Die Schlagzeilen der letzten Monate um Personen wie Möllemann und Friedman zeigen, dass man sich trotz politischen Instinktes irgendwann verrennt. Wo verläuft die dünne, rote Linie, die das politische Mandat und die persönliche Versuchung trennt?
Gysi: Das ist generell schwer zu sagen, weil auch Politikerinnen und Politiker ja höchst unterschiedlich sind. Aber, es ist natürlich so, dass Politiker oft das Gefühl haben eher benachteiligt zu sein. Die materielle Versorgung sieht tatsächlich je nach Blickwinkel höchst unterschiedlich aus. Aus der Sicht der durchschnittlich Verdienenden in Deutschland oder gar derjenigen, die in einer äußert schwierigen sozialen Lage sind, verdienen Politiker unverhältnismäßig viel. Aus der Sicht derjenigen, mit denen es Politiker gerade auf Bundesebene regelmäßig zu tun haben – eher wenig. Sie führen viele Gespräche mit erfolgreichen Unternehmerinnen und Unternehmern, erfolgreichen Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Und da kommen sich die Politiker so vor, als ob sie sozusagen aus der Gruppe der Sozialhilfeberechtigten diese Gespräche führten. Es ist einfach so: Je nachdem, mit wem man sich als Politiker gerade unterhält, entsteht ein völlig unterschiedliches Bild im Kopf. Gerade die Politiker, die nicht so bekannt sind, leiden beispielsweise oft darunter, dass ihre Arbeit von der Öffentlichkeit so gut wie nicht wahrgenommen wird. Darüberhinaus leiden sie unter dem schlechten Ruf der Politik.
Wie äußert sich das?
Gysi: Das hängt beispielsweise damit zusammen, dass Politiker nicht immer verstehen, wieso eigentlich ihre Diäten, nicht aber die Gehälter von Richtern am Bundesgerichtshof oder am Bundesverfassungsgericht kritisiert werden. Nicht mal die Gehälter in den Chefetagen der Industrie stören die Wähler so sehr wie die der Bundestagsabgeordneten.
Auch CEO-Gehälter werden zunehmend kritisiert – wenigstens von den Aktionären.
Gysi: Denen kommt trotzdem der Eindruck einer Einzelleistung zugute, während man vom Bundestag vielleicht denkt: "Da sitzen 600 Leute rum, aber nur zehn von denen haben wirklich etwas zu tun." Das sind natürlich die selben, die man ständig im Fernsehen sieht. Aber was machen eigentlich die anderen? Hinzu kommt, wie Politiker auftreten, was sie von sich selbst und anderen verlangen, so dass auch eine Art Missgunst entsteht. Und zu guter Letzt sind Politiker zumindest ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad sehr stark in der Öffentlichkeit. Sie fühlen sich einerseits gebauchpinselt und geschmeichelt, denn das unterstreicht ihre Eitelkeit. Aber es beeinträchtigt auch ihr Privatleben. Was für andere normal ist, ist für sie alles verboten. Da entsteht dann ein Denkfehler: Wir verlangen von den Politikern eine Moral, die überhaupt nichts mehr mit den gesellschaftlichen Realitäten zu tun hat. Übrigens: Hätte man solche moralisch "perfekten" Politiker, wäre das auch gar nicht gut, weil das nämlich bedeutete, dass sie so abgehoben wären, ein so extrem anders Leben führten als andere, dass sie ergo wieder null Verständnis für die Schwächen, die in der Bevölkerung durchaus verbreitet sind, aufbringen könnten.
Aber wie sieht es hinter den Kulissen mit den Verlockungen aus? Was haben Sie erlebt?
Gysi: Verlockungen? Ich weiß es nicht, ich hatte eine andere Stellung. Das kann man so nicht vergleichen. Als ich Fraktionsvorsitzender der PDS im Bundestag war, da war das ja keine umworbene Partei. Und bevor das vielleicht in Berlin hätte anfangen können, war ich ja schon wieder weg. Deshalb kenne ich diese Art der Verführung nicht. In der PDS habe ich gar keine besondere Chance gehabt, besonders unmoralisch zu werden. Mit anderen Worten: Verlockungen hängen immer auch von der gesellschaftlichen Rolle ab, die eine Person oder Partei spielt. Deshalb haben Sie zum Beispiel auch über viele Jahre diesbezüglich nichts von den Grünen gehört und erlebt, da sie für die gesellschaftlichen Gruppen, die solche Verführungen anbieten könnten, gar nicht von Relevanz und Interesse waren.
Bis zur Affäre Moritz Hunzinger und dem Grünen Cem Özdemir.
Gysi: Na ja, es gab da auch mal eine Ministerin, die ihrem Mann Aufträge zugeschanzt haben soll – es fing schon früher an. Die Veränderung begann damit, dass die Partei an Einfluss gewann und damit auch für neue Kräfte von Interesse wurde. Ich sag‘ mal, noch vor zehn Jahren hätte Herr Hunzinger einem Grünen wahrscheinlich kein Darlehen gewährt, wozu hätte ihm das auch genützt? Erst mit der Zunahme von Macht beginnt ja diese Art von Verführung.
Auch Sie sind über eine Verführung gestolpert, wir erinnern uns an die Bonusmeilen.
Gysi: Mein Fehler lag auf einer anderen Ebene. Ich habe einen Fehler begangen, den ich mir auch übel nehme, aber nicht dadurch, dass mit irgendjemand ein Angebot gemacht hätte und ich mich darauf eingelassen hätte. In dem Sinne war ich nie käuflich. Das wäre ich auch sicher in meinem Amt als Senator nicht geworden. Denn mir fehlt in dem Sinne nichts. Es gibt nichts, von dem ich sage, das muss ich noch unbedingt in meinem Leben haben, und dafür überspringe ich auch die Grenzen A, B und C, um das zu bekommen. Und wenn ich in Urlaub fahren will, kann ich mir das auch leisten, das muss ich mir nicht von irgendwelchen Unternehmen finanzieren lassen. Da muss man vielleicht vorsichtig bei der Beurteilung anderer sein, die vielleicht aus einer völlig anderen sozialen Situation kommen als ich – und den gleichen Verlockungen ausgesetzt sind.
Aber wie weit greifen generell Interessengruppen in das politische Alltagsgeschäft ein: Man hat stets Forderungen zu vertreten – kommt man da früher oder später an einen Punkt, wo man nicht mehr Herr im eigenen Hause ist?
Gysi: Im Kern ist es die Verlockung, etwas für eine bestimmte Gruppe von Menschen oder auch für einzelne Menschen durchsetzen zu können und sich dadurch selbst zu beweisen, zu bestätigen, und Dank zu ernten. Und weil du auch für dich das Erfolgserlebnis brauchst, es durchgesetzt zu haben. Vielleicht ist das für Oppositionspolitiker zum Teil noch wichtiger als für Regierungspolitiker: Du hast dich so daran gewöhnt, dass deine Vorschläge abgelehnt werden, dass du dann vielleicht auch mal nach einem Erfolgserlebnis gierst. Das heißt für einen Oppositionspolitiker erst mal: Du musst dir auf eine andere Art Erfolgserlebnisse organisieren, etwa durch eine gute Rede, oder durch die Zustimmung, die ein Vorschlag von dir außerhalb des Bundestags erhält – selbst wenn er dann im Bundestag abgelehnt wird. Das verführt dich dann gelegentlich zur Kungelei mit den Regierenden – um eben auch mal etwas durchgesetzt, etwas erreicht zu haben. Auch ein Anwalt muss damit leben, dass seine Anträge abgelehnt werden. Aber er kann natürlich nicht damit leben, dass alle seine Anträge immer abgelehnt werden.
Wie sieht es denn mit den Erfolgserlebnissen des Anwalts Gregor Gysi aus?
Gysi: Also, im Anwaltsberuf, da hat man eine Mischung, das heißt an einem Tag ein Erfolgs- und ein Misserfolgserlebnis, in diesem Sinne ist der Anwaltsberuf ein klassischer Mischberuf. Man ärgert sich ja auch über seine Mandanten. Wenn du für die Mandanten relativ erfolgreich bist, dann darfst du nicht allzu viel Dank erwarten. Aber wehe, es geht etwas schief, dann gibt es ein riesiges Theater!
Aus welchen gesellschaftlichen Bereichen kommen Ihre Mandanten heute?
Gysi: Da ist sehr verschieden, ein bisschen wie früher, ich erlebe das volle Spektrum der Bevölkerung. Da sind wichtige Wirtschaftsleute dabei, da sind Kulturleute dabei, da ist aber auch der Sozialhilfeempfänger, der für einen Zuschuss für ein Auto mit Rollstuhl kämpft. Und oft sind mehr Verhandlungsaufträge als forensische Gerichtsaufträge dabei, sprich: dass man mich fragt, ob ich nicht vielleicht außergerichtlich eine Angelegenheit regeln könnte. Viele wollen ja nicht die Krach-Auseinandersetzung, sondern schlicht eine Lösung ihres Problems. Deshalb bemühe ich mich auch, wenn es geht, Probleme eher außergerichtlich zu erledigen.
Die Politiker sind davon überzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger für alles, was sie machen, stets ein edles Motiv erwarten. Also denken sich die Politiker auch immer eine edles Motiv aus.
Der Ex-Greenpeace-Geschäftsführer Thilo Bode schreibt in seinem aktuellen Buch, der "von der Demokratie zur Lobbykratie mutierte Parlamentarismus sei höchstens durch außerparlamentarische Organisationen wie Greenpeace reformierbar". Er plädiert dafür, die Demokratie wieder von außen zu stärken. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hingegen meint, solche Einmischungen von außen wären nicht hilfreich, die Demokratie sei stark genug.
Organisationen bilden sich letztlich auch zu dem Zweck, selbst Lobbyarbeit zu betreiben. Das muss man ja nicht nur negativ sehen. Wenn eben zum Beispiel die Umweltfrage stark vernachlässigt ist im gesellschaftlichen Bewusstsein, in der Öffentlichkeit, erst recht in der Politik, dann bilden sich Organisationen, die versuchen, mit Aktionen, die Umweltproblematik wieder ins Bewusstsein zu rücken, auch in das Bewusstsein der Politiker – und damit werden sie zu einer Lobby für die Umwelt. Und je stärker sie öffentlich wahrgenommen werden, desto stärker werden sie auch von der Politik wahrgenommen und desto größer ist die Chance, dass sie das eine oder andere auch erreichen und durchsetzen werden.
Herr Thierse und andere Parlamentarier waren ein bisschen mokiert, weil sie befürchteten, dass die Demokratie von innen, also aus dem Parlament heraus, immer schwächer werden könnte, wenn solche Fragen gestellt werden. Wie sehen Sie das?
Das ist ein sehr weites Feld. Es fällt mir schwer, das mit wenigen Sätzen zu erklären. Sie müssen mal über die Bedeutung des Satzes von Schröder nachdenken, auf die Frage, weshalb die Reform der Bundesanstalt für Arbeit erst so spät gekommen ist und warum er nicht gleich zu Beginn der ersten Legislaturperiode diesbezüglich einen Reformprozess eingeleitet hätte: Da hat Schröder gesagt, dass es ohne den Skandal, den es damals ja wegen vermeintlich falscher Statistiken gegeben hat, gar keine Chance zur Reform einer solchen Anstalt gegeben hätte. Er sagte das damals etwa so: "Es bedurfte eines schwerwiegenden äußeren Anlasses, um diese Reformen in Angriff zu nehmen." Darüber sollte Thierse viel länger nachdenken, denn das bedeutet doch im Kern, zu sagen: Veränderungen setzen eine Art Skandal voraus, vorausschauende Politik ist nicht mehr möglich. Wenn ich jedoch mitbekomme, dass eine Struktur überholt ist und uns in drei Jahren schwer auf die Füße fallen wird, und ich beginne aus genau dieser Erkenntnis heraus bereits heute, die Struktur zu verändern, dann – so Schröder – bekäme ich dafür heute keinerlei Akzeptanz. Erst wenn etwas fast schon kollabiert ist, gäbe es die Bereitschaft Reformen zu akzeptieren. Denn nur dann wäre der Widerstandswille so gering, dass etwas durchsetzungsfähig wird. Das aber schränkt die Demokratie und Politik enorm ein! Denn das heißt ja, dass man zu einer strategischen, langfristigen Politik nur noch sehr begrenzt in der Lage ist. Man braucht den Skandal, um notwendige Veränderungen herbeizuführen! Und das macht mir Sorge, ja.
Sie reden sozusagen von einer Pattstellung, die eine handlungsfähige Politik unmöglich macht?
Mir tun die so genannten Normalbürgerinnen und Normalbürger leid, die innerhalb der Bannmeile nicht demonstrieren dürfen, damit die Abgeordneten schön unbeeinflusst sind. Aber alle, die mehr Einfluss haben, von den Gewerkschaften über die Kirchen bis hin zu den Arbeitgeberverbänden, die sitzen ständig bei den Politikern und machen direkt vor Ort ihre Lobbyarbeit. Aber die, die das nicht können und darauf angewiesen sind, es mittels einer Kundgebung zu tun, die schickt man aus der Bannmeile raus und sagt: Das könnt ihr irgendwo machen, aber bitte nicht in unserer Nähe, das beeinflusst und ist unzulässig. Das fand ich schon immer absurd in Anbetracht der Realitäten der politischen Landschaft. Nur gibt es diesbezüglich auch keine Ehrlichkeit in Deutschland, das ist ja nicht wie in den USA.
Welchen Unterschied in punkto Ehrlichkeit sehen Sie denn im Vergleich zu den USA?
Als ich das letzte mal in New York und Washington war, habe ich mich am meisten über die Visitenkarten gewundert, die mir dort die Leute in die Hand gedrückt haben: Auf denen stand dann zum Beispiel: "Lobbyist der Chemieindustrie", oder "Lobbyist der Tabakindustrie". Diese Lobbyisten haben wir hier auch, aber sie würden das nie einräumen, geschweige denn auf ihre Visitenkarte drucken. Hier würden sie immer sagen, sie wären "Repräsentanten" der Industrie XY in Berlin und führten deshalb gelegentlich Gespräche mit der Politik. Sie würden sich aber immer dagegen verwehren, als Lobbyisten bezeichnet zu werden. Aber da Lobbyisten nun einmal zum Kapitalismus mit dazugehören, finde ich es ehrlicher, wenn die Leute auch zu ihrem Beruf stehen – so wie in den USA.
Waren Sie als Abgeordneter oder Senator einmal selbst Lobbyist?
Das kommt darauf an, wie man das versteht. Ich war natürlich nie Lobbyist einer bestimmten Wirtschaftsgruppe oder einer Interessengruppe, die sich gegen alle anderen durchsetzen wollte. Aber natürlich war ich Lobbyist der Ostdeutschen, wenn Sie so wollen, oder Lobbyist von Leuten, von denen ich meinte, dass sie dringend der Vertretung in der Politik bedürften. Aber das ist dann ein ganz anderer Begriff, weil ja normalerweise unter Lobbyismus verstanden wird, dass einer auf unzulässige Art und Weise bestimmte Interessen versucht durchzusetzen und zwar auch noch zum Schaden anderer. In dem Sinne war ich das nie, aber in dem anderen Sinne: klar.
Ist die charmant-offensive und gleichzeitig pragmatische Art, wie Sie auftreten und auf Leute zugehen, vielleicht eher die eines amerikanischen Politikers?
Das kann schon sein, ich habe damit auch kein Problem. Als ich in den USA war, habe ich ja auch mit führenden Wirtschaftsleuten geredet, und wir haben über Profit und Arbeitsplätze gesprochen. Das heißt vielmehr, die haben über Profit gesprochen und ich über Arbeitsplätze, und gemeinsam haben wir geguckt, ob wir da irgendwie zusammen kommen können. Jeder deutsche Verbandspräsident würde mir lange erzählen, dass er eine Steuersenkung will, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, er würde nie sagen, um seinen Gewinn zu erhöhen, weil das aus irgendwelchen Gründen als unmoralisch gilt. Aber genau das macht es hier so schwer, das passiert denen in den USA nicht. Man macht sich gegenseitig nicht so viel vor und das liegt mir, ich mag das viel lieber, als dieses ewige Drumherumgerede! Ich glaube, die Wähler könnten mit Politikern und Interessengruppen, die ganz klar sagen, was und warum sie etwas wollen, viel besser umgehen.
Aber was sind die Gründe dafür?
Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Politiker davon überzeugt sind, dass die Bürgerinnen und Bürger für alles, was sie machen, stets ein edles Motiv erwarten. Also denken sich die Politiker auch immer eine edles Motiv aus. Das ist ein gegenseitiges Verhältnis. Möllemann hat seinerzeit in seinem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen den Wunsch nach Ehrlichkeit in neuer Weise bedient: Er war der erste, der sich hinstellte und sagte, "ich will in den Landtag, dann will ich Kanzlerkandidat meiner Partei werden." Das brachte ihm Zulauf, weil es eine Stimmung in der jüngeren Generation gab, die diesen Ansatz belohnte. Es war ein Stück ehrlicher, es war auch fordernder, die Generation war auch fordernd und das passte kulturell zusammen. Aber was Möllemann nicht mitbekommen hatte – und auch andere in der FDP nicht -, das war der Umstand, dass diese Stimmung schon bald wieder vorbei war und man sich wieder nach Visionen sehnte. Das ist nämlich die nächste Anforderung die Politiker erfüllen müssen: Du kannst so pragmatisch sein wie du willst, du kannst alle Sachzwänge um dich wirken lassen, darauf auch reagieren – aber die Leute müssen wissen, wo du hin willst, nur dann wirst du berechenbar. So, wie man bei Willy Brandt und Helmut Kohl wusste, dass der eine für die Aussöhnung mit dem Osten stand und der andere für die deutsche Einheit und die europäische Einigung, und sie nichts vertreten hätten, was diesen Zielen – zumindest ihrer Meinung nach – hätte schaden können. Pragmatismus ist dann schädlich, wenn er nicht mehr auf ein Ziel gerichtet ist, sondern willkürlich wird, vom Tagesgeschehen und den Tagesmeldungen abhängig.
Wollen Sie darauf hinaus, dass Politik heute mehr und mehr nur reagiert, statt agiert?
Zum großen Teil ja, aber das hängt auch damit zusammen, dass auch die Wirtschaft ziellos geworden ist, denn durch das Diktat des Shareholder Values gibt es ja kaum noch Unternehmensstrategien: Du kannst es dir heute als Vorstandsvorsitzender selbst eines größeren Konzerns nicht leisten zu sagen: "Ich investiere eine Milliarde Euro, weil ich davon überzeugt bin, dass die sich in sechs Jahren trägt." Sondern du musst sagen, was deine Investition vom Freitag am Montag nützt – und wie sieht daraufhin der Aktienkurs am Dienstag aus? Wenn das so läuft, dann wird überhaupt nirgendwo mehr strategisch gedacht und entschieden, dann wirkt alles sehr zufällig. Und wenn dann außerdem die nationale Politik und auch die internationale Politik fast alle Regulierungen für die weltweite Finanzwelt aufhebt, dann hat sie sich abhängig von der Finanzwelt gemacht, indem sie das Primat der Politik aufgegeben hat. Wir haben kein Primat der Politik mehr! Wir haben zwar eine Weltwirtschaft, aber wir haben keine Weltpolitik – es gibt de facto kein Pendant zur Weltwirtschaft, und nationale Politik ist der Weltwirtschaft nie und nimmer gewachsen. Man bestreitet diese Art von Abhängigkeit auch gar nicht mehr, man sagt vielmehr: Das mag ja sein, dass eine Vermögensteuer gerecht wäre, aber führten wir sie ein, hätten wir sie und das andere Land hätte sie nicht, und in der Folge würden alle in das andere Land gehen. Und genau solche Dinge führen auch zur Unzufriedenheit der Politiker und führen auch dazu, dass sie gelegentlich Grenzen überschreiten oder insofern eine falsche Politik machen, als sie um Befugnisse kämpfen. Wenn man so viele Befugnisse nach Europa abgeben muss, wenn man so viele Befugnisse an die Wirtschaft abgeben muss, dann klaut man als Politiker wenigstens den Ländern ihre Befugnisse. Und weil die dann kaum noch was zu sagen haben, klauen sie wiederum die Befugnisse der Kommunen. Dann entsteht die Ohnmacht der Kommunen, und deshalb gehen Menschen auch kaum noch zur Kommunalwahl, weil sie sagen: Da kann ich mir nur das Gesicht aussuchen, das nichts am besten verwaltet. Zu sagen hat dort der eine genauso wenig wie der andere. Das ist gefährlich, weil es nämlich nicht nur Politikverdrossenheit zur Folge hat – das wäre nicht so dramatisch – nein, das Gefährliche ist, dass die Leute demokratieverdrossen werden.
War das auch mit ein Grund für Ihren Ausstieg aus der Politik?
Nein, da ich mich ja sehr bewusst entschieden hatte, eine Partei in dem Moment zu übernehmen, als sie ihre Macht verlor, bin ich ja ein bisschen Anwalt geblieben. Ich bin gar nicht so gerne Richter, ich stelle lieber Anträge. Gut, Wirtschaftssenator hätte ich schon gerne eine Legislaturperiode durchgezogen, ich mache nichts gerne so kurz. Ich mache aber auch nichts gerne ewig. Also, wenn ich etwas anfange, dann fange ich auch schon an, über das Ende nachzudenken. Ich bin dennoch sehr diszipliniert und bin ja auch, außer als Wirtschaftssenator, nie zurückgetreten, das sah nur so aus. Ich habe immer nur gesagt, beim nächsten Mal kandidiere ich nicht wieder. Rücktritte mag ich eigentlich gar nicht, außer in Ausnahmesituationen. Ich finde schon, wenn man sich für etwas wählen lässt, dann muss man das auch für die Zeit, für die man gewählt ist, durchhalten.
Heißt das, Sie haben jetzt mehr Freiheiten, sogar mehr Interaktion mit Menschen außerhalb ihres politischen Amtes?
Sagen wir mal, es ist völlig anders, das kann man so gar nicht vergleichen. Wenn es nach mir gegangen wäre und ich mir das hätte aussuchen können, dann hätte ich mein Leben nach der Einheit in der Bundesrepublik Deutschland damit begonnen, dass ich erst einmal 200 Ehescheidungen und 200 Strafverteidigungen durchgeführt hätte. Und zwar, weil ich davon überzeugt bin, dass man eine Gesellschaft am besten über ihre Ehescheidungen und über ihre Kriminalität kennenlernt, zumindest als Anwalt. Über die Strafsachen lernt man alle Widersprüche einer Gesellschaft kennen, die Kriminelle für sich ja nur anders lösen als Nicht-Kriminelle. Und wenn man sie erst einmal kennengelernt hat, kann man einem über eine Gesellschaft nichts mehr vormachen.
Mein Startplatz war jedoch höchst unglücklich: Vom Bundestag aus eine Gesellschaft kennenlernen zu wollen, ist einfach der ungeeignetste Ort, den man dafür wählen kann.