Mr. Herbert, ist unsere Umwelt zu voll mit Musik?
Matthew Herbert: Ja, ganz sicher. Ich habe vor kurzem erst gelesen, dass etwa 65 Prozent unseres Alltags voll sind mit Musik, ob im Restaurant, im Supermarkt …
Wie viel Prozent würden Sie vorziehen?
Herbert: Das ist schwer zu sagen. Für mein eigenes Leben jedenfalls viel weniger. Wenn ich nicht arbeite und nicht Musik mache, höre ich auch nur sehr wenig Musik. Manchmal schalte ich Radio Four von der BBC ein, da wird aber viel mehr geredet, über Politik usw. Ich bin vor sechs Wochen umgezogen und ich habe meine Hifi-Anlage bis heute nicht angeschlossen, allein daran sehen Sie, wie wenig Musik es bei mir zu Hause gibt.
Und im öffentlichen Raum, wo sollte es keine Musik mehr geben?
Herbert: In Hotels, in Restaurants, auf Flughäfen… Naja, jetzt klinge ich schon wie so ein faschistischer Diktator.
Was genau stört Sie?
Herbert: Mich macht diese Hintergrundmusik total krank. Neulich war ich in einem Hotel in Frankreich, dort haben sie lauter Easy-Listening-Versionen gespielt, von Popsongs wie „Can’t get you out of my head“ von Kylie Minogue. Eine CD den ganzen Tag! Das ist Musik, die dich passiv macht, diese Musik wird benutzt um dich andauernd ruhig zu stellen. Die ganze Zeit redet sie auf dich ein und sagt: „Alles ist ok.“ Man hört halt eben nicht „Rage against the machine“ auf Flughäfen, sondern immer ganz viel Streicher…
Manchmal brauchen die Leute das.
Herbert: Dann sollen sie ihre verdammten Kopfhörer aufsetzen. Ich will nicht, dass mir jemand die ganze Zeit vorschreibt, welche Gefühle ich haben soll.
Sie sind einer der wichtigsten Sample-Künstler der Gegenwart, wie erleben Sie die Klänge und Geräusche, die Sie tag täglich umgeben?
Herbert: Es gibt Momente, wo ich auf ein ganz bestimmtes Geräusch aufmerksam werde. Im Zug zum Beispiel, wenn der anhält und es so fürchterlich laut quietscht. Es ist wahnsinnig laut, aber niemand reagiert, niemand bewegt sich. Gut, ich weiß auch nicht, was ich von den Leuten erwarten soll, ob sie jetzt aufschreien sollen oder sagen sollen: „Oh, hör dir das Geräusch mal an“. Aber ich denke in solchen Momenten, dass wir irgendwie komisch sind.
Sie reagieren dann auch nicht?
Herbert: Ich reagiere insofern, als dass ich in dem Moment über die Frequenzen des Tons nachdenke, und ob ich das mal aufnehmen und in einem meiner Tracks verwenden sollte. So etwas passiert aber eigentlich nur zwei, drei Mal die Woche. Man kann das mit einem Fotografen vergleichen, der ja auch nicht alles aufnehmen kann, was er jeden Tag sieht. Wenn ich mir jedes Geräusch genau anhören würde, würde ich doch total verrückt werden.
Aber als Sie vor vielen Jahren Ihre Sample-Technik entwickelt haben, gab es da nicht eine Zeit, in der Sie alles an Geräuschen aufgenommen haben, was Sie nur kriegen konnten?
Herbert: Ein bisschen gab es das schon. Ich habe dann meistens einen Rekorder mit mir rumgeschleppt und habe viele Dinge aufgenommen. Nach ein paar Jahren habe ich allerdings festgestellt, dass ich nichts mit diesen Aufnahmen gemacht habe. Ich hatte diese riesigen Sample-Archive aufgebaut, aber ich habe sie mir nie angehört oder verwendet, weshalb ich mit dieser Sample-Sammlerei dann erst mal aufgehört habe.
Sie waren von den Geräuschen gelangweilt?
Herbert: Nein, nicht gelangweilt. Aber heute interessiert mich nicht mehr so sehr das isolierte Geräusch für sich, sondern ich will auch die Geschichte dahinter hören. Bei einem meiner ersten Stücke, vor etwa 15 Jahren, habe ich den Biss in einen Apfel gesamplet. Heute würde mich interessieren, wann genau ich diese Aufnahme gemacht habe, zu welcher Jahreszeit das war. Weil, wenn es nicht im Herbst oder Winter war, dann wäre das kein englischer Apfel gewesen, sondern vielleicht einer aus Südafrika. Der war dann lange im Flugzeug, er hat wahrscheinlich keine so knusprige Oberfläche wie ein Saisonapfel und das beeinflusst den Klang beim Reinbeissen.
Aber beeinflusst so etwas auch den Hörer, der sich am Ende dieses Sample anhört?
Herbert: Es beeinflusst zunächst einmal die Person, die in den Apfel beißt, die den Sound produziert. Und diese Person hat damit das Potenzial, den Hörer zu beeinflussen. Wenn jemand nicht den Unterschied zwischen zehn verschiedenen Apfelsorten hören kann, dann liegt das ja nur daran, dass derjenige das vorher noch nie gemacht hat. Aber nach ein paar Versuchen klappt es vielleicht. Ich kann da jedenfalls definitiv Unterschiede hören, abhängig davon, zu welcher Jahreszeit so ein Apfel gekauft wurde. Da klingen die Äpfel wirklich sehr unterschiedlich.
Ich versuche mit meiner Musik ja auch ein bisschen, die Leute zu erziehen. Auf meinem Album „Plat du jour“ haben wir zum Beispiel einen Track mit Weißbrot und Schwarzbrot gemacht. Und in dem Schwarzbrot war so viel Pflanzenfett verarbeitet, damit es lange haltbar ist – das hat sich im Toaster quasi von selbst frittiert. Das Weißbrot dagegen war sehr trocken und klang sehr hart. Und da fordere ich die Leute auf, über die Sounds und die Unterschiede nachzudenken.
Allerdings haben Sie zu „Plat du Jour“ auch eine Website ins Netz gestellt, wo Sie genau erklärt haben, was und warum Sie gesamplet haben. Hätte die Platte Ihrer Ansicht nach auch ohne diese Anleitungen ‚funktioniert’?
Herbert: Ich denke schon. Aber die Leute sind sehr faul und wollen immer sofort wissen, was das für Klänge sind, die ich da verwende. Wir sind ja auch immer noch am Anfang, was die Verwendung von Geräuschen in der Musik angeht. Aber man muss sich nur fragen: Würde jemand eine E-Gitarre erkennen, wenn er noch nie vorher eine E-Gitarre gehört hat?
Für einen Track auf „Plat du Jour“ haben Sie damals jenes Essen nachgekocht, mit dem sich US-Präsident Bush bei Tony Blair für das Engagement im Irak-Krieg bedankt hat. Sie haben das Gedeck dann auf ein Feld gestellt und sind mit einem Panzer drüber gefahren. Ging es da noch um Sample-Kunst oder einfach nur um Aggression?
Herbert: Es ist natürlich ein sehr komisches Bild, wenn jemand mit einem Panzer über so ein Essen drüberfährt. Aber es ist auch ein sehr elementares Bild, insofern, als dass unser Essen voll von Gewalt ist, historischer sowie gegenwärtiger Gewalt. Und ich habe kein besseres Bild gefunden, mit dem ich hätte darauf hinweisen können. Es geht darum, die Leute zum Fragen anzuregen, dass sie sich noch mehr mit einer Sache auseinandersetzen – das ist meine Absicht.
Gab es ähnliche Vorgehensweisen bei der Produktion ihres neuen Albums „Scale“?
Herbert: Ja, in einem Song spielt unser Drummer ein ganz normales Standard-Pattern und ich habe mich dann gefragt: was passiert, wenn er das Gleiche auf den Rücksitz meines Autos spielt, bei 100 Meilen pro Stunde. Er hätte dabei sterben können, schließlich ist das ein 25 Jahre alter BMW, außerdem war die Sache illegal. Mich hat interessiert, wie das den Klang verändert. Man könnte auch genauso fragen, was passiert, wenn man die Drums draußen vor einem Kernreaktor einspielt, würde der Drummer etwas anders machen? Mich interessiert diese Politik des Aufnahmeprozess.
Ist es auch die Herausforderung, die Sie reizt, aus eher musikfremden Geräuschen und Samples einen guten Track zu machen?
Herbert: Sicher. Das war vor allem bei „Plat du Jour“ ein wichtiger Aspekt, Timbres und Klangoberflächen zu schaffen aus Geräuschen, die an sich sehr hart sind. Da gab es nichts Glattes, nichts Ruhiges oder Schönklingendes. Das war auch klar, weil wir haben ja zum großen Teil Müll verwendet, Coladosen, Plastikflaschen etc … Aber das ist eben auch Teil dieser Politik, aus diesen Dingen Musik zu machen. Wir benutzen diese Dinge nicht nur zum Essen oder Wegwerfen, sondern wir machen daraus Musik.
Kommt es da auch vor, dass Sie einen Gegenstand verwenden wollen, aber am Ende feststellen: den kann man unmöglich aufnehmen?
Herbert: Nein. Alles ist möglich, du musst nur hart genug überlegen. Zum Beispiel hatten wir bei „Scale“ so einen Meteoriten, einen großen Klumpen Metall, wo ich mich gefragt habe: wie lässt sich der Fakt vermitteln, dass wir diese Aufnahme heute machen, der Meteorit aber sozusagen aus der Urzeit stammt?
Ich habe dann eine aktuelle Tageszeitung genommen, den Meteorit darauf fallen lassen und den Klang des Aufpralls haben wir dann verwendet. Und der hängt natürlich davon ab, was für eine Zeitung es ist, ob es eine Sonntagszeitung ist, ob es einen großen Sportteil gibt, oder ob gerade Montag ist, weil da gibt es bei uns dann immer eine Job-Beilage… Da gibt es also klangliche Unterschiede und damit kannst du Musik machen. Was aber nicht automatisch heißt, dass es immer gleich nach schöner Musik klingt.
Ich meine, zum Beispiel der Klang eines Klaviers ist einfach fantastisch, all diese Möglichkeiten, diese Harmonien, dieses Instrument wurde über viele Jahre verbessert und es ist vielen Leuten so vertraut. Damit kann man natürlich einen Meteoriten nicht vergleichen.
Sie haben schon von Ihrem Anliegen gesprochen, Ihre Hörer ein Stück weit zu erziehen. Was aber, wenn einmal jemand ihr Album nur als Hintergrundmusik benutzt?
Herbert: Dann ist das ok. Zu aller erst ist es ja Musik und wenn ich es einmal veröffentliche, dann habe ich kein Kontrolle mehr darüber. Ich versuche, bei der Produktion bis zum letzten Moment die Kontrolle zu behalten, bis ich es dann dem Hörer übergebe. Und dann könnte ein Album von mir auch die Lieblingsplatte von George Bush werden, oder die Soldaten im Irak könnten es sich bei Schießübungen anhören. Sobald es öffentlich ist, hast du keine Kontrolle mehr darüber. Wobei ich bei „Plat du Jour“ vielleicht schon etwas enttäuscht gewesen wäre, wenn die Leute es nur als Hintergrundmusik verwendet hätten. Weil das ist wirklich keine Musik für Dinner-Partys.
Ihr neues Album scheint dagegen leichter konsumierbar.
Herbert: Ja, das ist ein bisschen freizügiger geworden, es klingt für die Leute sicher etwas vertrauter und angenehmer. Das habe ich auch bewusst so gemacht. Und ich habe da auch gar keine Vorschriften, wie man diese Platte hören soll. Das ist wie mit einer U-Bahn, aus der du aussteigen kannst, wo immer du willst. Allerdings, wenn du bis zur Endstation fährst, wirst du vielleicht entdecken, dass die Stadt aus Schokolade gemacht ist und alle Dächer aus Käse sind.
Ziehen Sie heute eine Grenze zwischen Ihrer Sampling-Musik und der Arbeit mit richtigen Instrumenten?
Herbert: In gewisser Weise schon, wobei es aber eine Gemeinsamkeit gibt, die man nicht vergessen sollte: jedes meiner Samples ist mit dem Mikrofon aufgenommen, und wenn ich andererseits eine BigBand aufnehme oder einzelne Instrumente, dann geschieht das ja auch mit Mikrofonen. Es ist also immer Luft mit im Spiel, zwischen den Mikrofonen und den Objekten, da ist Luft, da ist Atmosphäre.
Vielleicht ist das ja eines der Geheimnisse hinter dem ganz bestimmten Matthew Herbert Sound.
Herbert: Ja, vielleicht. Es ist eben überall Luft mit drin.
Wie ist das mit den Musikern, mit denen Sie zusammenarbeiten: wie reagieren die auf Ihre Sample-Arbeit, wenn Sie plötzlich mit einer Chipstüte oder einer Scheibe Schwarzbrot Musik machen, halten die Sie nicht manchmal für verrückt?
Herbert: Also, das schwankt insgesamt zwischen sehr ernster und sehr lustiger Arbeit. Als wir „Plat du Jour“ gemacht haben, da gab es Proben, bei den klang es dann ungefähr so: „Wo sind die Gurken, wer hat die Gurken… Mist, die Gurken klingen nicht… und wo sind die Rice Crispies… kann jetzt mal jemand die Milch spielen“ – das war zum Teil alles sehr albern.
Und Sie haben auch gelacht?
Herbert: Ja, klar. Das hat ja auch viel mit Spaß zu tun. Es ist doch lustig, mit Äpfeln Musik zu machen, oder mit Meteoriten. Oder mit Särgen.
Ich frage nur, weil ich glaube, dass viele Leute von Ihnen das Bild eines sehr ernsten, verbissenen Musikers haben.
Herbert: Also, mir ist es wichtig, dass sich mit meiner Musik zwei Dinge verbinden: zum einen ist es meine Ambition, politisch zu sein, zu kritisieren, was passiert. Zum anderen sollte die Musik auch etwas Positives sein, sie sollte eine Alternative anbieten. Zum Beispiel die Idee aus Müll Musik zu machen – das ist Spaß, das ist befreiend und ich sehe das als einen positiven Beitrag. Ich muss aber auch sagen: egal wie wichtig manche Leute vielleicht eine CD von mir finden, die Geschichten dahinter sind viel wichtiger. Da geht es um Tod, um Menschen die hungern und Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Das sind alles sehr ernste Geschichten und die sind viel wichtiger als ich und meine Musik. Ich selbst habe ja ein fantastisches Leben, ich befinde mich in einer sehr privilegierten Position, ich kann machen, was ich will, werde dafür bezahlt, ich kann viel reisen …
…. allerdings nur mit dem Bus.
Herbert: Und mit dem Zug.
Gilt das Flugverbot, dass Sie sich nach der Arbeit an „Plat du Jour“ selbst auferlegt haben bis heute?
Herbert: Ja, ich bin heute zum Beispiel mit dem Zug nach Berlin gekommen. Allerdings habe ich damals auch festgelegt, dass ich mir weiterhin erlaube, in die zu USA fliegen, weil ich dort Familie habe, sowie einen Flug nach Japan pro Jahr.
Was ist mit dem Schiff?
Herbert: Das Problem ist, dass ich kein sehr guter Segler bin. Ich wollte dann einmal mit dem Schiff in die USA zu fahren, aber die „Queen Mary“ ist nicht zu der Zeit rüber gefahren, als ich dorthin musste. Ansonsten gibt es auf der Route nur Frachtschiffe.
Die wären bestimmt interessant fürs Sampling.
Herbert: Sicher. Aber die Queen Mary braucht für die Strecke 6 Tage, während die Frachtschiffe 2 Wochen brauchen.
Mr. Herbert, unsere Schlussfrage lautet: Das Leben ist ein Comic – welche Figur sind Sie?
Herbert: Hmm…. ich wäre vielleicht Lisa Simpson, die mit dem Saxofon. Weil… – ach sie ist einfach feige.