Herr Sarrazin, mit Ihrem Buch „Europa braucht den Euro nicht“ haben Sie 2012 eine emotional sehr aufgeladene Debatte hervorgerufen. Wie emotional ist dieses Thema für Sie persönlich?
Sarrazin: Meine Bücher zeigen ja wenig Emotionen, sie sind eigentlich sehr sachlich. Die Emotionen waren bisher ganz auf der Seite meiner Feinde, und da will ich sie auch in Zukunft lassen. Sie werden mich selten emotional erleben. Ich kann recht dezidiert in Worten sein, aber nicht im Sinne von Beschimpfungen, die mache ich überhaupt nicht.
Es ist bereits Ihr zweites Buch über den Euro…
Sarrazin: Ja, mein erstes habe ich 1996 geschrieben, „Der Euro – Chance oder Abenteuer?“ Das zeigte schon die gewissen Zweifel, die ich an der Einführung des Euro hatte. Ich habe damals genau beschrieben, unter welchen Bedingungen die gemeinsame Währung funktioniert und unter welchen sie nicht funktioniert.
Und Ihr heutiges Urteil, 16 Jahre später?
Sarrazin: Mein Resümee ist, dass alle dem Euro zugeschriebenen Vorteile nicht existent sind, der Euro aber große wirtschaftliche und politische Risiken mit sich bringt. Ich fordere jetzt nicht den Austritt aus dem Euro, wir sind schließlich vertragstreu, aber wir müssen die Bedingungen so legen, dass wir andere Staaten dazu zwingen, sich zu entscheiden, ob sie beim Euro mitmachen können oder nicht.
Wäre es für den Euro hilfreich oder problematisch, wenn Griechenland die Euro-Zone verlassen würde?
Sarrazin: Es wäre vor allem für die Zukunft Griechenlands hilfreich, wenn die Griechen sich durch Insolvenz von einer Schuldenlast befreien könnten, die das Land erwürgt, und sich außerdem durch eine Abwertung einer eigenen Währung um ca. 50 % wieder die Wettbewerbsfähigkeit erwerben könnten, die man braucht, um die Zukunft zu bestehen.
Wenn die gemeinsame Währung so toll ist, wie uns die Politik glauben machen will, wird die Euro-Zone auch einen Austritt Griechenlands überleben. Würde die Eurozone deshalb auseinanderbrechen, weil der Schwächste geht, dann würde gerade jene innere Morschheit bestätigt, die die Politik so emphatisch bestreitet.
Haben Sie einen emotionalen Zugang zu Währungen?
Sarrazin: Höchsten in dem Sinne, dass wohl jeder lieber mehr Geld hätte, als weniger. Aber sonst bedeutet mir das Geld als Währung nicht viel. Ich war auch niemand, der gesagt hätte, wir müssen jetzt die D-Mark behalten, weil es immer die D-Mark war. Genauso wenig würde ich jetzt sagen: Wir müssen den Euro behalten, weil er jetzt schon mal da ist. Das sind alles falsche Kategorien, um eine Währung zu betrachten.
Haben Sie noch D-Mark zuhause?
Sarrazin: Vielleicht noch in irgendeiner Schreibtischschublade. Glaube ich aber eigentlich nicht.
Hat es Ihnen gefallen, dass sich mit der Währungsunion die Münzen der verschiedenen Mitgliedsländer im Portemonnaie nach und nach gemischt haben?
Sarrazin: Das interessiert mich eigentlich relativ wenig.
Aber ist das nicht an und für sich eine schöne Idee?
Sarrazin: Ich fand das ganz lustig, aber das hilft uns ja jetzt nicht weiter, das hat nichts mit der Definition und den Aufgaben des Geldes zu tun.
Was hat Sie ursprünglich am Thema Finanzen gereizt, als Sie sich beruflich auf dieses Feld begeben haben?
Sarrazin: Finanzen haben mit Geld zu tun. Und das Materielle ist der Kern jeder gesellschaftlichen und historischen Bewegung. Wenn Sie das Materielle erfassen, sind Sie am Herz der Bewegungskräfte. Der Meinung bin ich heute noch.
Sie sehen also die Wirtschaft als die bestimmende Kraft in der Gesellschaft?
Sarrazin: Das ergibt sich aus den Überlebensinstinkten jedes Lebewesens: von der Ameise bis zu Albert Einstein. Die erste Bedingung des Überlebens ist die Nahrungssicherung, und all unsere Formen des Zusammenlebens, Vorratshaltung, Ackerbau, technischer Fortschritt, komplexe soziale Organisation, das alles ergibt sich aus der Nahrungssicherung und der Verhinderung, dass man von anderen gefressen wird. Fressen und gefressen werden, das ist das Gesetz des Lebens, woraus der Mensch mit seinem anpassungsfähigen Gehirn immer komplexere Organisationen gemacht hat. Die kann man über viele Zugänge verstehen, aber wenn man über Geld und Finanzen nachdenkt, hat man einen recht elementaren Zugang zu den Fragen des menschlichen Lebens.
Wer die Welt für sich erschließen und verstehen will, sollte also lieber Wirtschaft und nicht Philosophie studieren?
Sarrazin: Das kann man so nicht sagen. Ein Philosoph hat sicher seinen eigenen Zugang zu dieser Welt, ich persönlich habe in meinem Leben auch relativ viel Philosophie betrieben. Ich will das eine nicht gegen das andere ausspielen, ich habe nur gesagt, weshalb ich mich für Wirtschaft und Finanzen interessiert habe.
Für Sie wäre ein Philosophie-Studium jedenfalls nicht infrage gekommen.
Sarrazin: Nein. Wenn, dann eher Geschichte, aber das habe ich ohnehin nebenher betrieben.
Sie sind schon 1975, zwei Jahre nach Ihrer Promotion in die Politik gegangen, warum nicht in ein Unternehmen?
Sarrazin: Ich bin in die öffentliche Verwaltung gegangen, ich habe ja Volkswirtschaft studiert und nicht Betriebswirtschaft. Mein Lebensziel war es, dort zu sein, wo die politischen Regeln entstehen, dort, wo die Zukunft der Gesellschaft und des Staates gestaltet wird.
Wäre es für Sie auch denkbar gewesen, auf anderem Wege Impulse für die Gesellschaft zu setzen, zum Beispiel wie es die 68er taten?
Sarrazin: Die 68er-Bewegung habe ich im Wesentlichen verachtet. Das waren zwar meine Altersgenossen, aber ich fand das kindisch. Finde ich heute noch.
Sie greifen häufig auf den Terminus des „gesunden Menschenverstandes“ zurück, dem Sie das „magische Denken“ gegenüberstellen.
Sarrazin: Das magische Denken hat ja auch etwas Kindisches: Man bemächtigt sich irgendwelcher Symbole, verbrennt diese… – als die 68er Vietkong-Fahnen durch Bonn trugen und „Ho Chi Minh“ grölten, empfand ich das als kindisch.
Aber worin begründet sich der gesunde Menschenverstand?
Sarrazin: Der begründet sich jeweils aus einem Zweck-Mittel-Kalkül. Die Gesellschaft hat viele Moden, aber es gibt eben auch die Mechanismen, die sie bewegen. Meine Einsicht in diese Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Prozesse hat mich immer davon abgehalten, mich irgendwelchen albernen, vulgär-marxistischen Theorien hinzugeben.
Erleben wir aktuell eine Krise des Kapitalismus, weil Wunschdenken ohne Rücksicht auf wahrscheinliche Verluste in der Finanzwelt zum Teil den gesunden Menschenverstand ersetzt hat?
Sarrazin: „Krise des Kapitalismus“ ist jetzt etwas weit hergeholt, weil es auf der Welt nur noch eine einzige Wirtschaftsform gibt, und das ist der Kapitalismus.
Wirtschaftliche Entwicklung vollzieht sich immer als eine Abfolge von Boom und Baisse, auch das römische Reich kannte seine Wirtschaftskrisen, die Krisen wiederholen sich in gewissen Abständen. Dann werden die Fehler korrigiert und das Leben geht weiter. Die gesamte Auswirkung der großen Weltfinanzkrise ist eine kleine Delle im globalen Wirtschaftswachstum im Jahr 2009, die schon längst wieder aufgeholt ist.
Sie setzen in Ihren Büchern sehr stark auf Statistiken – inwiefern besteht dadurch die Gefahr, dass der einzelne Bürger am Ende nur noch eine gesichtslose Kostenstelle ist?
Sarrazin: Wenn man Aussagen über die Wirklichkeit macht, sind sie nur sinnvoll, wenn sie empirisch überprüfbar sind, sonst sind sie Geschwätz. Empirisch überprüfbare Aussagen enthalten Fakten, und Fakten werden in unserer Gesellschaft in Form von Zahlen gegossen.
Mit der Aussage, „wir werden durchschnttlich dümmer“ kann ich nichts anfangen, aber mit einer Häufigkeitsverteilung beim PISA-Test, die sich über verschiedene Leistungsklassen in zehn Jahren verändert, hingegen schon.
„Deutschland braucht den Euro nicht“ wurde damit beworben, dass in diesem Buch „Fakten gegen Gefühligkeit“ gesetzt würden.
Sarrazin: Ja, das möchte ich. Wenn Sie das dritte Kapitel im Buch lesen, werden Sie feststellen, dass man – egal wie man es misst – dem Euro einen spezifischen Nutzen nicht zusprechen kann.
Ist „Gefühligkeit“ für einen Politiker keine gute Voraussetzung?
Sarrazin: Das spricht doch völlig unterschiedliche Ebenen im Gehirn an. In unserem Stammhirn, herrschen die Gefühle, und letztlich ist unser ganzes Verhalten gefühlsgesteuert, das unterscheidet uns von Computern. Gefühle dominieren, wenn ich mich voll Empathie in andere Menschen einfühle, wenn ich ein Bild male, wenn ich ein Musikstück komponiere oder ein ästhetisches Urteile fälle. Gefühle haben eine eigene Wahrheit.
Aber zur Analyse der äußeren Wirklichkeit kann ich mich nicht auf Gefühle beschränken, sondern da muss ich schon mein Großhirn einschalten und die Fakten sehen und messen.
Sie saßen bei Günther Jauch Peer Steinbrück gegenüber. Ist der zu sehr jener „Gefühligkeit“ verhaftet?
Sarrazin: Steinbrück hat in dem Streitgespräch versucht, den Fakten auszuweichen, weil er wusste, da könnte er nichts gewinnen. Also ist er auf die Gefühlsebene gegangen, wo man empirisch nicht widerlegbar ist – das ist eine Masche. Genauso wie bei meinem ersten Buch die Strategie aller Talkshowmaster war, mich neben eine langhaarige, hübsche türkische Migrantentochter zu setzen, wahlweise Moderatorin oder Integrationsministerin, die dann bedeutungsschwer in die Kamera sagte, ihr Vater habe im deutschen Bergbau für den deutschen Aufschwung geschuftet und die ganze Familie sei durch mein Buch tief verletzt. Da wurde jede Diskussion von der Sachebene auf die Beziehungsebene geschoben, das ist die beste Methode, Erkenntnisforschung zu verhindern.
Deswegen habe ich bei Talkshow-Einladungen irgendwann gesagt: Weibliche Migranten kommen mir nur dann in die Talkrunde, wenn wir gleichzeitig eine weibliche Migrantin, die meine Meinung vertritt, dort sitzen haben, zum Beispiel Necla Kelek, Güner Balcı oder Seyran Ateş. Seitdem wurde ich zu keiner einzigen Migrationstalkshow mehr eingeladen.
Sie debattierten bei Günther Jauch auch über die Frage, ob der Euro mit der europäischen Aussöhnung verknüpft ist. Sie hielten dagegen…
Sarrazin: Ja, ich halte das für eine unhistorische, in keiner Weise mit der Wirklichkeit verbundene Betrachtungsweise. Die europäische Aussöhnung war vollzogen mit dem Deutsch-Französischen Vertrag von 1961. Das war die Aussöhnung. Schon vorher hatten wir die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit gegründet, und waren Nato-Mitglied geworden. Wir hatten Ende der 50er Jahre die Wiedergutmachungsvereinbarung mit dem Staat Israel geschlossen, die zu Milliardenzahlungen geführt hat. Es gibt seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts keinen mit politischen Handlungen zu belegenden Aussöhnungsbedarf mehr. Der einzige Maßstab der deutschen Politik muss seither das wohlverstandene deutsche Interesse sein. So wie das wohlverstandene französische Interesse auch vernünftigerweise der Maßstab französischer Politik ist.
Wie sieht das wohlverstandene europäische Interesse aus?
Sarrazin: Ich war für die Erweiterung der EU um Osteuropa, ich bin für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, für ein gemeinsames Wettbewerbsrecht, für eine zollfreie Zone. Aber die Währung leistet, das sage ich in meinem Buch ja ausführlich, zu keinem der wichtigen Ziele wie Frieden, Freiheit, Wohlstand und Wachstum, Arbeit und Beschäftigung irgendeinen ins Gewicht fallenden Beitrag. Sie ist ein Accessoire im Sinne eines weiblichen Schmuckstücks.
Im Inneren der Macht wohnt zumeist auch die geistige Beschränktheit.
Aber verkörpert der Euro nicht ein Stück weit auch den Wunsch der Bürger nach Gemeinschaft und Aussöhnung?
Sarrazin: Europa ist ausgesöhnt. Ich bin am 12. Februar 1945 geboren. In zwei Jahren werde ich 70 sein, und solange ist der Weltkrieg her. Die europäischen Völker haben sich ausgesöhnt. Die Frage, wie man die wirtschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitige Vorteil regelt, hat mit Aussöhnung nichts zu tun, und ich wende mich ja gerade gegen jene, die in der Debatte um den Euro immer wieder mit der deutschen Schuld und deutscher Vergangenheit operieren, wie beispielsweise Wolfgang Schäuble.
Die Befürchtung einer Spaltung, einer Renationalisierung in Europa teilen Sie also nicht?
Sarrazin: Nein, das ist unhistorisches Gerede. Die Tschechen, Polen, Dänen, Schweizer, Norweger, Schweden, Briten haben alle ihre eigene Währung – sind wir deshalb gespalten? Fahren wir deswegen weniger gerne in den Urlaub nach Dänemark oder England? Wohl kaum.
Natürlich finde ich es auch angenehmer, wenn wir überall mit Euro zahlen können, aber dieser Vorteil fällt letztlich kaum ins Gewicht. Weder finanziell, noch komfortmäßig, in Zeiten von EC-Karte und Kreditkarte können Sie an jedem Geldautomaten der Welt Ihr Geld abheben.
Wenn wir über Ihre Bücher sprechen, welche Rolle spielt für Sie beim Schreiben die Lust an der Provokation?
Sarrazin: Nennen Sie mir eine meiner sog. „Provokationen“, die keinen wahrhaftigen Sachkern hatte. „Provokant“ waren sie stets nur im Auge jener Betrachter, die ein Problem mir Klarheit und Wahrheit hatten.
Sind „Kopftuchmädchen produzierende Immigranten“ so ein wahrhaftiger Sachverhalt?
Sarrazin: Da müssen Sie den ganzen Satz lesen: „Ich muss niemanden anerkennen, der aus der Staatskasse lebt, seine Kinder nicht ordentlich erzieht, diesen Staat nicht respektiert und fortlaufend kleine Kopftuchmädchen produziert.“
Warum denn „produzieren“?
Sarrazin: Der Akt der Zeugung wird ja durch den Begriff „Reproduktion“ beschrieben. Der Begriff war sachlich völlig korrekt. Und es werden ja in Kreuzberg und in Neukölln ständig kleine Kopftuchmädchen gezeugt.
Auch im Prenzlauer Berg werden viele Kinder geboren, vermutlich sogar mehr.
Sarrazin: Nein, die Geburtenrate der muslimischen Migranten in Kreuzberg und Neukölln ist viel höher. Und der Begriff des Kopftuchmädchens kann nur für denjenigen negativ klingen, der im Kopftuch etwas Negatives sieht. Da aber all die liberalen Menschen im Kopftuch nichts Negatives sehen, kann auch der Begriff „Kopftuchmädchen“ nichts Negatives bedeuten.
Der Demographie wäre es ja letztlich egal, ob mit oder ohne Kopftuch.
Sarrazin: Für die Zukunft eines Landes ist es nicht egal, in welche Verhältnisse Kinder geboren werden und wie ihre Eltern sie erziehen. Und wenn die Morgenpost vor einiger Zeit titelt „jedes fünfte Schulkind spricht nicht ordentlich Deutsch“ und ich weiß, dass damit nahezu ausschließlich Kinder von Migranten aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mittelost gemeint sind, dann wird klar: Es ist keineswegs egal, wer die Kinder bekommt, im Gegenteil, das ist für die Gesellschaft sehr wichtig.
Sie reduzieren die Menschen auf eine Kostenstelle, die einen haben ein Plus, die anderen ein Minus davor.
Sarrazin: Das ist genauso unsinnig, wie die Behauptung, ein Herzspezialist, der ein EKG auswertet, sähe nicht den ganzen Menschen. Wenn man auf jene antwortet, die Einwanderung fordern, um unsere wirtschaftlichen Probleme zu lösen, dann ist eben der Hinweis geboten, dass eine bestimmte Art von Einwanderung unsere wirtschaftlichen Probleme nicht löst, sondern vergrößert.
Wie haben Sie persönlich die Einwanderung in Recklinghausen in den 60er Jahren erlebt, als viele Menschen als Gastarbeiter nach Deutschland kamen?
Sarrazin: Da hatten wir Italiener, Griechen und später die Spanier. Das war überhaupt nicht vergleichbar mit der Einwanderung aus muslimischen Ländern, die kamen aus einer christlichen Kultur, haben sich alle wunderbar integriert, und sind zum größten Teil in ihre Heimatländer wieder zurückgegangen. Dagegen wurden aus 700.000 türkischen Gastarbeitern dreieinhalb Millionen Türkischstämmige, die jetzt in Deutschland leben.
Ist der Bildungsgrad entscheidend, damit Sie jemanden anerkennen?
Sarrazin: Die Welt steht nicht still, wenn Sarrazin jemanden nicht anerkennt. Für denjenigen, der die deutsche Sprache beherrscht, beruflich qualifiziert ist und sich selbst ernährt, stellt sich die Integrationsfrage meist gar nicht. Und er muss auch nicht um Anerkennung buhlen.
Nochmals zu Ihrem „Kopftuchmädchen-Zitat“. Ist es nicht ganz normal, ja etwas Wunderbares, eine Familie zu gründen?
Sarrazin: Ja, aber nicht auf Staatskosten, bitte. Familie ist Privatsache. Der Staat hat nichts davon, dass mittlerweile bei Einschülern in Berlin 40 Prozent aus der Unterschicht kommen und davon der der überwiegende Teil aus Familien mit muslimischem Migrationshintergrund. Das Bildungsniveau in Berlin geht fortlaufend zurück, davon haben der Staat und die deutsche Gesellschaft überhaupt nichts. Der Umstand, dass viele ein gutes Einkommen haben, liegt daran, dass Deutschland im Weltmaßstab noch überdurchschnittlich produktiv ist – diesen Vorteil wird es aber sicher verlieren, wenn es so weitergeht.
Wen meinen Sie damit, wenn Sie sagen, der Staat, also Deutschland, „hat davon nichts“? Die Bürger mit deutschem Pass?
Sarrazin: „Deutschland“ ist zunächst ein staatsrechtlicher und ein demografischer Begriff, auch ein biographischer. Natürlich muss man die Frage der nachwachsenden Generation auch unter dem Aspekt des ökonomischen Nutzens stellen. Und da kann man nur sagen, dass die Struktur der Gruppen, welche einwandern sowie die Art und Weise, wie sie sich integrieren, maßgeblich darüber bestimmt, welchen Nutzen sie für die deutsche Zukunft stiften.
Ihr Buch über den Euro wurde als Versuch beschrieben, den Deutschen einen „Selbstbehauptungswillen“ zurückzugeben. Stimmen Sie dem zu?
Sarrazin: Das ist nicht meine Diktion. Staaten und Nationen haben Interessen, und es ist die Aufgabe der gewählten Regierungen, diesen Interessen zu dienen. Und wenn der eine seine Interessen verfolgt und der andere sein schlechtes Gewissen pflegt, kann sich daraus niemals ein vernünftiges, gemeinsames Verfahren entwickeln.
Ist der Selbstbehauptungswille der deutschen Bürger heute zu schwach?
Sarrazin: Ich konstatiere, dass die Deutschen letztlich ein unausgewogenes nationales Selbstbewusstsein haben. Das ist unbegründet und ungesund. Da können wir uns viel abschneiden zum Beispiel bei den Holländern, Tschechen, Polen oder Schweizern. Zur gesellschaftlichen Stabilität gehört auch eine stabile Vergewisserung seiner selbst.
Auch die NPD gehört zu jenen, die Ihren Appell an das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen loben. Was halten Sie von solchen Sympathiebekundungen?
Sarrazin: Ihre Frage zeigt doch die Masche: Kaum spricht einer die Frage des deutschen Selbstbewusstseins an, ziehen Sie die NPD-Karte.
Ist Europa, die europäische Gemeinschaft eine Vision, die Sie für falsch halten?
Sarrazin: Jeder kann so viel Visionen haben wie er will, das ist ja legitim. Und wer die europäische Einigung will, soll sich in der Europäischen Union engagieren und soll dafür kämpfen. In meinem Buch geht es um die konkrete Frage: Was für Vorteile bringt uns die gemeinsame Währung, und wollen wir die Risiken einer nicht funktionierenden gemeinsamen Währung auf uns nehmen für ein imaginäres politisches Ziel? Meine Analyse zeigt ja ganz klar, dass wir auch in 50 Jahren noch keine politische Union haben werden.
Welche Rolle sollte denn Solidarität innerhalb der europäischen Gemeinschaft spielen?
Sarrazin: Wenn es ein Erdbeben gibt, schicken wir selbstverständlich das Rote Kreuz.
Ansonsten liegen die Probleme aller Euro-Länder aber ausschließlich an ihrer internen Politik und können ausschließlich durch Maßnahmen und Instrumente der internen Politik geheilt werden. Insofern ist überhaupt kein Anlass gegeben, jemandem zu helfen, der sich selbst helfen kann, dafür aber die notwendigen politischen Entscheidungen nicht zustande bekommt.
Nun sind doch aber wirtschaftliche Abläufe schon lange nicht mehr national begrenzt.
Sarrazin: Das ist kein Widerspruch. Spanien bekommt deshalb Geld nur zu höheren Zinsen an den Märkten, weil die Anleger dem Zustand der spanischen Volkswirtschaft kein Vertrauen schenken. Spanien hat alle Instrumente in der Hand, dieses Vertrauen langfristig wieder herzustellen, es kann seinen Arbeitsmarkt reformieren und Steuern und Abgaben so gestalten, dass sie dauerhaft miteinander in Übereinstimmung stehen – was auch immer. Alle Instrumente, die es braucht, um sich in dieselbe Situation zu versetzen wie Deutschland oder die Schweiz, liegen ausschließlich in spanischer Hand. Zu 100 Prozent. Dass im Augenblick nur wenige Leute spanische Anleihen kaufen, ist absolut rational.
Sie erwecken den Eindruck, man müsse zur Lösung politischer Probleme lediglich den gesunden Menschenverstand als Maßstab der Politik anlegen. Wenn es so einfach ist, warum wird das nicht getan?
Sarrazin: Im Inneren der Macht wohnt zumeist auch die geistige Beschränktheit. Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman hat ein wunderbares Buch über die Dummheit in der Politik geschrieben, wo sie für wichtige historische Wendepunkte zeigt, wie die Dummheit regierte. Das galt für den Ausbruch der russischen Revolution nicht weniger als für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Kurzsichtigkeit, Dummheit, Mangel an Überblick und magisches Denken spielen nun mal eine wesentliche Rolle bei politischen Entscheidungsprozessen. Daher kann man immer froh sein, wenn man sich irgendwo in Zeit und Raum in halbwegs geordneten Verhältnissen befindet. Das ist aber die Ausnahme und nicht die Regel, das wird auch immer so bleiben.
Wenn mit rein empirisch belastbarer Sachlichkeit die beste Politik gemacht werden könnte, wäre es dann nicht naheliegend, sie von Computern errechnen zu lassen?
Sarrazin: Nein, ich habe ja gesagt, die Welt ist beherrscht von Gefühlen. Und mein Erfolg als Politiker wie als Autor besteht darin, Sachverhalte gründlich zu analysieren und sie dann in eine Formel zu gießen, die auch von Gefühlen erschlossen werden kann.
Glauben Sie noch an Europa als einen mächtigen Wirtschaftsraum?
Sarrazin: Das sind alles Eintagsfliegen, Europa altert und schrumpft demographisch, die Weltgewichte verschieben sich, und keiner weiß, was in 100 Jahren ist. Wir haben die Aufgabe, jetzt für unser Land bestmögliche Bedingungen zu schaffen.
Werden Sie das weiterhin als Buchautor tun oder vielleicht noch mal als Politiker?
Sarrazin: Meine Phase als aktiver Politiker ist abgeschlossen.
Was empfinden Sie als anstrengender, das Leben als Buchautor oder das als Politiker?
Sarrazin: Also, nicht alle Politiker führen ein unbequemes Leben. Für mich war es immer anstrengend, weil ich gekämpft habe. Und wenn eine Anstrengung am Ende auch zu Zielen führt, empfinde ich das immer als positiv. Ich glaube, dass die Menschen, die sich anstrengen, im Durchschnitt zufriedener sind als die, die sich nicht anstrengen.
Wie anstrengend ist es für Sie, wenn Sie und Ihre Bücher Bestandteil heftiger Debatten sind?
Sarrazin: Dazu gehört, dass man auch eine gewisse Distanz zu sich selbst hat. Man darf das eigene Tun und Lassen auch nicht zu ernst nehmen. Was nicht heißt, dass man in der Sache nicht mit Ernst dabei ist.
Hilft Ihnen diese Distanz, wenn Sie beispielsweise bei Frank Plasberg auf dem Stuhl sitzen und von allen Seiten prasselt Kritik auf Sie ein?
Sarrazin: Ach, bei Plasberg habe ich ja schon lange nicht mehr gesessen.
Also, ich ordne die Leute relativ zügig ein. Und wenn dann eine Renate Künast Peng macht, geht das ziemlich an mir vorbei, weil es meist relativ inhaltsfrei ist, was sie sagt. Dann trifft mich das auch nicht.
Hat Sie denn mal irgendwas getroffen?
Sarrazin: Ja, das unsägliche Maß an Borniertheit und Dummheit bei jenen Menschen, die über etwas reden, was sie nicht gelesen haben.
Was ist wirkungsvoller, Ihre politische Arbeit oder Ihre Bücher?
Sarrazin: Die politische Arbeit hat eine abgrenzbare Mikrowirkung gehabt, wo man aber gar nicht weiß, ob sie in Zeit und Raum stabil ist. Die Bücher dagegen haben eine wenig abgrenzbare Makrowirkung. Das heißt, wenn Sie einen roten Farbklecks in einen kleinen Topf weißer Farbe mischen, wird die Farbe rot, mischen Sie den Klecks in einen großen Topf kommt ein ganz helles Rosa dabei heraus. Was von beidem wirkungsvoller ist, darüber könnten wir jetzt lange streiten.
Alexander Kluge beschreibt Sie in seinem Buch „Das Bohren harter Bretter“ als Dezisionisten, als Mann der Lust am Entscheiden hat…
Sarrazin: Das hat er gut erkannt.
…und dass die Lust am Entscheiden zur Sucht werden und zur Unvernunft führen kann.
Sarrazin: Wer gerne entscheidet, bleibt trotzdem irrtumsanfällig. Natürlich bin ich deshalb in die Nähe der Macht gegangen, weil ich entscheiden wollte und auch einen Gestaltungswillen hatte. Das habe ich bis zum Jahr 2009 gelebt, jetzt bin ich in einer andere Lebensphase, ich habe jetzt nichts mehr zu entscheiden. Außer über meinen Tagesablauf.
Verdienen Sie heute eigentlich mehr als zu Ihren Zeiten in der Politik?
Sarrazin: Das ist doch logisch. Ein Berliner Finanzsenator verdient vielleicht 140.000 Euro im Jahr, davon wird man nicht arm, aber auch nicht reich. Mein Pensionseinkommen ist übrigens auskömmlich. Über die Einnahmen aus dem Verkauf meiner Bücher freue ich mich natürlich trotzdem.
Bedeutet Ihnen Reichtum irgendwas?
Sarrazin: Also, angenommen, Ihre Wohnung bedeutet Ihnen etwas und es kommt ein Engel, der Ihnen im besten Bezirk Berlins eine 300qm-Wohnung inklusive Terrasse verschafft. Dann sind Sie eine Woche begeistert, 14 Tage sehr angetan. Nach einem halben Jahr denken Sie immer noch, das ist recht nett, wobei sie aber genauso zufrieden oder unzufrieden sind wie in Ihrer alten Wohnung. – So ist das mit materiellen Gütern. Fragen Sie doch mal eine Frau, ob ihr Glücksindex von der Zahl der Ringe abhängig ist, die sie von ihrem Mann geschenkt kriegt. Ich sage Ihnen: Ob das sieben oder 15 Ringe sind. ist für den Glücksindex relativ egal. Was im Leben Freude macht, ist (1) die Zuwendung die man gibt und erfährt, und (2) ist die Anstrengung, der man sich unterzieht sowie die Rückmeldung, die man bekommt. Glücksmindernd wirken dagegen das selbstzufriedene Verharren im Hier und Jetzt und die Fixierung auf passiven Genuss.
Zum Schluss: Kennen Sie die Aufkleber „Sarrazin statt Muezzin“?
Sarrazin: Ja, das hat die FPÖ geklebt im Wahlkampf in Wien. Das finde ich lustig, das hat ja auch einen klaren Hintergrund. Ich habe geschrieben: „Wenn ich den Ruf des Muezzin hören will, kann ich auch eine Reise ins Morgenland buchen“, ein Satz, den ich nach wie vor sehr gelungen finde.
Gegen den Aufkleber kann ich nichts sagen, ein bisschen Humor muss man auch in der Politik haben. Gerade die politisch korrekten Leute sind oft vollständig ironiefrei, das macht sie ja manchmal auch ein bisschen lächerlich.
Ein erkenntnisreiches Interview mit einem brillanten Kopf — Danke!
Solche Typen stoßen unserer politischen Elite sauer auf – Typen wie Herr Sarrazin. Waren sie einst doch selbst, in gewissen Umfang, ein Rad im „großen Getriebe der Volksmanipulation“. Sie waren Insider, was jetzt auch die scharfen Reaktionen aus dem Zentrum der Macht heraus gegen sie erklärt. Durch Lächerlichmachung, durch ein in die Ecke der „politischen Unkorrektheit“ stellen, versucht man gegen sie zu agieren. Durch seinen Sachverstand und sein Insiderwissen wurde Herr Sarrazin zu einem gefährlichen Gegner für die, die weiter unbeeindruckt auf ihren eingeschlagenen Irrwegen beharren. Wegen seiner Sachkompetenz gehörte Herr Sarrazin, bevor er zum Kritiker wurde, zur Finanzelite der Bundesrepublik, war Finanzsenator im Berliner Senat und Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank. Solchen „Nestbeschmutzern“ wünscht manch einer, seiner damaligen Kollegen, die Pest oder doch zumindest einen Herzinfarkt an den Hals.