Frau Zimmermann, im Unterschied zu den meisten anderen heute bekannten Bratscherinnen und Bratschern kommen Sie nicht von der Geige sondern haben Ihre Ausbildung im Alter von drei Jahren gleich mit der Bratsche begonnen. Wie kam das?
Zimmermann: Das war bei uns in der Familie begründet, ich war das vierte Kind und meine Geschwister spielten bereits Klavier, Geige und Cello. Jeder hatte sein Revier und ich wollte da meinen Geschwistern nicht in die Quere kommen, nicht die gleichen Stücke spielen. Wobei man sagen muss, dass sich eine kleine Bratsche nicht wirklich von einer kleinen Geige unterscheidet. Mein Lehrer hat mich rein technisch betrachtet auch wie einen Geiger behandelt, ich habe alles gelernt, was die Geiger auch gelernt haben. Trotzdem hatte ich die Illusion, dass ich etwas ganz Anderes mache, um mich von meiner Schwester abzugrenzen.
Können Sie sich denn noch an die Zeit erinnern, als Sie mit drei anfingen?
Zimmermann: Ich könnte jetzt nicht sagen, was wirklich Erinnerung ist und was ich durch Erzählungen und Fotos von damals weiß. Vom dritten bis zum 13. Lebensjahr war ich bei meinem ersten Lehrer, das war eine sehr prägende Zeit: Ich hatte drei mal pro Woche Unterricht, wir haben Kammermusik gemacht, im Orchester zusammengespielt, ich hatte ein Streichquartett und ein Trio mit meinen Schwestern.
Wahrscheinlich war es auch mein Glück, dass ich die Jüngste war und mir so schon ganz viel abgucken konnte, zum Beispiel wie das Üben abläuft. Oder mein absolutes Gehör – meine These ist ja, dass dies bei jüngeren Geschwistern viel öfter vorkommt als bei den älteren.
Warum das?
Zimmermann: Weil man als jüngeres Geschwisterkind eben in einem Umfeld aufwächst, das die älteren nicht haben. Als ich geboren wurde haben meine Geschwister schon gespielt und dieses Töne-Produzieren und beim Namen nennen, das habe ich wirklich mit der Muttermilch aufgesogen. Es gibt ja Untersuchungen, wonach das absolute Gehör eigentlich jedem angeboren ist, wir es aber oft gar nicht mehr gebrauchen.
Die Chinesen brauchen es für die Sprache, weil dort die Tonhöhe Einfluss auf die Bedeutung eines Wortes hat, bei uns kommt es aber wohl nur dann zur Ausbildung des absoluten Gehörs, wenn es früh genug erhalten wird.
Was vermuten Sie, wie viel Prozent der Geiger und Bratscher haben ein absolutes Gehör?
Zimmermann: Ich denke es sind wenige, vielleicht fünf bis zehn Prozent, gesicherte Zahlen kenne ich aber keine.
Welche Vorteile bringt das absolute Gehör mit sich?
Zimmermann: Es hilft mir ungemein in der Vorstellung: Wenn ich Noten lese, kann ich mir die Musik vorstellen, ohne dafür mein Instrument auspacken oder ans Klavier gehen zu müssen. Das ist eine sehr angenehme Erleichterung, besonders beim Erlernen von zeitgenössischen Partituren. Natürlich lässt sich der Tonabstand genauso relativ erlernen wie absolut, doch mir gelingt das schneller. In meinem Streichquartett bin ich zum Beispiel die Einzige mit absolutem Gehör, was für die Kollegen manchmal unangenehm ist: Wenn wir ein neues Stück lernen und ich die Partitur vorliegen habe, kann ich meiner ersten Geige im Zweifelsfall sofort sagen: „Vorsicht, das ist ein F, kein E.“
Hat ein absolutes Gehör auch Nachteile? Tun Ihnen als Zuhörer falsche Töne oder schlechte Intonation besonders in den Ohren weh?
Zimmermann: Nein. Schwierig wird es manchmal, wenn ich das Radio anmache und mir mein Ohr sagt: H-Dur – es sich dann aber um eine Barockaufführung handelt und das Werk eigentlich in C-Dur steht. Aber ich kann mich da einhören, ich kann ein Werk auch in einer anderen Stimmung spielen, zum Beispiel wenn ich nach England gehe muss ich das Instrument ein paar Herz runterstimmen. Dieser Toleranzbereich hat dann mit dem Üben zu tun.
Wie bereits angesprochen haben Sie sehr früh mit dem Instrument begonnen. Ab dem wievielten Lebensjahr war Ihre Musikerlaufbahn denn unausweichlich?
Zimmermann: Das kann ich nicht genau sagen. Vielleicht mit 13 oder 14…
Hätte die Erfolgsgeschichte auch später losgehen können?
Zimmermann: Es hätte alles anders sein können, da muss man nur einen von den vielen Faktoren verändern. Ich hatte das Glück in einer großen Familie aufzuwachsen, dazu kam die fantastische Musikschule in der Kleinstadt Lahr mit meinem außergewöhnlich engagierten und pädagogisch begabten Lehrer. Dann war es sicher auch meine relativ stabile Natur, die Fähigkeit, mit Wettbewerben umgehen zu können. Das ist ja etwas, was ein Kind sich nicht von sich aus wünscht, kein Kind sagt „Ich möchte zu ‚Jugend Musiziert’ gehen“ sondern das wird von den Eltern oder vom Lehrer an den Schüler herangetragen. Doch mich hat als Kind so eine Wettbewerbssituation überhaupt nicht belastet. Wobei ich genügend andere Musiker kenne, auch unter meinen Studenten, die diesem Stress nicht gewachsen sind. Wo es dann auch passieren kann, dass man Rückschläge erleidet.
Aber nochmal zur Frage des Alters: Hat man es schwer in Ihrer Profession, wenn man später als mit drei Jahren anfängt?
Zimmermann: Das hängt von einem ganz persönlich ab. Es gibt kein Strickmuster nach dem Motto, dass man sagt: „Wenn Sie wollen, dass Ihr Kind erfolgreich ist, müssen Sie dann und dann anfangen“ – das kann man so nicht sagen.
Dass Eltern für Ihre Kinder den Weg so vorzeichnen ist heute ja eher verpönt. Wie stehen Sie als Mutter dreier Kinder dazu?
Zimmermann: Ich sehe das auch sehr zwiespältig. Auf mich selbst bezogen muss ich sagen, dass ich meinen Eltern dankbar bin, für das, was sie mir mitgegeben haben. Aber ich kann das meinen Kindern heute so nicht anbieten, denn da war auch eine ganze Menge Druck dabei, da hieß es dann: „Wenn du das Instrument jetzt spielen willst, dann musst du es auch richtig machen, dann wird jetzt auch geübt und zwar heftig viel.“ Da sind viele Bereiche einer normalen Kindheit einfach zu kurz gekommen, das muss ich ganz ehrlich sagen. Insofern würde ich das heute meinen Kindern niemals antun. Andererseits muss ich sagen: Bei mir hat es sich ausgezahlt, ich bin heute glücklich mit dem, was ich bekommen habe – es ist ja auch gut gegangen.
Und wenn meine Eltern mich gezwungen haben, dann haben sie das natürlich auch nicht in böser Absicht getan. Das hing ja auch mit der sozialen Struktur zusammen, aus der sie kamen, die Nachkriegsgeneration, die Armut – das sind ganz andere Motivationsfaktoren gewesen als für mich als Mutter heute.
Das heißt, das Motto, dass ein Kind zu seinem Glück gezwungen werden muss…
Zimmermann: Das lehne ich heute total ab. Wenngleich ich natürlich die Schwierigkeit sehe, auf Musik bezogen: Wenn man nicht früh anfängt und wenn man nicht eine gewisse Disziplin beim Arbeiten hat, dann hat man es wahrscheinlich schwerer.
Ich habe mein Instrument immer nur als Vorteil gesehen.
Welche Rolle spielt Musik heute im Hause Zimmermann?
Zimmermann: Meine Kinder sind alle drei extrem musikalisch, haben tolle Ohren, können Musik wahrnehmen, auch das, was in der Musik transportiert wird. Sie spielen alle ein Instrument und sie wissen, dass man sich damit auch ausdrücken kann. Wir haben jetzt zwei Schlagzeuger-Jungs, die kleine Tochter spielt Geige, der mittlere dazu noch Klarinette und der Große hat im Kinderchor gesungen. Nur das Element Disziplin, dieses Dranbleiben und der Druck – damit habe ich große Probleme. Ich kann meinen Kindern nicht sagen: „Du musst jetzt üben.“ Das schaffe ich nicht.
Ihr Mann ist Dirigent, Sie sind Bratschistin – in Ihrem Haus hört man wahrscheinlich nur Klassik, oder?
Zimmermann: Nein, die Kinder hören auch ganz andere Sachen. Da lerne ich dann, was heute so in der Jugendkultur gehört wird.
Ich selbst höre privat allerdings gar nicht so viel Musik, ich bin ganz froh, wenn es mal still ist und höre nur bewusst. Im Auto höre ich wahnsinnig gerne Radio, dann lasse ich mir auch Anregungen geben, aber mich zuhause mit Musik beschallen, das mache ich eigentlich nicht. Entweder übe ich selber, beschäftige mich mit Partituren – oder ich genieße die Stille. Oder die Kinder kommen nach Hause und dann ist es sowieso zu laut zum Musikhören.
Sie haben in einem Interview mal gesagt: „Ich bin ein Mittestimmentyp.“ Für mich wirft das die Frage auf, ob man tatsächlich ein Typ für ein bestimmtes Instrument sein muss, um es erfolgreich spielen zu können.
Zimmermann: Ich finde diese Frage auch sehr interessant, kann sie aber auch nicht richtig beantworten. Weil ich eben schon so früh angefangen habe, dass ich gar nicht weiß, wer ich wäre, ohne die Bratsche.
Die Beschreibung als „Mittelstimmentyp“ klingt jedenfalls ein bisschen danach, als könnte die richtige Wahl des Instruments von der Persönlichkeit abhängen. Oder vielleicht vom Sternzeichen…
Zimmermann: Wir besprechen das im Quartett auch manchmal, weil interessanterweise die beiden Mittelstimmen Waage sind. Es ist schon lustig, dass dann manchmal solche Dinge zutreffen, dass sich gewisse Klischees dann auch mal bestätigen.
Was wäre denn eine Charaktereigenschaft, die Ihrer Erfahrung nach eher auf Bratscher und weniger auf Geiger oder Cellisten zutrifft?
Zimmermann: Eben schon das Ausgleichende. Ich kann gut vermitteln zwischen den äußeren Stimmen, was aber nicht heißt, dass ich mich beim Proben sehr zurückhalten würde. Ich werde da schon meine eigenen Gedanken lautstark vertreten und formulieren aber mich im Ernstfall immer unterordnen unter die erste Geige oder die in dem Moment führende Stimme. Ich kann mich auf jeden Fall gut anpassen, wenn ich es musikalisch richtig finde.
Kommt dieses Vermittelnde dann auch außerhalb der Musik zum Tragen?
Zimmermann: Also, da würde ich mein diplomatisches Geschick vielleicht nicht zu hoch bewerten. Aber sagen wir mal so: Ich habe durch die Musik gelernt. Diese Schulung durch Kammermusik finde ich wirklich fantastisch. Am besten sollte man in allen möglichen Konfliktgegenden die Kinder zum Quartettspiel bringen, weil man so lernt, einen eigenen Standpunkt zwar zu vertreten, aber diesen im Ernstfall auch einer gemeinsamen Idee unterzuordnen.
Wenn Sie auf Ihre bisherige Laufbahn zurückschauen: Hatten Sie es schwerer als die Kolleginnen und Kollegen an der Geige, als Solistin wahrgenommen zu werden?
Zimmermann: Ich habe mein Instrument immer nur als Vorteil gesehen. Weil es eben nicht so schnell ging – und das trotz meiner frühen Wettbewerbserfolge, als ich in Genf den ersten Preis gemacht habe war ich ja noch nicht mal 16.
Wenn ich Geige gespielt hätte, wäre das vermutlich alles ein bisschen schneller gegangen, aber ich glaube nicht, dass mir das gut getan hätte. Ich bin richtig froh darüber, dass es eher gemütlich losging, am Anfang habe ich ja nur 20 Konzerte im Jahr gespielt und nicht gleich 100, wie das einer Geigerin viel eher passieren kann.
Lassen sich solche Karriereunterschiede wirklich auf das Instrument zurückführen?
Zimmermann: Ja, zum Teil schon. Ich finde auch die Mischung des Repertoires und die Möglichkeiten, die ich habe, ziemlich ideal. Ich kann ein bisschen als Solistin auftreten, Kammermusik machen, Streichquartett spielen, ich bin an der Hochschule, habe die Familie, das sind alles wichtige Bereiche, und jeder befruchtet den anderen. Es ist keine Schmalspuraktivität. Ich weiß auch nicht, ob ich als Geigerin ein so großes Interesse an zeitgenössischer Musik entwickelt hätte. Wer weiß, vielleicht hätte ich mich dann erstmal mit den 20 berühmtesten Violinkonzerten abgefunden. Über die Bratsche bin ich aber sehr früh mit Kammermusik, mit zeitgenössischer Musik und auch mit der Lehre in Berührung gekommen.
Aber lassen Sie uns einmal über die Plattenfirmen reden: Wenn man sich die Klassiklabels anschaut, da findet man kaum einen Bratschen-Interpreten mit Exklusiv-Vertrag. Warum ist das so? Verkennen die Plattenfirmen da nicht ein großes Potential?
Zimmermann: Das hat sicherlich mit dem Repertoire zu tun. Wenn ich mich erinnere an die Zeit, wo ich einen Vertrag mit EMI hatte, die haben nur geklagt: „Wo sollen wir die CD hinstellen, in welches Komponistenfach?“ Weil als Bratscher hast du ja nur zwei Komponisten mit denen sich eine ganze CD füllen lässt: Hindemith und Reger. Alle anderen CDs sind dann gemischte Produktionen. Also, das ist eine Frage der Vermarktung. Mit der Qualität des Spiels oder der Musik hat es jedenfalls nichts zu tun.
Natürlich spielen Publikumszahlen eine Rolle. Wer geht sich denn eine Bratsche anhören? Es ist wahrscheinlich immer noch ein Nischeninstrument.
Wobei sich das Nischendasein aber klanglich kaum begründen lässt.
Zimmermann: Nein.
Werden Sie manchmal noch mit Vorurteilen gegenüber dem Instrument konfrontiert?
Zimmermann: Nein. Es geschieht höchstens, dass jemand zu mir kommt und sagt: „Ich hätte gar nicht gedacht, dass das so schön klingen kann.“ (lacht) – wo also eine andere Erwartung da war. Ich glaube schon, dass ich die Menschen mit meiner Bratsche und mit meinem Spiel direkt ansprechen kann und dass es dann völlig egal ist, wie das Instrument heißt.
In Juni 2010 spielen Sie mit den Berliner Philharmonikern das Bratschenkonzert von Béla Bartók. Welchen Stellenwert hat es in Ihrem Repertoire?
Zimmermann: Das ist für mich tatsächlich ein ganz besonderes Stück, weil ich mich damit jahrelang sehr intensiv beschäftigt habe. Ich kenne die Original-Handschrift, die Skizzen – und vor ein paar Tagen haben ich meine eigene Partitur fertig gestellt.
Ihre eigene Partitur?
Zimmermann: Das ist eine komplizierte Geschichte. Bartók ist ja leider verstorben, bevor er das Konzert fertig stellen konnte. Deswegen gibt es die bis heute gültige Fassung von seinem Schüler Tibor Serly und eine Neufassung von seinem Sohn Peter Bartók, doch dessen Orchestrierung überzeugt mich nicht vollständig.
Nun sind seit zehn Jahren Bartóks Skizzen zugänglich und ich weiß jetzt genau, was Bartók alles nicht geschrieben hat, was aber noch in der Serly-Fassung drin ist. Das heißt, ich bin jetzt seit über zehn Jahren dran, Stück für Stück die Fehler auszubessern, um das, was Serly verändert hat, wieder in den originalen Bartók-Ton zurückzuführen. Ich musste so manche zusätzliche Stimme im Orchester rausnehmen, manchmal auch ganze Takte…
Und diese Fassung führen Sie auf?
Zimmermann: Die Viola-Stimme spiele ich jetzt ganz original nach der Handschrift, den Orchesterstimmen liegen die Serly-Stimmen zugrunde, aber ich habe eigene Vorstellungen von Phrasierung, Dynamik und Tempo in die Partitur eingetragen, da von Béla Bartók davon nichts überliefert ist.