Jürgen Vogel

Am Ende bleibe ich ein ganz normaler Hosenscheißer.

Jürgen Vogel über seinen Film „Der freie Wille“, Männerprobleme und explizite Darstellungen vor der Kamera

Jürgen Vogel

© Kinowelt

Jürgen, wenn man einen Film ins Kino bringt, gibt man als Schauspieler im Vorfeld immer eine Vielzahl von Interviews. Ist das bei einem Film wie „Der Freie Wille“ eine besonders schwierige Angelegenheit?
Vogel: Ja, das ist schwierig. Ich glaube, auch als Fragesteller versucht man das irgendwie zu begreifen und in Worte zu fassen. Aber man bleibt an der Oberfläche, weil die wichtigen Fragen vom Film selbst aufgeworfen werden und auch durch den Film beantwortet werden können, für jeden einzelnen Zuschauer.
Wenn ich über den Film spreche, fange ich an, Dinge zu erklären, die ich durch mein Schauspiel in dem Film ausdrücke. Ich fange dann an, das mit Worten zu interpretieren. Und genau das will ich eigentlich nicht.

Wie schwer war es denn überhaupt für dich, diesen Film zu drehen? Hat er dir viel abverlangt?
Vogel: Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik im Film war schwierig und ich bin froh, dass wir trotz dieser großen Schwierigkeiten den Film gedreht haben.
Wir machen es dem Zuschauer nicht einfach. Der Täter im Film ist ein Mensch und ich möchte, dass der Zuschauer diese Tatsache akzeptiert. Dabei biedern wir die Täterfigur nicht an, wir stellen den Theo nicht nett und sympathisch dar, sondern ich spiele den ihn einfach nur, wie er ist. Der Zuschauer ist dabei, der muss da mitgehen. Und wenn uns das gelungen ist, den als Mensch darzustellen, dann ist das eigentlich viel wichtiger als die Frage, was mir der Film abverlangt hat. Natürlich war es schwierig – total schwierig. Wir haben den Film chronologisch gedreht und da konnte man gar nicht abschätzen, wo das persönlich hinführt. Wir mussten die Dinge auf uns zukommen lassen.

Und du musstest dich der Person Theo immer weiter nähern.
Vogel: Ja. Ich war mir sicher, wenn ich mit der Figur während der Dreharbeiten viel Zeit verbringe, sehe ich ihn selbst als erstes als Mensch. Normalerweise sieht man in dem Vergewaltiger nicht den Mensch, sondern nur das Monster, den Vergewaltiger. Sie sind für uns nicht menschlich, weil wir keine Zeit mit ihnen verbringen. Es gibt keine Berührungspunkte außer der Schlagzeilen in der Boulevard-Zeitung. Es gibt höchstens noch einige Bücher und wissenschaftliche Arbeiten über Vergewaltigungs-Täter von Gerichtsgutachtern oder Psychologen. Dieses Material beschäftigt sich mit der Frage, wie es dazu kommt und wie man das verhindern kann. Das ist letztendlich auch der Antrieb und die Motivation der behandelnden Therapeuten: diese Taten sollen verhindert werden. Dazu müssen wir aber auch wissen: Wie entsteht so etwas? Und es geht auch darum, wie man den Tätern helfen kann, da wieder rauszukommen.

Werden solche Fragen von der Gesellschaft zu wenig behandelt?
Vogel: Wir machen es uns zumindest immer sehr einfach, so wie wir die Tür zum Keller zuknallen und sagen „Das ist der Keller, da hab ich nichts mit zu tun.“ Theo ist aber ein Mensch, dadurch gibt es Berührungspunkte. Einsamkeit, die Suche nach Männlichkeit, Positionierung in der Gesellschaft, die nicht vorhandene Möglichkeit zu kommunizieren mit dem anderen Geschlecht. Das sind alles Probleme, die viele Menschen haben.

Diese Probleme haben Männer.
Vogel: Ja. Es gibt in dem Film aber auch eine Frauengeschichte. Aus Gesprächen mit Zuschauern weiß ich, dass die Bindungsprobleme zum Vater und die Ablöseproblematik der weiblichen Figur viele Frauen berührt. Der Film lässt sich auch auf die weibliche Seite ein.

Bist du als Mann dem Vergewaltiger Theo näher?
Vogel: Definitiv, ja. Männer vergewaltigen. Es gibt nur sehr seltene Fälle von Missbrauch durch Frauen.

Wenn dich jemand fragt, warum er sich diesen Film anschauen sollte – was antwortest du?
Vogel: Es gibt kein „soll“. Es gibt viele Leute, die sich für dieses Thema interessieren, die mehr wissen wollen, als aus den Kurzberichten der Nachrichten über Vergewaltigungen zu erfahren ist. Es ist das Bedürfnis, eine Welt zu sehen, die ich nicht kenne – das ist die Geschichte von Kino. Aber es ist nie ein „muss“ oder „soll“ dahinter. In der Kunst, Musik und auch in der Filmkunst befasst sich der Mensch eben auch mit Dingen, die mit dem Kellersystem zu tun haben. Und bei diesem Film hat man die Möglichkeit, sich mit einer Figur zu beschäftigen, die man sonst nur in den Keller sperrt.

Der Film verlangt auch vom Zuschauer viel. Was glaubst du, wie Betroffene reagieren – also Täter und Opfer?
Vogel: Das weiß ich nicht.

Es gibt noch keine Reaktionen?
Vogel: Doch, doch. Sehr unterschiedliche. Von Tätern weiß ich es aber nicht, weil die sich nicht als Täter und gleichzeitig als Zuschauer für mich zu erkennen geben. Und von Frauen habe ich unerwartet positive Reaktionen bekommen. Man hat ein bisschen das Gefühl, dass eine „Entmystifizierung“ stattgefunden hat. Also, dass das Monster sich vermenschlicht hat und dadurch greifbarer wird. Der Täter ist nicht mehr nur ein Monster, das aus dem Nichts auftaucht.
Eine Therapeutin für Sexualopfer zum Beispiel wollte den Film eigentlich nicht sehen. Sie ist mit ihrer Arbeit für die Opfer da und wollte sich mit der Täterseite nicht auseinandersetzen. Sie ist also mit einer ablehnenden Haltung in die Filmvorführung gegangen. Nachher sagte sie, dass sie froh ist, den Film gesehen zu haben, weil er ihr bei ihrer Arbeit helfen würde.
Die Reaktionen sind eben sehr unterschiedlich, je nachdem, welche Erfahrungen man gemacht hat und wie weit man selber ist. Ich habe viele Menschen gesprochen, die Angst hatten, den Film zu sehen. Aber danach meinten alle, dass ihnen der Film irgendwie wichtig ist – aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Ist der Film massentauglich?
Vogel: Keine Ahnung. Wir wurden immer wieder gefragt „Warum habt ihr diesen Film gemacht?“ Und dann fragen wir zurück, „Warum seid ihr hier?“ Das ist denke ich die Antwort auf die Massentauglichkeit. Es gibt ein großes Interesse an dieser Thematik.
Wir alle haben manchmal Schuldgefühle, zumindest geht es mir so. Wenn ich von derartigen Verbrechen lese, dann fühle ich mich ein wenig schuldig, weil ich ein Mann bin.

Inwiefern hat der Film dann für dich das eigene „Mann sein“ infrage gestellt?
Vogel: Ich stelle das eigene Mann sein sowieso in Frage. (lacht)
Die Frage ist doch: Sind wir Männer so, weil wir so sein wollen oder weil uns die Frauen so haben wollen? Definiert man sich dadurch, dass man weiß, wie man sein will oder definiert man sich dadurch, dass man ein Spiegelbild dessen sein möchte, was die Frau von einem erwartet? Das Mann sein ist permanent in Frage gestellt. Auch wenn das nicht so aussieht in der Gesellschaft, weil wir immer so tun als wäre unser Rollenbild klar definiert.

Wenn man sich mit so einer Figur wie dem Theo beschäftigt: Was sucht man in sich, was findet man?
Vogel: Da gibt es das Beispiel in der Disko, das kennt fast jeder Mann. Jeder Mann will Anerkennung, durch Sex zum Beispiel. Dadurch, dass man begehrt wird. In der Disko will man jemanden ansprechen, flirten und schließlich mit der Frau ins Bett gehen. Das ist der Grund, warum wir in solche Clubs gehen. Wir wollen keine inhaltsreichen Gespräche führen, sondern den schnellen Sex, das sag ich jetzt mal bewusst übertrieben. Natürlich gibt es auch andere Männer, aber die gehen dann nicht unbedingt in die Disko.
Auch im Sport drückt sich das aus. Die Szenen im Film, wo Theo sich mit quälerischen Übungen in seinem WG-Zimmer trainiert – er sucht sich als Mann. Oder die Kommunikationsprobleme zwischen Männern und Frauen, zwei Welten, die aufeinander treffen und sich nicht verstehen – diese Probleme kennt jeder. Und Theo, mit seiner gestörten Sexualität, zeigen wir im Film zum Beispiel neben einem Werbeplakat mit einer attraktiven Frau. Die Werbung vermittelt heute überall die Botschaft, dass wir alles immer haben können. Es gibt aber viele Leute wie Theo, die an dieser Freizügigkeit nicht teilnehmen können, weil sie selber entweder völlig unattraktiv sind, oder sie gar nicht die Möglichkeit haben, den notwendigen Kontakt zum anderen Geschlecht aufzubauen. Darunter leiden sehr viele Männer und der Film versucht das Gefühl zu vermitteln, wie es sich anfühlt in einer solchen Situation zu sein.

Wie bereitet man sich auf so einen Film vor, speziell was die Darstellung dieser seelischen Abgründe anbelangt?
Vogel: Wir haben lange über den Stoff geredet, lange über die Figuren nachgedacht und recherchiert. Ich habe Psychiater, Täter aber auch Opfer getroffen und mit denen gesprochen – das war die Vorbereitung auf diese Rolle.

In dem Film werden viele Nacktszenen gezeigt, die Vergewaltigungen ohne Schnitt, Selbstbefriedigung – wie bereitet man sich auf den Dreh solcher Szenen vor?
Vogel: Gar nicht. Ich gehe mal davon aus, das wir Männer jeden zweiten Tag onanieren, wenn wir keine Frauen haben. Warum sollte ich jetzt so tun, als wenn ich mich dafür wahnsinnig vorbereiten muss?

Aufgrund der Tatsache, dass dieses Tun von Kameras gefilmt wird. Sind da nicht eine gewisse Verdrängung oder andere geistige Strategien notwendig, um sich vor der Kamera derart zu entblößen?
Vogel: Die Frage stellt sich bei mir nicht mehr. Es gibt so viele Formen von Nacktheit – körperliche aber auch seelische, wenn ich im Film weine zum Beispiel.
Bei diesem Film war die körperliche und seelische Nacktheit verworren. Das macht den Film schon besonders, aber das ist mein Job. Ich habe akzeptiert, das ich dieses Talent habe zu schauspielern. Und wenn ich mich für bestimmte Rollen entscheide, dann denke ich nicht mehr darüber nach, wie sehr ich mich dafür entblößen muss.

Aber bei einer Darstellung einer Vergewaltigung – ist man da selbst nicht auch angeekelt?
Vogel: Das kann sein, aber ich finde es eitel darüber zu sprechen. Meine persönliche Befindlichkeit ist uninteressant im Gegensatz zu den Problemen der Figur Theo im Film. So was interessiert mich auch bei Kollegen nicht, die schwierige Rollen spielen. Ich bin Schauspieler, es ist mein Beruf, damit fertig zu werden.

Wie war denn beim Dreh die Stimmung im Team allgemein?
Vogel: Wir haben eine gute Zeit gehabt. Wir haben viel gelacht und viel gefeiert – trotzdem. Viele Betten sind kaputt gegangen, weil wir Luftgitarre darauf gespielt haben. Wir hatten ein Team, dass sehr familiär war und wir haben am Abend immer über Dinge, die uns bewegten, gesprochen. Jeder im Team hatte einen bestimmten Grund, warum er diesen Film gemacht hat. Und wir waren nicht der Regisseur und der Produzent und die Schauspieler, nicht jeder einzeln für sich, sondern wir waren eine Gruppe von Menschen, die einen Film gedreht haben. Nicht distanziert und mit viel Humor.

Noch einmal zu deiner Entscheidung, diesen Film zu machen: Melden sich da nicht auch Bedenken, dass in der öffentlichen Wahrnehmung an der Person Jürgen Vogel irgendetwas von dem Theo Stoer hängen bleibt?
Vogel: Mir ist dieses Problem bewusst, aber Angst habe ich nicht davor. Mich motiviert das eher.
Es gibt Schauspieler, die sich persönlich damit aufwerten wollen, in dem sie einen Akademiker oder den guten Polizist spielen wollen. Zu diesen Schauspielern gehöre ich nicht. Ich will nichts Besonderes sein. Ich fühle mich durch meinen Beruf als Schauspieler auch nicht als besserer Mensch. Als Maler und Lackierer zum Beispiel wäre ich genauso glücklich wie heute als Schauspieler. Manchmal bin ich vielleicht etwas kompliziert in den Dingen, die ich will – aber ich bleibe am Ende ein ganz normaler Hosenscheißer.
Diese gesellschaftlichen Unterschiede haben mich nie interessiert. Mir fehlt auch der Respekt gegenüber denen, die in der Gesellschaft eine besondere Position haben. Das ist für mich erst mal gar nichts. Für mich zählt bei einer Begegnung, ob mein Gegenüber als Mensch gerade ist oder nicht.

Gibt es eigentlich eine Art Masterplan in der Karriere des Jürgen Vogel oder stolperst du von Projekt zu Projekt?
Vogel: Man kann das überhaupt nicht planen. Es passiert halt. Man beschäftigt sich mit verschiedenen Themen und plötzlich ist man bei so einer Figur und dann geht das los und du kommst da nicht mehr von weg. Das kommt ganz von allein.

Du hast in „Der Freie Wille“ nicht nur als Schauspieler mitgewirkt, sondern du hast auch das Drehbuch mitgeschrieben und produziert.
Vogel: Produzieren bedeutet, den größtmöglichen Einfluss auf den Film zu haben. Viele Projekte entwickeln sich schnell zu einem Kompromissbrei. Wenn wir selbst produzieren können wir konsequent unsere Ziele verfolgen. Wir – das heißt der Regisseur Matthias Glasner und ich – haben dadurch viel Freiheit und viel Verantwortung für unser Projekt.

Der Film hat Preise gewonnen: Bei der Berlinale 2006 gab es einen Silbernen Bären, beim Tribeca Filmfestival in New York wurdest du als bester Schauspieler ausgezeichnet. Welchen Stellenwert haben die Preise?
Vogel: Das ist sehr wichtig. Mir ist der Film wichtig. Ich bin nicht nur ein Schauspieler, sondern auch Produzent des Films. Es ist mir wichtig, dass der Film ins Kino kommt, und dafür sind die Preise sehr hilfreich. Preise machen manche Sachen einfacher. Der deutsche Film will Anerkennung im Ausland und durch Preise bekommen wir die.

Ist das alles oder ist da auch Freude über die Preise?
Vogel: Ich freue mich wahnsinnig über die Preise. Auch weil ich weiß, dass es nicht so ist, dass ich einen Preis erhalten habe, nur damit der Jürgen Vogel auch mal ausgezeichnet wird. Bei der Berlinale ist die Jury international, da weiß ich, die kennen mich gar nicht, die kennen nur diesen Film. Und wenn die dich auszeichnen ist das schön.

Und zum Schluss eine Selbsteinschätzung: Ist „Der Freie Wille“ gelungen?
Vogel: (denkt nach) Ja. Der Film ist gelungen. Er berührt die Menschen. Es gibt Filme zur Unterhaltung mit einem großen, bunten Nichts und nach drei Stunden hast du alles vergessen. Solche Filme muss es auch geben. „Der freie Wille“ aber soll die Menschen berühren – und ich denke, das haben wir erreicht.

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