Paul, wie viel Techno hörst du eigentlich privat?
Paul van Dyk: Ich höre bestimmt zu 95 Prozent elektronische Musik. In allen Facetten, von kräftig auf die Mütz’ bis auch mal entspannt.
Wie viele neue Tracks kommen pro Woche dazu?
van Dyk: Etwa vier Gigabyte, also bestimmt 500-600 Tracks. Das ist das Gute an der Technologie, in Zeiten von Schallplatten wäre das kaum möglich gewesen. Heute kommt hier wirklich massenhaft Musik an. Das wird dann vorsortiert und ich kriege jede Woche meine Festplatte mit drei Ordnern „Radio“, „Maybe“ und „Wichtig“.
Und das heißt?
van Dyk: Die Radiosachen sind geile Tracks, passen aber nicht unbedingt in mein DJ-Set, bei „Maybe“ waren sich meine Mitarbeiterinnen nicht sicher, ob das jetzt cool oder einfach schlecht ist und bei „wichtig“ sind die Sachen drin, wo klar ist: Das ist auf den Punkt, das ist geil, das muss ich spielen. Das wird dann entsprechend durchgehört, da bin ich auch sehr erfahren. Man hört schnell ob ein Track einfach ein Abklatsch von anderen Platten, oder ob er wirklich neu und interessant ist.
Inwiefern hat sich die Szene durch die Digitalisierung verändert?
van Dyk: Es ist intensiver geworden und wesentlich schneller. Dass sich ein Track erst über Monate entwickelt und dann ist er plötzlich da – das gibt es eigentlich nicht mehr. Heute schickst du deinen Track zum Beispiel über Social Networks an deinen Lieblings-DJ und wenn der den toll findet und spielt, dann geht es schon mal los. Wenn du es dann noch schaffst, deinen Track in der Top-Liga der DJs unterzubringen, dann hast du das Ding innerhalb eines Monats einmal um den Globus gespielt. Es geht sehr schnell, weil alle miteinander kommunizieren und verlinkt sind. Allerdings kann es auch sein, dass ein Song nach nur drei, vier Wochen auch schon wieder weg ist.
Wird heute viel Ausschuss produziert?
van Dyk: Ich glaube, das Volumen ist insgesamt angestiegen, sowohl der Scheiß, der gemacht wird als auch die guten Sachen.
Bis wann hast du noch mit Vinyl aufgelegt?
van Dyk: Bis 2002. Ich habe in dem Moment gesehen, dass es technische Möglichkeiten gab, mit denen ich auf der Bühne beide Seiten meiner Leidenschaft verbinden konnte: das DJing und das Musikproduzieren. So kam es auch zu dem Setup wie ich es jetzt habe, mit den Keyboards, Mixer, Controller, Computer und den Programmen Ableton und Mainstage.
Wie viel Jahre gibst du dem Medium Vinyl noch?
van Dyk: Das besteht in der elektronischen Musik munter weiter. Vor allem bei Minimal-Techno bietet es sich an, das läuft und läuft, man kann andere Elemente einfügen…
Aber von den großen internationalen DJs sieht man kaum noch einen mit Vinyl auflegen.
van Dyk: Sicher, da wird es weniger, aber ich denke, es hat sich inzwischen auf einem Level eingepegelt, wo es nicht mehr weniger werden wird. Die Leute, die das Gefühl haben, dass sie sich damit musikalisch besser ausdrücken können, werden das auch weiterhin benutzen.
Aufgrund der globalen Vernetzung ist es heute eigentlich wurst, ob ich einen Track in Berlin, Wanne-Eickel oder Kalkutta produziere.
Doch die neue Technik hat dem alten Medium doch längst den Rang abgelaufen.
van Dyk: Es gibt aber immer noch viele DJs, denen ist es genug, einen fertigen Track in den nächsten fertigen Track zu mixen.
Wenn ich jetzt zurückdenke, frage ich mich natürlich auch: Was habe ich eigentlich die acht Minuten lang gemacht? Ich war schon immer sehr gut im Beat-Matching, ich konnte also die Geschwindigkeit relativ schnell angleichen – und dann lief der Track da acht Minuten. Mein Gott! Ich habe ja auch nicht mal geraucht zwischendurch. Heute bin ich permanent am machen und tun, das ist ein kontinuierlicher Musikkreationsprozess, währenddessen man noch die Leute beobachtet und darauf reagiert. Ich bin in der Lage einen Track, der als Mega-Trance-Anthem mit Vollgas angelegt ist, so zu drehen, dass es letztendlich eine coole Progressive-House Nummer ist. Ich kann eine groovigere Bassline nehmen, andere Drums, die Struktur verändern, so dass derselbe Track ganz anders daherkommt und viel besser zur Situation passt.
Wie viel von den wöchentlich 600 neuen Tracks kommen aus Berlin?
van Dyk: Das weiß ich nicht.
Gibt es einen Berlin-Sound?
van Dyk: Im Moment findet hier sicherlich so viel Minimal statt wie nirgendwo anders, allerdings wäre es ein Missverständnis, wenn man das als Berliner Erfindung bezeichnen würde. Da würde man anderen Entwicklungen, die zum Beispiel aus Italien, Frankreich oder den USA kamen, zu wenig Rechnung tragen.
Ich glaube, was Berlin auszeichnet, ist, dass es hier immer Individualisten gab, die einfach ihr Ding gemacht haben und das eben auch sehr konsequent.
Ist Berlin noch Techno-Hauptstadt?
van Dyk: Aufgrund der globalen Vernetzung ist es heute eigentlich wurst, ob ich einen Track in Berlin, Wanne-Eickel oder Kalkutta produziere. Insofern gibt es diese Hauptstadt nicht mehr. Was Berlin aber ganz klar hat ist ein unglaubliches Kreativzentrum. Wenn man das einmal zur Einwohnerzahl ins Verhältnis setzt, wie viel Kreativität es in der Stadt gibt – das ist einmalig. Nur muss Berlin auch aufpassen, dass es dieses Standing nicht verliert. Dafür müssen wir unser Know-How und unsere Energie auch ein Stückweit konzentrieren, in der Präsentation und Aufstellung. Deswegen bin ich auch ein totaler Befürworter der Berlin Music Week, weil es genau das ist: Interessen und Engagement bündeln. Zu sagen: Here we are, wir sind die kreativste Stadt der Welt, wir gehen nach vorn, und wir präsentieren all diese unterschiedlichen Facetten. Auch der Politik muss man das sagen: Wir sind ein Wirtschaftsfaktor, eine ganze Menge Leute kommt deswegen nach Berlin, bitte schafft also auch die entsprechenden Freiräume dafür.
Ist dein Sound von Berlin inspiriert?
van Dyk: Ich glaube, dass selbst bei meiner glattgebügeltsten poppigsten Produktion immer noch die Berliner Rotzigkeit durchkommt. Ich bin in Ostberlin groß geworden, habe Westberliner Radio gehört, die ersten Gehversuche elektronischer Musik mitbekommen, bin dann in die Clubs und habe da dieses Raue, das Berlin ausmacht, auch erlebt. Das heißt, selbst, wenn ich einen Popsong schreibe, hat der immer noch dieses anrüchig Dreckige von den Berliner Clubs in sich.
Wo sich früher der Techno-Club Ostgut befand, steht heute die O2-World. Passt die dort hin?
van Dyk: Städteplanerisch oder in architektonischer Hinsicht werde ich mich dazu nicht äußern. Ich kann nur sagen, dass dort die modernste Veranstaltungsarena Europas steht. Und für mich hat elektronische Musik immer etwas damit zu tun, dass man die Grenzen erweitert –und das nicht nur im kreativen Bereich, sondern auch im Benutzen der neuesten Technologie, um diese Musik noch intensiver präsentieren zu können. Dafür bietet diese Halle Möglichkeiten wie keine andere in Europa, es wäre einfach ein sträfliches Versäumnis, diese nicht zu nutzen.
Mit „We are One“ gibt es nun wieder eine Techno-Großveranstaltung in Berlin. Könnte es nicht aber sein, dass nach dem tragischen Ende der Loveparade Massenraves an Attraktivität verlieren?
van Dyk: Das glaube ich nicht. Denn eine Woche später fand mit „Nature One“ in Deutschland eine der besten Großveranstaltungen in Europa statt, mit unglaublich viel Publikum, die war sicher aufgezogen, fantastisch gemacht, weil die Leute dort eben auch das Know-How haben.
Und zur Love Parade muss man sagen, dass die in den letzten Jahren ohnehin nicht mehr die Akzeptanz in der Szene hatte wie früher, auch weil die Leute einschätzen können, dass eine Fitnesskette nicht das Know-How hat, so ein Event zu machen, schon gar nicht einmal im Jahr an unterschiedlichen Orten. Ich denke, dass die Ereignisse von Duisburg vor allem auf politischer Ebene Konsequenzen haben sollten. Denn ich habe in meinen 19 DJ-Jahren weder so rücksichtslose Veranstalter erlebt, die ihr Publikum in solch eine Gefahrensituation gebracht hätten, noch Behörden, die so klar weggesehen haben.
Übrigens, ein aktuelles Video-Interview mit Paul van Dyk findet ihr auf der Internetseite von SPIESSER.