Wim Wenders (10.2004)

Los Angeles ist im Kino so oft zu sehen, wie keine andere Stadt der Welt – nur kommt die Wirklichkeit dort nicht vor.

Wim Wenders über Christentum in den USA, seinen Film "Land of Plenty", Anonymität in Los Angeles und Sanftmut in der Politik

Wim Wenders (10.2004)

© Reverse Angle Pictures

Herr Wenders, kann man mit Film und speziell mit Ihrem neuen "Land of Plenty" die Ultra-Religiösen in den USA erziehen?
Wenders: Ich weiß nicht, ob man es Erziehung nennen kann, aber man kann ihnen ja etwas erzählen. Ich habe den Film schon einigen, durchaus republikanischen Amerikanern gezeigt, die von dem Film doch sehr verstört waren und hinterher großen Redebedarf hatten. Vielleicht kam einigen die Idee, die Dinge von woanders her zu betrachten. Die Amerikaner betrachten den Krieg zum großen Teil so einseitig, weil sie keine andere Seite kennen. "Fahrenheit 9/11" hat ja viel ausgelöst, wobei man nicht genau weiß, ob es letzten Endes nur die Leute berührt hat, die schon auf der anderen Seite standen. Ich glaube jedenfalls, dass der Film die Idee von Veränderung des Denkens provoziert hat.

Wie äußert sich denn Ihr Glaube, zu dem Sie sich im Rahmen des neuen Films bekennend geäußert haben, praktisch?
Wenders: Ich glaube, dass sich Christentum vor allem in einer Haltung ausdrücken sollte, muss und kann. Und dass man nicht einerseits etwas liest oder erzählt bekommen hat, z.B. aus dem Neuen Testament, es aber auf der anderen Seite für das soziale, politische, kulturelle Bewusstsein keine Konsequenzen hat. Wenn man das ernst nimmt, was da steht – und da steht immer und immer wieder Nächstenliebe und Solidarität mit den Armen und Unterprivilegierten – dann ist es schwer zu verstehen, wie eine amerikanische Regierung, die sich christlich nennt, in ihrer Politik gegenteilig redet und handelt. Auch wenn man christliche Ideen von Auseinandersetzung ernst nimmt, ist ein Präventivkrieg ausgeschlossen. Ich bin kein Katholik mehr und habe den Papst auch kritisiert, aber ich fand das schon richtig, wie sich der alte Mann hingestellt und gesagt hat: "Dieser Krieg ist nicht rechtens."

Geht das denn, insbesondere in den Vereinigten Staaten: als Christ auch eine liberale Einstellung zu verfolgen?
Wenders: Das ist kein Widerspruch für mich. Ich glaube, dass man als Christ kaum etwas anderes als liberal sein kann. Die amerikanischen Verleihe, die sich bis jetzt für den Film interessiert haben, stehen vor dem Dilemma, wie sie den Film vermarkten sollen. Das Christentum in Amerika ist so rechts besetzt und so fundamentalistisch, dass das für die Verleiher ein echtes Problem ist. Ich habe das nicht erwartet. Christliche Ideen sind dort so nationalistisch, so dass ein Film, der liberal ist und eine Hauptdarstellerin hat, die ihr Christentum so selbstverständlich und naiv lebt, schwer damit auf einen Nenner zu bringen ist.

Wenders: In bezug auf die Naivität der Hauptdarstellerin Lana: im Neuen Testament gibt es die Zeile "Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdenreich besitzen". Glauben Sie, dass man mit Sanftmut überhaupt internationale Politik machen kann?
Wenders: Ich denke – Sie können das Utopie nennen -, dass man mit Sanftmut im Herbst und Winter 2001 unglaublich viel und gute Politik hätte machen können. In der Situation, die Wochen und Monate nach dem 11. September geherrscht hat auf diesem Planeten – die zum ersten mal wirklich fassbare Solidarität über alle Rassen, Völker, Religionen hinaus – gab es die Möglichkeit, eine andere Politik zu machen. Nämlich eine Politik, wenn Sie so wollen, der Sanftmut. Ich bin sicher, dass zumindest ein Al Gore sich diese Politik überlegt hätte. Bush hat nicht eine Sekunde daran gedacht, der wusste schon am nächsten Tag, dass er den Irak-Krieg machen wollte.

Ist es jetzt zu spät?
Wenders: Ich weiß nicht, ob es zu spät ist. Die Situation ist im Moment sehr verfahren, weil die aggressive amerikanische Reaktion Millionen weitere Terroristen produziert hat.

"Land of Plenty" spielt in Los Angeles – was hat es mit diesem Schauplatz, den Sie schon mehrmals für Ihre Filme gewählt haben, auf sich?
Wenders: Sie werden gar nicht glauben, in wie vielen Filmen diese Gegend vorkommt, z.B. in jedem Schwarzenegger-Film, weil dort immer New York gedreht wird. Es ist billiger für die Studios. Dann wird Downtown L.A. gesäubert und desinfiziert, dann werden die obdachlosen Leute vor die Tür gesetzt oder woanders hingeschoben. L.A. ist im Kino so oft zu sehen, wie keine andere Stadt der Welt – nur kommt die Wirklichkeit dort nicht vor. Die Leute liegen dort auf der Straße und der Schwarzenegger, der dort jede Menge gedreht hat, bemüht sich als Gouverneur schon darum, die Situation zu bereinigen und all das weniger sichtbar zu machen. Das ist aber nur ein Kampf mit den Symptomen und nicht an der Wurzel.

Sie haben einmal gesagt, dass sie nach L.A. gegangen sind, weil man dort so anonym sein kann. Michael Mann hat in seinem Film "Collateral" das Beispiel gegeben, in L.A. könnte ein Toter stundenlang in der U-Bahn durch die Stadt fahren, ohne das jemand davon Notiz nehmen würde. Geht die Anonymität so weit?
Wenders: In Amerika ist man schnell anonym. Das kann ein Privileg sein wie in meinem Fall, aber auch ganz im Gegenteil ein Urteilsspruch: Die Leute, die auf der Straße leben, sind von allem ausgeschlossen. Dann führt oft kein Weg zurück. Die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Straße beträgt zwei Jahre. Länger hält das kein Mensch aus. Es sind meistens Schwarze zwischen 30 und 40, natürlich auch ein paar ältere. Es gibt auch kein gesellschaftliches Netzwerk, das sie auffängt, außer private Institutionen und die Kirche.

Angesichts dieser realen Situation gerät der "American Dream" ja immer mehr zum Mythos. Aber Sie hatten den noch als junger Filmemacher, den amerikanischen Traum, oder?
Wenders: Das ist eine lange Geschichte mit dem amerikanischen Traum, mit meinem amerikanischen Traum. Ich war sieben, acht Jahre in den USA, von den 70ern bis Mitte der 80er Jahre. In der Zeit habe ich meinen eigenen amerikanischen Traum abgearbeitet und auch hinter mir gelassen. Wenn ich heute bereits wieder acht Jahre dort wohne, bin ich als Europäer da. Ich habe Berlin nicht so radikal verlassen wie damals, habe eine Wohnung hier behalten. Ich habe eingesehen, dass ich hier meine Produktionsbasis behalten muss. Ich weiß, dass ich kein Amerikaner werden kann, will und muss. Und damit komme ich ganz gut klar. Als Filmemacher des Independent Cinema ist es eigentlich überall das Gleiche. Man kann in Australien drehen, in Island oder in Berlin – als Filmemacher könnte man eigentlich staaten- und heimatlos sein. Auf eine Art bin ich das auch immer gewesen, bin viel herumgereist auf diesem Planeten und habe nicht nur in Amerika Filme gemacht.

Wo leben Sie im Moment?
Wenders: Ich habe meinen ersten Wohnsitz nach wie vor in Los Angeles, obwohl wir jetzt gerade nach New York umziehen. Ich bin aber auch immer wieder gern hier in Berlin.

Wie kommt es, dass Sie nach New York ziehen?
Wenders: Ich habe ja wie kein anderer Los Angeles als Los Angeles gefilmt. Ich habe drei Spielfilme gemacht, in denen die Stadt wirklich porträtiert worden ist, "Ende der Gewalt", "The Million Dollar Hotel" und jetzt "Land of Plenty". Ich habe – so kommt es mir vor – inzwischen an jeder Straßenecke gedreht. Da hatten meine Frau und ich Lust, mal woanders hinzukommen. Ich habe früher mal in New York gelebt und das sehr genossen. Auch die Distanz zu Berlin wird dadurch geringer. Das schlaucht schon, wenn man, wie ich im letzten Jahr, zwölf mal zwischen L.A. und Berlin hin- und herfliegt.

Was reizt Sie nach wie vor an Berlin?
Wenders: Berlin ist schon eine ziemlich lebendige Stadt, eine der wenigen Städte, die dabei sind, sich zu verändern. Die meisten Städte sind so, wie sie sind. Ich kann nach Paris kommen, da hat sich nichts verändert im Vergleich zu vor 30 Jahren, als ich dort mal gelebt habe. Berlin ist aber tatsächlich anders geworden, ist immer noch dabei, anders zu werden.

Kleiner Themenwechsel: Welche Bedeutung hat Technologie in Ihrem Leben und in Ihrem Beruf? In "Land of Plenty" ist der Aspekt der Technik, der positiv besetzt ist, wenn die Kommunikation zwischen zwei Kontinenten, zwischen Tel Aviv und L.A. hergestellt wird. Aber Sie zeigen auch die negativen Seiten, Technik als Mittel der Überwachung, voyeuristisch, wenn ein Tourist die Obdachlosen filmt.
Wenders: Man kann mit der Technik halt alles machen, was man will. Und sie macht mit uns alles, was sie will. Man kann tatsächlich zwischen Los Angeles und Tel Aviv kommunizieren und auf der anderen Seite hört der Paul im Film ständig sein Radio. Wenn er einen Fernsehapparat in seinem Auto hätte, würde er wahrscheinlich von FOX seine Nachrichten beziehen – und das ist dort tatsächlich Gehirnwäsche. Die Technik wird eben in jede Richtung benutzt, und als Filmemacher kann man sie auch in jede Richtung benutzen. Sie kann einem helfen, und sie kann einem auch im Weg stehen.
Und wo da gerade ein Handy geklingelt hat – wir sind alle wunderbar zurechtgekommen, als es diese Kommunikationsmittel noch nicht gab. Ich habe auch schon Filme gemacht, als es keine Faxgeräte, kein Internet gab. Im Moment kommt man sich so vor, als könnte man ohne Internet schon gar nicht mehr leben. Man schreibt ja auch keine Briefe mehr, ich zumindest nicht. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal jemandem per Hand etwas geschrieben habe und eine Briefmarke draufgeklebt habe. Das muss ein paar Jahre zurückliegen. Dabei schreibe ich heute mehr als je zuvor in meinem Leben, in meinen Computer, den ich immer dabei habe. Man wird gleichzeitig ärmer und auch reicher.

Was machen Sie, wenn Sie keine Filme drehen?
Wenders: Dann hör ich viel Musik und bin viel unterwegs.

Und was liegt momentan auf Ihrem Plattenteller?
Wenders: Es gibt gerade ein paar tolle neue Platten. Gestern habe ich mir die neue Tom Waits gekauft und dann gibt es eine herrliche und großartige neue Platte von Elvis Costello. Und dann hör ich richtig gern die neue CD der Toten Hosen, die ist sensationell gut.

Im letzten Interview mit Planet Interview meinten Sie, dass Ihnen als Comicfigur am ehesten Gustav Gans entsprechen würde. Welchen Comic müsste man Ihrer Meinung nach als nächstes verfilmen?
Wenders: Es gibt einen genialen Comic in Amerika, der heißt: "Over the Hedge". Da sind eine Schildkröte und ein Waschbär, die in einer amerikanischen Vorstadt leben und beide die absoluten Underground-Revolutionäre sind. Die stellen die gesamte amerikanische Gesellschaft auf den Kopf … – und ich wäre dann der Waschbär.

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