Jean-Jacques Annaud

Wir haben mit den Tieren viel mehr gemeinsam als wir glauben.

Jean-Jacques Annaud über seinen Tiger-Film "Zwei Brüder", psychologische Aspekte bei der Arbeit mit Tieren und schlechte Erinnerungen an seine Zeit als Werbefilmregisseur

Jean-Jacques Annaud

© Tobis Film

Herr Annaud, ein Merkmal Ihrer bisherigen Filme ist ja, dass Sie sehr wenig Wert auf das gesprochene Wort zu legen scheinen – jetzt haben Sie nach "Der Bär" Ihren zweiten Tierfilm gedreht, "Zwei Brüder". Wie wichtig bzw. unwichtig war Ihnen Sprache in diesem Film?
Annaud: Hier geht es um eine Geschichte, die aus der Sicht dieser beiden Brüder erzählt wird, die ja Tiger sind. Und natürlich können die nicht sprechen, aber trotzdem sind sie sehr ausdrucksstark, sie haben ein großes Vokabular an Geräuschen. Und die Menschen in diesen Film sind eher zweitrangig. Das ist so, als hätte ich einen Western gemacht hätte und würde ich nicht die Geschichte eines Cowboys erzählen, sondern die eines Pferdes. Was der Cowboy sagt, es kümmert uns nicht. Und so ist es auch hier, das Prinzip des Films ist, das wir sagen: wir kümmern uns nicht um die Menschen. Wir sehen sie wenn überhaupt als Feinde der Tiger. Ich musste den Part der Menschen in "Zwei Brüder" stark reduzieren um sicher zu gehen, dass wir Menschen, Zuschauer uns diesmal nicht mit der eigenen Spezies identifizieren, sondern es im Gegenteil vorziehen, uns mit den vierbeinigen Schauspielern zu identifizieren, mit den Tigern.
Was Ihre Frage betrifft, ich bin ein sehr starker Anhänger des Films als einer Kunst der bewegten Bilder, mit Ton. Wenn sich aber ein Film zum Beispiel auf eine Person reduziert, die uns sprechend die ganze Geschichte nur erzählt – dann ist das für mich wie eine Radiosendung und kein Film. Ich erzähle viel lieber mit der Kraft der bewegten Bilder, die Situation zeigend, anstatt nur mit Wörtern zu erklären, was passiert. Die Leute sollen selbst fühlen, man soll ihnen nicht erklären müssen, was sie fühlen sollen. Ich persönlich mochte beispielsweise sehr die Filme von Akira Kurosawa oder David Lean, wo du auf der Leinwand Bilder siehst, die dir viel erzählen.

Aber es ist nicht so, dass Sie sich erst die Bilder überlegen und dazu dann eine Geschichte erschaffen?
Annaud: Nein, die Geschichte kommt immer zuerst. Aber ich sehe eine Geschichte mehr als eine Abfolge von Bildern, anstatt dass sich der Zuschauer lange Dialoge anhören muss. Ich sehe es immer als Schwäche an, wenn ich in einem Film zu viel Dialoge benötige. Und bei "Zwei Brüder" habe ich mich um so wohler gefühlt, je mehr ich den Part der Menschen reduzieren konnte. Obwohl ich auch die Inkonsequenz unseres menschlichen Handeln zeigen wollte, das den anderen Lebewesen schadet, worüber wir zu wenig nachdenken. Ich will damit nicht sagen, dass wir alle schlechte Menschen sind – aber wir wissen oft nicht, was wir tun. Die Menschen sind manchmal sehr dumm, weil sie nicht bemerken, dass andere Lebewesen durch ihr Handeln leiden und das wollte ich zeigen.

Sie haben schon mal mit einem Bären gearbeitet – sind Tiger bessere Akteure als Bären?
Annaud: Die Arbeit mit den Tigern war dankbarer, weil diese Tiere eine viel größere Ausdruckskraft haben. Bären sind auch großartige Tiere, aber an ihrem Gesicht kann man gar nichts ablesen. Sie können auch nicht so gut sehen, sie haben sehr kleine Augen, die weit auseinander angeordnet sind, wie bei Schweinen – und sie haben immer so ein Jean Gabin Gesicht, so ein Pokerface, in jeder Situation. Das hatte bei "Der Bär" auch seinen Charme, aber Tiger sind da genau das Gegenteil. Tiger haben einen großartigen Gesichtsausdruck und ihre Geräusche drücken alle möglichen Emotionen und Gefühle aus – so sehr, dass es mich fast beängstigt hat. Ich habe schnell gemerkt, dass man das nicht nachstellen kann, wenn eine Tigermutter ihr Junges sucht. Dann ist das nicht irgendein Gesichtsausdruck, sondern man sieht ihr das richtig an, dass sie besorgt ist. Und die Gesichtsausdrücke von Tigern sind denen der Menschen sogar sehr ähnlich, auch weil die Tiger, ähnlich wie wir, die Augen sehr frontal angeordnet haben. Ihre Augen haben auch meistens eine helle Farbe: grün, oder blau oder braun. Deswegen können wir diese Gesichtsausdrücke auch viel besser lesen. Sie bewegen auch ihre Ohren, ihr Maul, die Augen. Ich habe später beim Schneiden des Films einzelne Bilder angeguckt und manchmal sahen es wirklich so aus, als würden die Tiger lachen – das waren Dinge, wie ich sie nicht erwartet hatte und erst während der Dreharbeiten entdeckt habe.

Also hat sich die Arbeit an "Zwei Brüder" sehr unterschieden von "Der Bär"?
Annaud: Ich habe die gleiche Technik wie bei "Der Bär" angewendet, die im Wesentlichen darin besteht, auf den bestimmten Moment zu warten, in dem das Tier die Situation selbst erfindet, auf seine natürliche Art. Man kann einem Tiger ja nicht einfach sagen: "bitte schau jetzt deinen Bruder an und gucke glücklich." Das kannst du vergessen. Aber man kann es anders machen: man muss zwei Tiger, die sich mögen, trennen und nach einer Woche wieder zusammenbringen – und das filmen. Da wirst du diesen Gefühlsausdruck auffangen können, wenn sie sich wieder treffen. Ich habe von den Tigern eigentlich fast immer den Ausdruck bekommen, den ich gerade brauchte. Und das immer im ersten Take, weil sie es einmal spontan machen – und danach nie wieder. Sie würden es ja gar nicht verstehen, wenn sie es noch mal wiederholen sollten.
Noch ein Beispiel: man kann einen Tiger überraschen, wenn er überrascht gucken soll. Ich ziehe beispielsweise ein Tiger-Stofftier plötzlich unter einem Tuch hervor und zeige es ihm. Er wird überrascht sein, auf einmal einen zweiten Tiger zu sehen, aber er wird nach einer Weile natürlich merken, dass alles nur ein Trick war. Und dann kann man das schon nicht mehr reproduzieren, er wird nicht mehr daran interessiert sein. Das ist das Interessante am ganzen Konzept: diese Tiere haben eine fantastische Ausdruckskraft aber die muss man einfangen können und eine Szene so organisieren, dass sie dir die Szene selbst auf ihre Weise erfinden. Das ist im Grunde wie Method Acting (lacht).

Macht es für Sie als Regisseur, psychologisch gesehen, einen Unterschied, ob Sie mit Menschen oder Tieren arbeiten?
Annaud: Als Regisseur ist es immer gut, wenn man sich mit den Schauspielern identifiziert, das ist die grundlegende Aufgabe: sich mit denen identifizieren, die für dich spielen. Als ich "Der Name der Rose" gedreht habe, war ich sozusagen ein mittelalterlicher Mönch und bei "Der Liebhaber" ein 18-jähriges Mädchen. Wenn ich nun mit einem Tiger arbeite, dann muss ich in mir selber die Dinge finden, die ich mit diesem ‚Schauspieler‘ gemein habe. Das ist eine sehr außergewöhnliche, wertvolle Erfahrung. Schon alleine, dass man daran erinnert wird, dass wir Menschen nicht so etwas Besonderes sind, ist sehr gut für deinen Verstand. Man wird daran erinnert, dass man auf viele Dinge sehr ähnlich, instinktiv reagiert, wie die Tiere. Natürlich sind Mensch und Tier nicht das Gleiche, aber wir haben viel mehr gemeinsam, als wir es glauben. Und wenn wir den tierischen Teil verstehen, den wir alle in uns tragen, dann bringt uns das in Einklang mit all den ungewollten Instinkten, die wir fühlen: Gewalt, den Sexualtrieb, das Besitzergreifen wollen – all die Dinge, die sehr störend sind, die uns manchmal beherrschen, obwohl wir es gar nicht wollen. Manche Leute sind ja von diesen Instinkten so sehr beherrscht, dass sie verstört zum Psycho-Therapeuten gehen müssen. Wenn die wüssten, dass wir Menschen so viel gemeinsam haben, meinetwegen mit Hunden oder Katzen, dann würden sie durch diese Triebe nicht so durcheinandergebracht. Sie würden dazu stehen und sagen: ja, dies ist mein tierischer Teil aber als Mensch sollte ich davor nicht Angst haben sondern der Sache gewachsen sein. Das ist nichts Übermenschliches, nichts Teuflisches – es ist nur ein Teil von dem, wie wir geschaffen wurden.

Die Arbeit mit den Tieren hat Sie also sehr beruhigt?
Annaud: Ja, für mich war diese Erfahrung sehr beruhigend, auch schon bei "Der Bär". Deswegen habe ich mich auch ein zweites Mal für so einen Film entschieden. Ich fühlte mich so gut, nachdem wir "Der Bär" gedreht hatten, obwohl ich damals gar nicht genau wusste, warum das so war. Heute weiß ich das sehr gut, es ist eine fantastische Erfahrung. Und wissen Sie, viele Leute brauchen ja ein Haustier. Ich glaube, da steckt das Gleiche dahinter: die Leute mögen das Tier, weil es sie an diesen anderen, verborgenen Teil ihrer Selbst erinnert. Und Menschen mögen es ja auch, verstanden zu werden über die eigene Sprache hinaus. Ein Hund merkt das, wenn du traurig bist, er weiß, wann du fröhlich bist oder wann du dich schlecht fühlst. Das ist eine sehr einfache, innige Art der Verständigung – und die habe ich auch bei der Arbeit an diesem Film erlebt.

Wo Sie jetzt über so einen langen Zeitraum mit den Tieren gearbeitet haben – inwiefern glauben Sie, dass die Tiger eine ungefähre Ahnung haben, was Sie mit ihnen gemacht haben? Was würde zum Beispiel passieren, wenn man die Tiger jetzt vor eine Leinwand setzen würde?
Annaud: Also, die Tiger würden auf jeden Fall hingucken. Es war ja so bei den Dreharbeiten, dass wir vom Team in Käfigen saßen, wo wir auch unsere Kontroll-Monitore drin hatten. Und aus irgendeinem Grund haben die Tiger sehr oft auf diese Monitore geguckt. Hunde zum Beispiel machen das nicht, was damit zusammenhängt, dass sie die Welt mehr durch ihre Nase ergründen. Wenn sie einen Hund aus Stoff sehen, merken sie, dass er nicht echt ist, weil er nicht wie ein Hund riecht. Tiger haben aber nicht so einen guten Geruchssinn, deswegen kann man sie zum Beispiel – was wir sehr oft gemacht haben – mit einem Spiegel austricksen. Man kann einen Spiegel neben der Kamera positionieren und wenn der Tiger dahinschaut wird er sich erst mal bedroht fühlen, weil er denkt, da ist ein anderer Tiger in seinem Territorium. Tiger gucken also auf bewegte Bilder.

Zitiert

Ich sehe es immer als Schwäche an, wenn ich in einem Film zu viel Dialoge benötige.

Jean-Jacques Annaud

Hat es lange gedauert, bis die Tiger an die Kameras gewöhnt waren?
Annaud: Unsere Tiger waren professionelle, die sind schon an Kameras gewöhnt und die wissen, dass sie arbeiten, sobald sie vor eine Kamera gehen. Und um von ihnen die Ausdrücke zu bekommen, die man braucht, muss so ein Dreh für die Tiger eine positive Erfahrung sein. Der Trainer muss unbedingt darauf achten, dass die ganze Sache den Tigern Spaß macht. Und das wird Sie jetzt überraschen: einer der Tiger war dermaßen sensibel für seine Umgebung, dass er gespürt hat, wie es uns, der Crew, geht. Wenn es uns gut ging, wir zufrieden waren, dann ging es ihm auch gut. Bestimmte Dinge hat er dann auch für uns wiederholt, technische Dinge wie von A nach B laufen oder springen. Im Gegensatz zu einem anderen Tiger, den ich spaßeshalber immer Sean Connery genannt habe: weil er alles nur ein einziges Mal machen wollte. Wenn er wusste, dass er alles richtig gemacht hat – und das merkt er einfach, weil die Crew applaudiert – dann ging er schnell wieder in seinen Käfig. Aber wenn ein Tiger sich nicht wohl fühlt, dann hat er gar keine Lust, vor die Kamera zu gehen, er beschäftigt sich dann mit ganz anderen Dingen und wird auch auf gar nichts reagieren, auf keinen Spiegel, keine Puppe … Das ist ein bisschen Psychologie, man merkt, wann der Tiger entspannt ist, zufrieden ist oder eben einen schlechten Tag hat. Und man muss sich auch in seine Haut versetzen. Wie würde ich – mit seinem Wahrnehmungsvermögen – reagieren auf das, was die Menschen um mich herum mit mir machen? Wenn man diese einfache Überlegung anstellt, dann wird man den Tiger gut verstehen.

Was denken Sie, könnte der Film nun für eine Wirkung auf den Zuschauer haben? Werden die Leute vielleicht mehr über den Tierschutz nachdenken?
Annaud: Also, für mich ist ein Film immer wie ein winziger Tropfen. Und wenn es viele, viele Tropfen gibt, kann daraus irgendwann eine kleines Rinnsaal werden und später vielleicht sogar ein Fluss. Und es ist heute so, dass Kino, Fernsehen, Presse die Dinge sind, über die die Menschen die Welt wahrnehmen und über die sie auch die Probleme der Welt wahrnehmen. Also gibt es Jobs, wo man seine Ideen und Gedanken anderen Leuten vermitteln kann, in Radiosendungen, Artikeln oder in Filmen. Man weiß natürlich nicht genau, wie viele Leute am Ende dadurch beeinflusst werden, aber ich kann schon sagen, dass ich sehr viele Briefe bekomme, wo Sachen drin stehen wie "Sie haben mein Leben verändert, vielen Dank". Manche Leute sind wirklich Mönche geworden, manche Mittelalterspezialisten oder Prähistoriker – aufgrund meines Films "Am Anfang war das Feuer". Und vor kurzem habe ich in Frankreich einen jungen Mann getroffen, der eigentlich Ingenieur werden wollte, aber der dann ein Naturschützer wurde und sich auf eine bestimmte Art von Säugetieren spezialisiert hat – weil er "Der Bär" gesehen hat. Er kam nach dem Film nach Hause und wollte auf einmal nicht mehr Ingenieur werden und gehört heute sogar dem französischen Ministerium für Naturschutz an.
Ich weiß also, dass meine Filme eine Auswirkung haben. Und wenn die Leute jetzt "Zwei Brüder" sehen, dann wird es für sie danach schon sehr schwierig sein, auf einen Tiger zu schießen, ein Tigerfell zu kaufen, im chinesischen Restaurant ein Tiger-Steak zu bestellen oder eine Medizin mit bestimmtem Tigerextrakten zu schlucken, um die eigene Potenz zu steigern.

Sie haben einmal gesagt, Ihr zweites Ich sei der Regisseur. Wer ist dann das ‚erste Ich‘ und was gibt es für Unterschiede zwischen den beiden?
Annaud: Es gibt nur relativ wenig Unterschiede, weil ich mein Leben vollkommen als diese erste Person lebe, als Vater, Ehemann, Mensch. Und der Regisseur, ja, das ist zu drei Vierteln diese zweite Person. Wenn ich einen Film drehe, dann gebe ich mich völlig diesem einen Projekt hin, während die erste Person trotzdem noch ganz andere Dinge macht: ich schaue mir im Museum Seidenmalerei an, verbringe Zeit mit meiner Frau – aber da bin ich dann nicht der Regisseur. Ich habe es in meinem Leben zum Glück geschafft, diese beiden Personen so nah wie möglich beieinander zu halten. Denn wenn mich ein bestimmtes Thema fasziniert, dann entscheide ich mich, einen Film darüber zu machen. Und diese Aufgabe erledigt dann das zweite Ich. Nehmen wir meinen Film "Der Liebhaber", der entstand als meine beiden Töchter mit 16, 17 Jahren in einem Alter waren, wo sie gar nichts hören wollten von Sinnlichkeit, Sexualität, Beziehung zu Männern usw. Also habe ich mich entschieden, genau darüber einen Film zu machen, das war also eines sehr persönliche Entscheidung.
Dann sehe ich aber den Gegensatz bei vielen meiner Freunde. Die haben bestimmte persönlich Interessen und Auffassungen- aber in ihrem Beruf machen Sie das genaue Gegenteil. Das ist doch eine Katastrophe, wenn deine Brieftasche nicht da ist, wo deine Zunge ist, wenn du nicht tust, was du sagst, wenn du nicht sagst, was du denkst – das ist schrecklich. Das was ich mache, wofür ich seit Jahren kämpfe, ist, diese beiden Ichs, diese beiden Personen miteinander zu vermischen. Ich bin jetzt schon seit 40 Jahren Regisseur. Wenn ich 40 Jahre meines Lebens einer Sache gewidmet hätte, an die ich nicht glaube – das wäre doch bestürzend. Und das jetzt meine zweite Person die Filme dreht, die die erste Person machen will – das ist versöhnt mich mit mir selbst, dadurch kann ich aufrichtig sein. Und was auch sehr wichtig ist: du triffst bei diesem Job ja immer wieder Leute, die deine Arbeit nicht mögen, die dir nicht glauben usw. Aber was man dir nicht vorwerfen kann ist deine Aufrichtigkeit, wenn du zu deiner Sache stehst und sagst: daran glaube ich und ich habe versucht, das Beste draus zu machen. Dagegen kann niemand ankämpfen. So zu arbeiten stellt einen natürlich zufrieden, aber es gibt auch Situationen wo man Einiges erleiden muss. Wenn ich einen Film mache, der nicht gut ankommt oder Sie einen Artikel schreiben, der viel kritisiert wird. Aber: wir würden doch zehn mal mehr leiden, wenn wir uns mit unserer Arbeit selbst betrügen.

Hmmh, aber Sie haben früher selbst sehr viele Werbefilme, Hunderte von Spots gedreht – haben Sie etwa an die Werbung geglaubt?
Annaud: Nein. Deswegen habe ich ja auch damit aufgehört. Was ich Ihnen gerade erzählt habe, kommt daher, dass ich eines Tages diesen Widerspruch wie einen Schlag ins Gesicht zu spüren bekam. Das war schlimm, ich wurde krank, ich hatte einen Nervenzusammenbruch, Depressionen, ich war damals 27 Jahre alt. In den Tagen habe ich Hunderte von Angeboten für Werbespots abgelehnt. Ich habe damals fast jeden Tag irgendein Angebot bekommen, ich habe da auch viel Geld verdient, hatte eine wunderbare Frau, ein tolles Landhaus – alles gut. Aber eines Tages fing ich an zu weinen und wusste nicht warum. Nach ein paar Monaten habe ich dann begriffen, dass ich all meine Kraft in etwas investiert hatte, woran ich nicht glaubte. Ich war eine Hure, eine Hure, die die Liebe nur spielt, die stöhnt, aber eigentlich gar nichts empfindet, die die Gefühle nur vortäuscht.

Aber wie haben Sie sich das selbst entschuldigt?
Annaud: Wenn man da jetzt nach einer Entschuldigung sucht: ich war damals noch sehr jung, ein kleiner Junge aus einer Vorstadt, der schon Filmemacher werden wollte, als er sieben Jahre alt war. Ich war auf zwei Filmschulen gewesen, mit 20 hatte ich alle nötigen Abschlüsse – und bekam ein Angebot als Werberegisseur. Hurra! Ich habe meine Arbeit so gut gemacht wie ich konnte, ich habe die Arbeit gemocht, einen Werbefilm nach dem anderen gemacht – so ging das etwa vier Jahre. Das war Spaß, ich bin viel gereist, ich hatte großartige Spielzeuge, weil ich ja auch für Autos oder Airlines Werbung gemacht habe, ich konnte bestimmen und die Leute haben alles für mich gemacht. Natürlich macht das Spaß mit 24 Jahren so ein Regisseur zu sein. Über den Sinn habe ich damals nicht viel nachgedacht, ich sah nur für mich persönlich eine aufregende Zeit – vielleicht ist das auch so bei den Prostituierten, vielleicht haben sie wirklich Spaß mit ihren ersten Freiern. Aber dann habe ich nach einigen schrecklichen Erfahrungen festgestellt, dass ich geholfen hatte, Produkte zu verkaufen, die schädlich für die Gesundheit waren, die gefährlich waren … Zum Beispiel habe ich eine sehr erfolgreiche Werbung für Autoreifen gemacht, für die ich sogar Preise bekommen habe. Aber anderthalb Jahre danach musste die Firma die Reifen wieder zurücknehmen, weil Leute in Unfällen ums Leben gekommen waren. Da merkt man dann plötzlich, dass die Sache nicht einfach nur Spaß ist. Also habe ich mich wenig später entschieden, mit der Werbung aufzuhören und mich mit Spielfilmen zu beschäftigen – was ich ja von vornherein machen wollte. Und da begriff ich, dass ich nur solche Filme machen könnte, die ich liebe, wo ich die Liebe nicht vortäusche, wo es um den Sinn geht und nicht nur um den Spaß, den ich bei der Arbeit habe.

Sie werden die Entscheidung wohl kaum bereut haben.
Annaud: Nein, ich bin heute sehr froh, dass das so gekommen ist, denn wenn ich nicht mit Spielfilmen angefangen hätte, dann hätte ich wohl noch lange diese Spaß-Arbeit gemacht und viele solche Filme mit schlimmen Botschaften gedreht – und hätte das wahrscheinlich erst begriffen, wenn es schon zu spät gewesen wäre. Ich war aber bei meinem Spielfilm-Debüt erst 29 Jahre alt, "Sehnsucht nach Afrika". Das war ja am Anfang ein fürchterlicher Flop, bis er dann den Oscar als bester ausländischer Film bekam. Aber auch den anfänglichen Misserfolg sah ich damals sehr gelassen, weil die Welt jetzt für mich in Ordnung war. Ich habe sogar eingesehen, warum die Leute meinen Film nicht mochten. Ich wusste aber: das war das Beste, was ich machen konnte und so war mein Film. Da konnte mir niemand einen Vorwurf machen. Und diese Einstellung habe ich bis heute behalten. Mich fragen ja oft junge Studenten und Filmemacher, was sie für Filme machen sollen. Weiß ich ja nicht, was sie machen sollen …

… auf jeden Fall keine Werbefilme …
Annaud: … ja, du musst einfach nur wissen was du tust. Ich wusste das eine Zeit lang nicht, die Arbeit in der Werbung war für mich ja ein Vergnügen. Am Set der Boss zu sein – davon wollte ich mich ja nicht trennen. Aber ich habe die Konsequenzen nicht gesehen, ich sah meinen Auftrag erfüllt, wenn die Leute meine Werbung mochten. Irgendwann habe ich aber begriffen, dass mein eigentlicher Auftrag darin bestand, die Produkte zu verkaufen. Das war schon weniger angenehm, bei den vielen schrecklichen, ungesunden Produkten, für die ich Werbung gemacht habe. Das war schon sehr deprimierend.

Ihr Film "Zwei Brüder" ist auf jeden Fall ‚gesünder‘ wenn man das so sagen kann. Seit Ihrem ersten Spielfilm haben Sie also nie wieder einen Werbeclip gedreht?
Annaud: Doch, vor fünf oder sechs Jahren, aber der war für Perrier, das Mineralwasser, da hatte ich nicht so große Bedenken. Früher habe ich zum Beispiel viele Clips für Coca-Cola gemacht. Ich erinnere mich noch an das erste Meeting, wo die mir sagten: "Sie haben alle Freiheiten, aber alle Schauspieler, die Sie casten, müssen gute Zähne haben. Weil unser Produkt zerstört die Zähne." Oder die von Citroen haben zu mir gesagt: "Wir haben hier ein so schlechtes Auto, das ist so schlecht konstruiert, weil das meiste Geld bei uns für die Werbung ausgegeben wird".

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