Kim Ki-Duk

Wir reden jeden Tag viel zu viel – aber kommunizieren viel zu wenig.

Regisseur Kim Ki-Duk über seinen Film "Samaria", moralische Ansprüche, den Ehrbegriff und das biblische Motiv des "barmherzigen Samariters"

Kim Ki-Duk

© Yolanda García Hernández

Herr Kim Ki-Duk, Prostitution aus sozialer Not heraus, gibt es weltweit. Die Gründe für die in "Samaria" dargestellten Mädchen in der wohlhabenderen Metropole Seoul scheinen dagegen eher profan: Sie zeigen zwei Schülerinnen, die sich älteren Männern anbieten, um ihr Fernweh zu stillen. Diese Männer wiederum befriedigen ihr Verlangen nach jungen Körpern, um sich, "selbst wieder jung zu fühlen". Doch es scheint, als wollten Sie mit "Samaria" nicht einen Film nur zum Thema Prostitution drehen.
Ki-Duk: Nun, sicherlich ist das Thema Prostitution, vor allem mit Schülerinnen, ein Phänomen, welches in Korea wie auch in vielen anderen Ländern existiert und provoziert – doch darum ging es mir in diesem Film überhaupt nicht. Ich nutze die Rolle der beiden Mädchen ehr als Überbau, als Rahmen, in welchem die eigentliche Handlung angesiedelt ist. Es lag mir fern, einen Film über Prostitution zu drehen. Nein, vielmehr ging es mir darum, den aktuellen Zustand unserer Gesellschaft zu zeigen, die Konflikte und vor allem die Nicht – Bewältigung unserer Konflikte darzustellen: Sehen Sie: Die Freier drücken eine Begierde aus, ja, aber sind sie durch käuflichen Sex glücklicher? Sind sie zu verurteilen? Die beiden Schülerinnen spiegeln Sehnsüchte und den Wunsch nach Autonomie einerseits und die Anpassung an einen Moralbegriff und Familienehre andererseits wieder. Sie begegnen dieser Spannung allerdings mit einer ihr eigenen Leichtigkeit und Unbekümmertheit – zunächst!

Der Vater eines der Mädchen ist Polizist. Tochter und Vater führen im Grunde ein sehr harmonisches und fürsorgliches Verhältnis – dennoch sprechen sie nicht miteinander über ihre Probleme, auch nicht, als der Vater hinter das Geheimnis seiner Tochter kommt. Es gibt keine Frage nach dem Warum, keine Ursachenforschung – weshalb?
Ki-Duk: Sehen Sie, ihre Frage spiegelt, was ich mit diesem Film erreichen wollte, schön. Ich gebe in diesem Film keine Antworten, ich stelle Fragen, mehr noch: Ich lade das Publikum zu einer Diskussion ein, ja, der Zuschauer soll sich fragen, was denn gerade schief läuft in unserer Gesellschaft, was zu verbessern wäre, und dass trotz unserer ganzen Informationsflut immer noch nicht wirklich und wahrhaftig kommuniziert wird. Ich denke auch nicht, dass das ein typisch koreanisches Problem ist. Sicher, wir leiden unter diesem Konflikt von modernem Leben und alten Werten, von dem Auflösen patriarchalischer Familienstrukturen, von Familienstrukturen überhaupt und den täglichen Reizen, die uns überfordern. Das ist ein Problem, was in Korea wahrgenommen, aber kaum in den Medien diskutiert wird. Doch das ist nicht nur in Korea so.
Vielmehr geht es doch um das Leben wahre Werte wie Vertrauen, Ehre, Ehrlichkeit. Diese Werte trägt jeder in sich. Es liegt an uns, diese Werte auch zu verkörpern, egal, in welcher Gesellschaft oder Familienstruktur. Ja, gerade das Auflösen von alten Strukturen fordert doch das Leben von Werten. Die Gesellschaft wandelt sich, doch die Werte bleiben.

Ist Samaria also als ein "wertkonservativer" Film zu begreifen?
Ki-Duk: Nein, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich halte hier kein Plädoyer und stelle auch keine Moral zur Schau oder in Frage, nein, es geht darum, dass diese sehr extreme Gegenüberstellung der Figuren den Zuschauer ermuntern soll, sich selbst in diesem Konflikt zu suchen, seine eigenen Kommunikationsprobleme aufzubrechen und Fragen zu stellen!

Sie zeigen mit ihrer Haltung dennoch einen hohen moralischen Anspruch.
Ki-Duk: Tue ich das? Nun, es gibt Menschen, die "Samaria" als Sozialstudie betrachten werden, andere, die eher den Thriller sehen und wieder andere, die den moralischen, philosophischen Aspekt für sich entdecken. Es liegt an Ihnen, was sie aus dem Film mitnehmen. Natürlich sind diese drei angesprochenen Aspekte, die drei Handlungsebenen oder Kapitel, wenn Sie so wollen, im Film sichtbar. Sex, Gewalt und Geld treiben natürlich eine Geschichte voran, ich muss ja irgendwie erzählen können und greife zu emphatischen Mitteln, die die Story transportieren. Die wirkliche Story liegt jedoch auf einer Metaebene, die jeder für sich durchschreiten muss: Da hört ein wie auch immer gearteter Anspruch meinerseits auf, das kann ich auch nicht bieten. Ich entlasse ab dieser Ebene den Zuschauer in seine Gedankenwelt. Der Film ist, wenn Sie so wollen, ein Trigger ins eigene Bewusstsein.

Wie wichtig ist hier der Begriff der Ehre: ein Vater springt wegen seiner sexuellen Beziehung vor den Augen seiner Kinder in den Tod, der Polizist liquidiert einen Freier seiner Tochter brutal, verübt Selbstjustiz. Ist dies überzogen dargestellt oder ist das die Folge eines Ehrbegriffs, der vielleicht stärker in Korea verankert ist als in Europa?
Ki-Duk: Das mögen die Europäer besser bewerten, aber natürlich ist es so, dass jeder Mensch ein gewisses Quantum von nichtmateriellen Werten wie Ehre, Ehrlichkeit, Treue und so weiter in sich trägt und diese in den Höhen und Tiefen seines Lebens immer wieder in Frage stellt, neu auflädt oder – bedingt durch äußere Zwänge oder Konformitäten – entlädt. Die Frage stellt sich: Bis wohin? Ein Samurai tötet für die Ehre seines Herrn, ein Söldner tötet für Geld. Beide haben ihre Motive für ihr Handeln.
Grundsätzlich haben wir in Korea seit jeher einen Diskurs über die Rolle von Opfern und Tätern, das ist durch viele Kriege in unserer Geschichte bedingt: Wir neigen zu einer Schablonisierung von Gut und Böse, die leider nicht alle Facetten berücksichtigt, denn die Rollen von Opfern und Tätern wechseln. Das zeigt sich natürlich auch in der Haltung des Polizisten, der den Konflikt zwischen Gewissen, Gesetz und Ehre für sich entscheidet. Der Familienvater zeigt Täterwillen und Opferhaltung in Personalunion. Die Tochter fühlt eine Schuld, eine Ehre und ist gleichwohl Täter wie Opfer. Sie entscheidet sich für den Weg einer Barmherzigkeit mit den Tätern und macht sie so zu Opfern. Sehen Sie, nur zwischen Gut hier und Böse da zu trennen, ist ein zu einfacher Weg. Das Leben ist aber nicht einfach und vor allem nicht einseitig. Ich kann geschlagen werden, doch ich kann auch selber schlagen. Ich bin Täter und Opfer zugleich, nicht wahr?

Als das eine Mädchen aus dem Fenster springt, opfert es sich für die Ehre ihrer Freundin? Das barmherzige "Samarian Girl"?
Ki-Duk: Gut, ja. Sie zeigt Barmherzigkeit. Aber nicht nur für ihre Freundin. Auch für sich, vor allem aber für die Freier, die so ihrer Täterschaft enthoben und selber zu Opfern werden. Ihre Barmherzigkeit scheint hart, ja kalt, dennoch ist sie ein emotionsgeladenes Wesen, hin- und hergerissen im Innern, cool im Äußeren. Die Ursachen für ihre Entscheidung sind nicht zu eindeutig. Ich will als Filmregisseur auch niemals eine Entscheidung darüber fällen, welche Handlungsweise richtig und welche falsch sein kann. Ich urteile nicht. Ich fordere heraus, ich beobachte und damit biete ich dem Publikum verschiedene Perspektiven an.

Weshalb wählten Sie für ihren Filmtitel mit "Samaria" ein biblisches Motiv?
Ki-Duk: Nun, Die Kernfragen sind doch nicht nur biblisch oder christlich, doch in der Bibel mit ihrer universellen Sprache treffen wir natürlich auf viele Beispiele, wie sich diese Fragen darstellen: Wer entscheidet, was wir tun und lassen sollen? Wer urteilt darüber? Wer nimmt sich das Recht heraus, zu urteilen? Wer urteilt und richtet über uns? Die Geschichte um den barmherzigen Samariter in der Bibel inspirierte mich sehr, vor allem was sein Haltung betrifft: Der barmherzige Samariter urteilt nicht. Er handelt. Er handelt aus einem ihm ureigenen Bewusstsein, fern und frei jeder Bewertung. Diese Haltung birgt das Motiv für das "Samarian Girl".

Weshalb spricht der Vater eigentlich nicht mit seiner Tochter über die Prostitution? Scham? Schande? Angst?
Ki-Duk: Suchen Sie sich was aus. Das Motiv, was dem Zuschauer am ehesten geeignet scheint, ist vielleicht auch die Frage, mit der er sich gerade am meisten beschäftigt. Es ist doch ein Phänomen, dass wir jeden Tag viel zu viel reden, aber viel zu wenig kommunizieren. Kommunikation setzt einen Wunsch nach Erkenntnis voraus. Wie soll dieser Wunsch entstehen, wenn wir meinen, alles bereits im Voraus beurteilen zu können?
Der Vater liebt ja seine Tochter. Und sie ihn. Sie finden auf ihre Weise zueinander. Ist Reden da noch wichtig? Oder wurde noch nie richtig geredet? Verlangen wir etwas vom Menschen, was er vielleicht gar nicht bewältigen kann? Ist gar am Ende eine fabelhafte Eigenschaft, die Liebe zu einem anderen Menschen nicht auch das Hindernis, sich diesem in seinen dunklen Seiten zu nähern? All unser Tun birgt immer zwei Seiten in sich. Yin und Yang.

Für die Regiearbeit von "Samaria" wurden Sie zur Berlinale 2004 mit dem silbernen Bären ausgezeichnet. Wie reagierten Sie auf die Entscheidung der Jury?
Ki-Duk: Ich muss gestehen, ich war sehr, sehr überrascht, ich habe damit überhaupt nicht gerechnet und das meine ich ehrlich, denn bis kurz vor dem Filmfestival war ich noch gar nicht sicher, ob der Film überhaupt rechtzeitig aus der Postproduktion kommt und für die Berlinale vorgeschlagen werden konnte. Dann kam ich erst kurz vor der Aufführung, der Weltpremiere nach Berlin und kurz danach bekomme ich diese ehrenvolle Auszeichnung. Ich habe den Film im Akkord gedreht, hatte kaum Zeit, über das Ergebnis nachzudenken und plötzlich wird er prämiert. Das war alles etwas schnell…

Dabei gelten Sie doch als schnellster Regisseur Koreas, Sie unterboten mit der Dreharbeit an "Samaria" die Zeitvorgabe und sogar die Budgetvorgabe der Produktionsfirma. Was ist Ihr Rezept für diese im Filmgeschäft überaus seltene und effiziente Produktionsleistung?
Ki-Duk: Der Wunsch zu drehen, ein gutes Buch und vor allem ein gutes Team.

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