürlich ist ein Sample oder Loop manchmal ein guter Startpunkt für einen Track. Aber heutzutage ist es eigentlich unmöglich, Samples zu benutzen ohne dass dich das komplett ruiniert. Das heißt, wir benutzen rein aus finanziellen Gründen keine Samples mehr. (lacht) Wir versuchen es zumindest zu vermeiden. Und wenn wir welche benutzen, dann kann man davon ausgehen, dass sie sehr gut versteckt sind.
Vieles von dem, was wir heute machen sind aber auch ganz neue Ideen, wir haben uns von der DJ-und Sampling-Technik wegbewegt. Wir spielen ja sehr viel live, wodurch auch viele Ideen entstehen, die wir dann später mit ins Studio nehmen, wo wir dann weniger mit Samples arbeiten sondern mit Musikern. Das Schlagzeug, das man auf „Heligoland“ hört, hat Jerry Fuchs in New York eingespielt, der leider vor kurzem verstorben ist. Und wir haben mit Tim Goldsworthy von DFA zusammengearbeitet, der viele der Beats programmiert hat.
Warst du eigentlich schon auf Helgoland?
Daddy G: Nein. Aber es ist offensichtlich ein Ort, wo wir bald hingehen sollten, um dort ein Festival zu organisieren. Wer weiß…
Also ist der Albumtitel einfach Ausdruck einer Sehnsucht?
Daddy G: Nein, das ist nur ein Wort. Ich glaube, 3D (Künstlername von Robert Del Naja, Anm. d. Red.) hat es in einem Buch entdeckt, wir haben es diskutiert und er war davon irgendwie eingenommen. Er hat ja das ganze Artwork gemacht und als er das Plattencover designte stolperte er über das Wort „Heligoland“. Das hat eine interessante Geschichte, es hieß ja früher auch „Holy Land“ (dt. Heiliges Land). Und 3D war auch davon angezogen, weil es ein Anagram ist, mit dem mal viele andere Wörter bilden kann.
Massive Attack ist politisch engagiert, u.a. thematisiert ihr aktuelle politische Ereignisse in euren Live-Shows, konfrontiert Konzertbesucher mit Zahlen und Fakten auf Leinwänden. Wie wichtig ist das heute für die Band?
Daddy G: Also, ich finde, jeder sollte ein bisschen politisch engagiert sein, oder sich zumindest mit Politik auseinandersetzen. Es ist ja nicht so, dass wir jetzt den Leuten Politik eintrichtern wollen. Aber es gibt Dinge, die uns emotional bewegen, über die wir sprechen wollen. Es geht darum, die Leute politisch zu motivieren, sie auch einfach zu informieren. Dabei arbeiten wir mit Leuten von der Hoping Foundation oder von Repriev zusammen, Leute die den Mumm haben, die ihren Hals riskieren, die Ungerechtigkeiten in der Welt ans Licht bringen. Und ich finde es großartig, wenn wir den Blick auf solche Dinge lenken können, die sonst vor der Öffentlichkeit versteckt sind.
Du bist gerade 50 geworden, kommen noch Leute in deinem Alter zu euren Konzerten?
Daddy G: Ja, da kommen schon welche. Neulich habe ich mich auf einem Konzert auch wieder mit sehr jungen Leuten, so um die 18, unterhalten und da hab ich gesagt: „Hey, ihr wart doch noch gar nicht geboren, als Massive Attack entstand“. Daraufhin meinte dann einer von denen: „Ja, aber wir wurden zu der Musik von Massive Attack gezeugt.“ Da musste ich schon sehr lachen – aber ich finde diesen Gedanken auch einfach brillant.
Zum Schluss: Was macht Musik für dich zeitlos?
Daddy G: Deine Erinnerungen.
Und von der Macherseite her?
Daddy G: Gute Ideen. Und Inspiration, das macht Musik zeitlos.
Letzte Frage, wie würdest du in drei Worten die Musik von Massive Attack beschreiben?
Daddy G: Pur, ehrlich – und erhaben.
Erhaben
Ja, das passt genau zu ihrer Musik. Und ob Helene Hegemann auch den Abschnitt mit den versteckten Samples lesen wird? … ;)