Herr Gergiev, was ist für einen Dirigenten die beste Vorbereitung auf ein Konzert?
Gergiev: Für mich liegt die beste Vorbereitung lange zurück, nämlich im Studium vor dreißig Jahren, als ich noch jung war. Dort beginnt schon die Vorbereitung im wesentlichen. Das ist ein sehr komplexer Beruf und man kann sich als Dirigent nicht nur auf seine jeweilige Tagesform verlassen. Man ist sozusagen immer mit einer Menge Gepäck unterwegs.
Aber was machen Sie zwei, drei Stunden vor einem Konzert?
Gergiev: Heute Abend zum Beispiel dirigiere ich die "Mazeppa" von Tschaikowsky. Da versuche ich mich vorher in die richtige Stimmung zu bringen, um dieses Werk dirigieren zu können. Wenn ich eine Bruckner-Symphonie dirigiere, Mahler, oder ein großes Oratorium von Berlioz, dann muss ich vorher versuchen in der entsprechenden Verfassung zu sein. Ich höre mir dann manchmal auch meine Aufnahmen dieser Werke vor dem Konzert an. Ich muss versuchen, das Werk zu erfassen, das ist meine Verantwortung als Dirigent. Also nicht nur das richtige Tempo wählen, sondern ich muss die ganze Maschine in Bewegung setzen, Kraft im Orchester und im Chor entwickeln. Ich muss denen einen Sinn für das Drama, für die Spannung und Freude im Werk vermitteln – wie es das jeweilige Werk erfordert. Ich denke nicht, dass ich ein pragmatischer Dirigent bin, der seine Vorbereitungen äußerst pragmatisch trifft. Ich würde mich da viel eher als spontan bezeichnen
Gerade las ich, Sie würden sich im Jahr nur fünf Tage Urlaub nehmen.
Gergiev: Ach ja, lächerlich so was. Wenn ich zehn Tage frei habe, dann mache ich zehn Tage Urlaub, wenn es fünf sind dann fünf – wie jeder andere Mensch auch. Dieses Image, ich sei ein so beschäftigter Mann, das ist doch schon inflationär – ich weiß auch nicht, wo die Leute das hernehmen, denn kein Journalist steht 24 Stunden am Tag neben mir oder verbringt seine Zeit in meiner Haut.
Der Workoholic Gergiev also nur ein Klischee aus den Klassikzeitschriften?
Gergiev: Na ja, wer war kein Workaholic? Mahler, oder vielleicht Bruno Walter? Toscanini, ja, der war ein Workaholic, oder? Das soll doch jeder selbst entscheiden, wie er am besten sein Leben mit der Arbeit verbindet. Ich mache das, was ich denke tun zu müssen. Wie man das nun nennt, das weiß ich nicht – muss ich auch nicht wissen.
Was sind denn diese Dinge, denen Sie sich verpflichtet fühlen, gibt es da etwas wie eine Mission?
Gergiev: Ich bin dem Mariinsky-Theater sehr verbunden. Und das Mariinsky ist sehr verbunden mit mir. Wir kleben fast ein bisschen aneinander, und das nicht nur gelegentlich sondern eigentlich jeden Tag 24 Stunden nonstop. Denn auch wenn ich nachts in meinem Bett liege, führe ich meine Konzentration und Gedanken fort, was ich mit dieser Institution mache. Natürlich sieht man mich auch an anderer Stelle. Ich bin sehr gerne am Pult der Wiener Philharmoniker, habe jetzt seit 14 Jahren eine enge Beziehung zu der Rotterdamer Philharmonie. Dann kommt die Metropolitan Opera hinzu und überhaupt meine Konzerte in den USA. Aber auf alles zusammen kann man sich nicht konzentrieren, das ist unmöglich. So nimmt das Mariinsky etwa 250 Tage jedes Jahr in Anspruch. Und auch wenn ich nicht in Petersburg am Pult stehe, fühle ich immer eine Verantwortung, egal wo ich gerade dirigiere.
Denken Sie, Ihre Verantwortung ist in den letzten zehn Jahren größer geworden, weil Sie so etwas wie ein kultureller Botschafter der russischen Hemisphäre geworden sind?
Gergiev: Das kann schon sein. Wer will, kann mich Botschafter nennen, man kann auch von einer Mission sprechen. Es geht darum, ein neues Selbstvertrauen der russischen Kultur zu repräsentieren. Ob ich aber ein guter Dirigent bin, entscheiden andere, nicht ich. Aber ich habe sicherlich Selbstvertrauen. Ich habe mir vor vielen Jahren gesagt, da ist eine Aufgabe, die ich erfüllen muss, die ich gemeinsam mit dem Mariinsky erfüllen muss, egal ob ich auf einem Festival dirigiere, Gastdirigent bin oder bei Residenzen auftrete, wie hier in Baden-Baden. Ich mag das, wenn ich irgendwo hinkomme, nach New York, London oder Tokyo, und dort dem Publikum eine solide Vorstellung gebe, wo die Leute auch merken, Gergiev dirigiert hier nicht nur für den Moment. Ich denke da jetzt insbesondere an Werke wie die "War-Symphony" von Schostakowitsch, Strawinskys Ballettmusiken, die Propagandawerke Prokofjews oder den jungen Strawinsky. Da gibt es immer ein Thema, und wenn du das kennst und dich darauf konzentrierst, dann lernst du mehr über das Werk, auch weil du verschiedene Themen miteinander vergleichst. Man lernt auch viel über die Komponisten und ich bin daran interessiert, Dinge zu entdecken, von denen ich bisher noch nichts wusste. Vor allem, wenn ich ein Werk zum aller ersten Mal dirigiere, ist das sehr spannend. Solche Dinge sind für mich auch wichtiger, als wenn ich irgendwohin fliege, um an dem Ort ein Programm zu dirigieren, welches man gerne von mir hört. Das sind dann ja oft Programme, wo ich nichts riskiere, ein Tschaikowsky-Symphonie oder die "Bilder einer Ausstellung".
"Kämpfen" Sie denn für einen russischen Komponisten, für Prokofjew zum Beispiel?
Gergiev: Nein, für Prokofjew muss ich nicht kämpfen, er ist groß genug. Ich liebe Prokofjew und hoffe, dass nicht nur ich, sondern noch viele andere Dirigenten auf dieser Welt seine Größe entdecken werden. Das ist sehr wichtig.
Sie haben 1999 Prokofjews Oper "Semyon Kotko" auf die Bühne des Mariinsky gebracht. Prokofjew hat sie 1939 komponiert und sie zählt zu den bereits angesprochenen Propagandawerken. Vor diesem Hintergrund – hatten Sie 1999 Probleme, das Werk aufzuführen?
Gergiev: Nein, wir haben das einfach gemacht, kann uns doch niemand verbieten. Ich befasse mich nicht mit diesen Propaganda-Problemen, die manche mit "Semyon Kotko" haben. Meine Denkweise ist eine andere. Wenn ich Oper aufführe, dann denke ich nicht daran, ein Regime zu tadeln oder beschuldigen. Ich will auch nicht das kommunistische Regime verurteilen, indem ich so eine Oper nicht aufführe. Sowieso habe ich etwas gegen böse Verweise auf die Sowjetzeit. Viele russische Musiker benutzen ja den Verweis auf die Sowjetzeit als eine Art Entschuldigung für eine vielleicht verfehlte Karriere, sie wären blockiert worden. Aber da gibt es einen Swjatoslav Richter, einen Mstislaw Rostropowitsch oder einen David Oistrach – das waren einfach geniale Musiker. Viele Musiker vergessen einfach, dass sie eben nicht Rachmaninov oder Horowitz sind und geben vor, das sowjetische System hätte sie am Erfolg gehindert. Ich werde das sowjetische System nie verurteilen. Ich bin dankbar für die Ausbildung die ich in all den Jahren bekommen habe, dankbar für die Lehrer – wieso sollte ich jetzt schlecht von diesem System sprechen? Ja, ich bin vielleicht erst 10 Jahre später im Westen erfolgreich geworden. Aber was soll’s? Ich habe viel zu Hause gelernt. Bis 1987 bin ich nicht im Westen gewesen, nur einmal zum Karajan-Wettbewerb 1977 in Berlin. Aber dafür habe ich im Kirov-Theater (heute Mariinsky-Theater, Anm. d. Red.) dirigiert, in Armenien das Staatsorchester, in Moskau, Studentenorchester und Orchester aus Sibirien. Ich habe in der Sowjetunion mein Handwerk gelernt und darüber bin ich froh. Bezüglich "Semyon Kotko" denke ich auch nicht, dass Russland eine Diskussion nötig hätte.
Zu Sowjetzeiten konnten wesentlich mehr Petersburger als heute das Mariinsky besuchen, aufgrund der niedrigen Kartenpreise.
Gergiev: Sicher waren die Karten damals nicht so teuer, 3-4 Rubel und das war für jeden erschwinglich. Aber sie waren auch schnell ausverkauft, weshalb man sie auch abonnieren musste. Im Moment gibt es bei uns kein Abonnement, vielleicht sollten wir das wieder einführen. Aber man muss generell sagen, dass die 90er Jahre sehr schwer für uns waren, da sämtliche künstlerische Einrichtungen viel zu gering finanziell gefördert wurden. Heute höre ich eigentlich wenig, dass sich die Leute über die Kartenpreise beklagen würden. Wir machen ja auch eine Reihe von Aufführungen mit billigen Tickets und manche Veranstaltungen sogar ganz kostenlos. Für Studenten zum Beispiel – ich habe 2001 fünf oder sechs mal in der Universität dirigiert, und die Studenten zahlen nichts. Es ist uns wichtig, für die Studenten zu spielen, denn sie sind unsere Zukunft, die kommend intellektuelle Elite unseres Landes, Wissenschaftler, Juristen – Leute die dieses Land führen und regieren werden.
Wladimir Putin war auch schon mehrmals im Mariinsky.
Gergiev: Seine Tochter studiert Musik und ich denke, in Familie Putin gibt es das Interesse für klassische Musik nicht erst, seit dem er Präsident geworden ist. Andererseits sind Präsidenten sehr beschäftigte Leute. Da ist es schon viel, wenn er vielleicht vier Mal im Jahr ins Mariinsky-Theater kommt, und das zeigt, wie viel aktiver Mariinsky ist als andere kulturelle Institutionen. Wir hatten in den vergangenen Jahren große Premieren wie die unseres neuen "Nussknackers" oder die von "Krieg und Frieden" …
… wo neben Putin Tony Blair in der Königsloge Platz genommen hat.
Gergiev: Richtig. Aber ich will gleich dazu sagen, wir werden jetzt nicht beauftragt "Krieg und Frieden" zu spielen, damit die Politiker kommen. Nein, wir setzen "Krieg und Frieden" an, die Politiker sehen das als großes Event und kommen. Wenn ich in Sankt Petersburg "Boris Godunov" oder "Pique Dame" ansetze, dann denke ich ja noch nicht daran, ob der Präsident kommt. Da denke ich in erster Linie erst mal an einen handfesten Spielplan. Es kommen ja auch noch andere, der japanische Premier, Angehörige des englischen Königshauses, die Königin der Niederlande … Aber für niemanden würden wir eine Ausnahme machen. Es geht um ein gutes, gesundes Theaterkonzept, präsent und aktiv zu sein. Und dann sehe ich, wenn ich mit dem Mariinsky in Moskau gastiere, dann kommt nicht nur Putin.
Moskau hat mit dem Bolschoi Theater auch ein sehr angesehenes Opernhaus. Gibt es einen Konkurrenzkampf?
Gergiev: Nein, da gibt es keinen Kampf. Ein bisschen Rivalität ja, Neid und Eifersucht von Moskauer Seite, das gab es schon immer. Sankt Petersburg hat eben die Eremitage und das Mariinsky und die sehen nicht gerade kleiner aus als Moskauer Institutionen auf diesem Gebiet.
Kommen wir einmal zu Ihren Erfahrungen mit den USA. Viele Tage verbringen Sie jedes Jahr auf der anderen Seite des Atlantik, Sie dirigieren neben ihrem Wirken als erster Gastdirigent an der Metropolitan Opera Konzerte in verschiedenen Bundesstaaten.
Gergiev: Ganz allgemein, was uns verbindet, Russland und die USA das ist vor allem die Größe. Wir denken anders als man in Luxemburg denkt. Wenn man in einem großen Land lebt, dann hat man auch die Möglichkeit ‚groß‘ zu denken.
Letztes Jahr dirigierte ich vier Konzerte hintereinander in der Carnegie Hall. So etwas ist sehr aufregend, das ist eine Herausforderung. Da muss man seine Arbeit gut verkaufen, man muss die beste Leistung bringen, denn die Leute sind überfüttert mit Konzerten und gehen nur zu den besten. Solche Konzerte in den USA sind für mich immer eine Herausforderung, für mich und das Mariinsky. Aber es ist auch zufriedenstellend, weil ich der Welt zeigen kann, was mein Theater kann.
Und außerhalb des Konzertlebens, wie sind da Ihre Erfahrungen mit den USA?
Gergiev: Ich würde nicht wie ein Amerikaner leben wollen, muss ich zugeben, schon weil ich aus einer ganz anderen kulturellen Umgebung komme. Es ist doch aber gut, dass es diese Unterschiede gibt, man sollte diese Unterschiede auch aufrecht erhalten und nicht auflösen. Ich respektiere die große Haltung von Respekt der Amerikaner. Sie respektieren vielleicht nicht alles, aber sie respektieren ihr Gesetz, ihre Flagge, ihre Hymne, ihren Pass. Sie übertreiben vielleicht auch ein bisschen und wissen manchmal nicht, wie schön andere Pässe, Flaggen oder Hymnen sind. Aber das will ich nicht verurteilen, man kann diese Leute nicht verurteilen, nur weil sie denken, sie sind die allerbesten und stärksten. Die Fakten sprechen auch in vielen Fällen dafür, dass sie es sind. Aber anstatt dass wir eifersüchtig auf die Amerikaner sind, sollten wir einfach hingehen und sagen: schaut her, wir sind auch stark und erfolgreich. Die Brasilianer zum Beispiel, die haben uns doch gerade wieder gezeigt, dass es im Fußball noch Könige gibt. Vielleicht nicht ganz so großartig, wie früher das Pelé-Team, aber sie haben auf ihre Weise gezeigt, dass sie fähig sind, größere und reichere Länder auszuspielen. In einem so beliebten Sport haben sie gezeigt, dass sie die besten sind. Und wenn Brasilien für sehr guten Fußball steht, dann steht Russland auch für sehr gutes Ballett, wieso eigentlich nicht. Wir müssen der Welt zeigen, dass wir es mindestens genauso gut wie alle anderen auch machen.
Konkret zur Arbeit am Pult – wie inspirieren Sie Ihr Orchester?
Gergiev: Wenn mir an dem Gespielten etwas nicht gefällt, dann merkt das Orchester das sehr schnell. Inspirieren kann ich mein Orchester nicht. Aber wenn die Musiker sehen, dass ich alles gebe, was ich habe und versuche sie zu entflammen, dann ist es möglich, dass der Funke überspringt. Ich mag mein Orchester sehr und kümmere mich sehr um sie – und ich hoffe, dass die Musiker mich auch mögen.
Wenn etwas falsch läuft bin ich ein bisschen hart und sage: wir müssen immer gut spielen und uns immer daran erinnern, das Beste zu geben – wenn sie das nicht tun, rege ich mich immer ein bisschen auf.
Fotos von Ihnen zeigen oft einen wilden Dirigenten mit Schweißperlen auf der Stirn.
Gergiev: Ja, aber das ist mein Beruf, da kommt man schon manchmal ins Schwitzen. Ich liebe Oper und die klassische Musik und will die Leute dafür begeistern, vor allem in meinem Land. Wir musizieren ja, weil wir für das Publikum musizieren. Und ich hoffe, dass wir mit jeder Aufführung mehr Menschen zur klassischen Musik bringen. Wir hoffen, jeden Zuhörer so schnell wie möglich wieder in unseren Konzerten zu sehen. Dieses Jahr habe ich ein neues, großes und wichtiges Festival ins Leben gerufen, das "Moscow Easter Festival", mein zweites Festival sozusagen neben dem "White Nights Festival" in Sankt Petersburg. Mit so einem Festival hoffe ich, weiterhin so viele Menschen wie möglich anzuziehen und für klassische Musik zu begeistern.
Angesichts des immer weiter wachsenden Massenmarkts der Popmusik fällt es weltweit ja vor allem schwer, die jüngere Generation zur klassischen Musik zu bringen. Wie lautet da Ihr Rezept?
Gergiev: Du musst es erstens gut machen, und zweitens musst du es für sie machen. Die jungen Menschen dürfen nicht denken, dass die Musiker auf der Bühne so ein Konzert nur für sich selbst machen. Man muss dabei auch herausfinden, wie Kinder Musik erleben. Für Kinder muss man die Dinge spannend und aufregend gestalten. Aber nicht jeder muss jetzt klassische Musik hören. Man sollte aber diese 5-10 Prozent finden, die klassische Musik mögen. Wenn es dann aber nur ein Prozent aller Kinder sind, die zu klassischen Konzerten kommen, dann zeigt das, dass wir es nicht gut machen.
Generell stehen Kinder und steht die Gesellschaft heutzutage unter einem erheblichen kommerziellen Einfluss, mit der Tendenz, dass nur noch das zählt, was sich gut verkauft und rentiert. Wenn man dieser Tendenz folgt, dann werden Dinge wie Porno dominieren. Dann würden auch neue Einsteins oder Mozarts überschattet durch die Popindustrie und kommerzielle Filme, in denen Menschen sich gegenseitig umbringen. Bei Kindern wissen wir ja, dass sie solche Filme vor allem wegen der Aufregung angucken, wo es große Kämpfe, Morde, Katastrophen, Feuer und Explosionen gibt. Das finden sie aufregend, weil sie nicht wissen, was es sonst noch für aufregende Dinge gibt, wie eben die klassische Musik. Oder eben, die klassische Musik wird nicht so aufregend dargeboten wie sie eigentlich ist. Ich werde natürlich meine Konzerte in Zukunft nicht dirigieren, umgeben von tausend Spezial-Effekten und Feuerwerk, das wäre der falsche Ansatz. Es für die Kinder aufregend und spannend zu machen, den Weg müssen wir finden – das ist nicht einfach. Aber da es auf dieser Welt so viele gute Musiker gibt, würde ich die Schlacht noch nicht verloren geben.
Wie war das denn bei Ihnen als Kind, war der Beruf Dirigent schon immer Ihr Traum?
Gergiev: Nein, ich habe nicht viel geträumt oder geplant. Mir wurde gesagt, es wäre gut, wenn ich Ingenieur würde oder ein bekannter Wissenschaftler. In der Schule war ich tatsächlich gut in Mathe und habe Geographie sehr geliebt. Aber dann habe ich mich mehr und mehr für klassische Musik interessiert, dank meiner Lehrer. Und ich habe es meinen Eltern zu verdanken, dass ich die Möglichkeit wahrnehmen konnte, dieses Interesse weiter zu verfolgen.
Was macht Valery Gergiev, wenn er mal nicht gerade den Taktstock schwingt?
Gergiev: Ich mag gutes Essen, ich mag guten Wein, also treffe ich mich nach Konzerten oft mit Freunden und wir gehen essen. Sauna mag ich und im See schwimmen. Manchmal spiele ich auch Fußball, in letzter Zeit allerdings weniger, weil ich mich dabei schon verletzt habe und meine letzten Spiele nicht besonders erfolgreich waren. Ich habe früher auch sehr viel Tischtennis gespielt. Und ich mag es, Tennis zu gucken. Wobei ich finde, dass Tennis früher spannender war, als noch John McEnroe oder Jimmy Connors spielten oder die Generation von Ivan Lendl.
Aber die Russen haben doch heute wieder jemanden unter den Top10.
Gergiev: Das schon, aber ich finde das Spiel heute nicht mehr so spannend. Der erste Aufschlag entscheidet heute ja fast jeden Ballwechsel. Mir gefällt dieses Kanonen-Tennis nicht, das ist zu schnell und demonstriert nur athletische Kraft und hohe Präzision. Im Spiel fehlt oft die Phantasie, die Schönheit. Das habe ich beim Tennis immer geliebt, aber davon gibt es heute nicht mehr viel. Ich hoffe nur, die Zeiten kommen wieder.
Da fällt einem das WM-Finale Brasilien-Deutschland ein, Ballkünstler gegen Powerfussball.
Gergiev: Ja, aber wie gesagt, ich fand das Spiel der Brasilianer dieses Jahr nicht so gut, wie 1970 in Mexiko mit Pelè. Aber es sind immer noch Künstler, viel mehr als die anderen Teams.
Brasilien war dieses Jahr also von Anfang an Ihr Favorit?
Gergiev: Zu Anfang nicht. Ich hatte zuerst auf Argentinien getippt oder Frankreich. Ich wusste auch, dass die Spanier und Italiener gut werden. Die Engländer hätten auch besser abschneiden müssen, bei denen sah es im Vorfeld ja sehr gut aus, nur hatten sie dann weniger Glück. Aber es ist gut für den Wettbewerb, wenn dann auf einmal die Koreaner oder die Senegalesen mitmischen. Das ist gut für den Weltsport und für die Weltkultur.
Zum Abschluss: Was denken Sie, welche Opernrolle würde Sie am besten charakterisieren?
Gergiev: Ich würde – in kleiner Ausführung versteht sich – eine Rolle von Peter dem Großen spielen. Er hat nicht das längste Leben gelebt, aber er hat eines der schönsten Symbole menschlicher Entwicklung erbaut. Das Bauwerk heißt Sankt Petersburg. Er hatte eine Vision und er hatte Kraft, diese Vision Realität werden zu lassen. Er hatte ein Ziel, er wusste, was er wollte, er war dabei vielleicht auch manchmal brutal – aber er hat sein Ziel nie aus dem Auge verloren. Viele Leute fanden ihn großartig, andere fanden ihn nicht wirklich nett. Aber ich glaube, er war die richtige Art Zar von Russland. Russland ist eben nicht Luxemburg, wie ich vorhin schon sagte. Zar Russlands zu sein, ist die eine Möglichkeit, ein Land demokratisch zu führen – Premierminister eines akkuraten, ruhigen europäischen Landes sein, ist die andere Möglichkeit. Russland ist eine Herausforderung, ein riesiges Territorium mit einer großen Menge an Bodenschätzen, immer in der großen Gefahr internationaler blutiger Konflikte. Da braucht man jemanden mit einer Vision und Kraft. Das schlimmste für Russland wäre das Chaos – man muss sich also sehr gut überlegen, für was für eine Regierung man sich entscheidet. Was ich Russland jedenfalls nicht wünsche, sind 20 einzelne Staaten, anstelle von dem, was heute Russland heißt. Das wäre nicht nur für die Russen, sondern auch für die ganze Welt nicht gut.
Sie haben also Hoffnung, was die zukünftigen Entwicklungen anbelangt.
Gergiev: Nicht nur Hoffnung. Vertrauen. Zuversicht. Wissen.