Herr Petzold, Sie haben mal gesagt, Filme machen bedeutet, Fragen zu stellen. Welche Fragen stellt "Gespenster"?
Petzold: Es ging damals um die Unterscheidung zwischen Fernsehen und Kino. Ich hatte das Gefühl, dass das Fernsehen immer mehr dazu da ist, um ab 20.15 Uhr einen Konsens zu stiften und Antworten zu geben. Das Kino dagegen geht an Grenzen. Es liefert keine Antworten. Oft geht man aus einem Film sehr zerwühlt nach Hause und ist trotzdem getröstet, weil es Fragen gibt und nicht irgendwelche lauen Antworten. Bei "Gespenster" geht es um drei Frauen – die französische Mutter, die Diebin Toni und das Heimkind Nina. Alle drei tragen Geschichten mit sich herum, von denen man nicht genau weiß, ob sie erfunden sind. Alle drei träumen davon, eine Geschichte zu finden, die ihnen Sicherheit gibt, eine Identität, einen Standpunkt. Aber alle diese Geschichten greifen nicht mehr.
In Ihren Filmen geht es oft um Menschen, die außerhalb der Normalität stehen und versuchen, dorthin zurückzufinden. Kennen Sie das Gefühl des Außenstehenden aus eigener Erfahrung?
Petzold: Das kennt doch jeder (lacht). Jeder, der behauptet, dieses Gefühl nicht zu kennen, macht mir Angst. In meinen Filmen geht es mir aber nicht um irgendwelche erfundenen Außenseiter der Gesellschaft. Mich interessieren vielmehr Menschen, die eigentlich alles richtig machen, für die sich aber eine kleine Sache verschoben hat, was sie nicht mehr in den Alltag zurückkommen lässt. Die Sehnsucht, in diese Sicherheit zurückzukehren, ist mein Thema.
"Gespenster" erzählt von der Beziehung zwischen der Rumtreiberin Toni und dem Heimkind Nina. Hätte die Geschichte auch mit zwei Jungen funktioniert?
Petzold: Das weiß ich nicht. Es war nicht so, dass ich das Gefühl hatte, endlich mal Sex mit zwei Mädchen zeigen zu müssen. Als ich das Drehbuch geschrieben habe, war gerade dieses russische Mädchen-Duo "Tatu" in den Charts. Ich habe dann kurz überlegt, ob ich jetzt alles umschreiben soll. Für mich waren Nina und Toni aber schon immer eher Gefährtinnen als Liebende. Während der Arbeit an dem Film "Die innere Sicherheit" hatte ich die Lebensgeschichte der Astrid Proll gelesen, die in einem Heim war. Dort gab es ein Mädchen, die wie eine ältere Schwester für sie war, eine Freundin. Da geht es nicht um Sex, sondern darum, jemanden zu finden, der einen durchs Leben führt.
In einer Szene erfindet Nina eine Geschichte, wie Toni und sie sich angeblich kennen gelernt haben. Nina bezeichnet Toni darin als "Königin". Gab es in Ihrer Jugend auch einen "König", jemanden, den Sie bewundert haben und den Sie sich zum Freund gewünscht haben?
Petzold: Klar gab es den. Ich weiß noch genau, in der neunten Klasse kam so ein Typ aus Düsseldorf. Der Name fällt mir jetzt nicht mehr ein, aber der hatte die besten Platten, der hat sich in der Schule bewegt wie auf dem Laufsteg. Der war mit sich im Reinen, während wir alle noch pubertierende Wracks waren. Mit dem wollten alle befreundet sein.
Und – ist er Ihr Freund geworden?
Petzold: Ja, aber er war die totale Enttäuschung.
"Gespenster" basiert unter anderem auf dem Märchen "Das Totenhemdchen" der Gebrüder Grimm. Darin geht es um eine Mutter, die den Verlust ihrer Tochter nicht überwinden kann. Wie haben Ihre Kinder reagiert, als Sie ihnen das Märchen vorgelesen haben?
Petzold: Alle Kinder glauben ja an den Himmel, meine Tochter auch. Brutal daran war für mich, dass ich gemerkt habe, dass das gar kein Trostmärchen für Eltern ist, damit die den tödlichen Verlust ihres Kindes verarbeiten können. Das Märchen kritisiert vielmehr Eltern, die nicht loslassen können. Meine Tochter hat das Märchen wahrscheinlich deshalb so genossen, weil es mich kritisiert und nicht sie.
Wie entstehen die Ideen zu Ihren Filmen? Kommen die Stoffe zu Ihnen oder begeben Sie sich auf die Suche nach ihnen?
Petzold: Die Anlässe kommen von selbst. Was dann aber den Film ausmacht, ist die Arbeit am Buch, an der Erzählung mit all ihren Grammatiken und ihren Gesetzen. All das entsteht in der Arbeit mit Harun Farocki, mit dem ich alle Bücher zusammen schreibe. Wir spinnen dann richtig Seemannsgarn. Anlass für "Gespenster" waren ja neben dem Märchen der Gebrüder Grimm die Fotos verschwundener Mädchen, die ich in Frankreich gesehen hatte. Ich habe Harun davon berichtet und wir sind dann drei Monate lang spazieren gegangen und haben überlegt, was womit zu tun haben könnte. Wir haben die Geschichte richtig gebaut. Die Anlässe kommen also von selbst, die Arbeit beginnt leider erst nachher.
Der Vater und die Mutter, die in Berlin nach ihrer vermissten Tochter suchen, stammen aus Paris – warum gerade Frankreich?
Petzold: Es ging ja um den Potsdamer Platz. 1989, als die Mauer fiel, war der auf einmal ein Brachgebiet. Damals ist die ganze Welt an den Potsdamer Platz gegangen und ich habe mir vorstellt, dass auch eine Journalistin der französischen Zeitung "Libération", die als Korrespondentin in Berlin arbeitet, dorthin geht. Sie lernt einen Mann kennen und bekommt ein Kind mit ihm. Dann wird dieses Kind entführt. Als sie jetzt an den Potsdamer Platz zurückkehrt, sieht sie dort eine junge Frau, die ihre Tochter sein könnte.
Hätte das nicht aber genauso gut einem Paar aus Rom passieren können?
Petzold: Ja, natürlich. Aber erst einmal ist die Verbindung Paris-Berlin irgendwie eine gute, so eine Achse. Außerdem musste es eine Distanz sein, die man mit dem Auto fahren kann. Von Rom oder Madrid zum Beispiel würde man fliegen. Als der Mann seine Frau abholt, die in Berlin nach der Tochter gesucht hat, fährt er aber mit dem Auto. Wenn man etwas Entsetzliches erfährt, erträgt man die Warterei am Flughafen oder am Bahnhof nicht, man hält diesen Zustand der Untätigkeit nicht aus. Also setzt sich der Mann in sein Auto und fährt die Nacht durch.
Die Szene dieser Autofahrt ist mit einer wunderschönen Musik unterlegt. Was ist das für ein Stück?
Petzold: Ich habe einen Freund, der mich in die Werke von Johann Sebastian Bach eingeführt hat. Die Kantate, die in dieser Szene zu hören ist, hat Bach komponiert, nachdem eines seiner Kinder gestorben war. Es ist im Grunde genommen eine Trostmusik. Es war für mich klar, dass der Mann und die Frau, die ihre Tochter verloren haben und beide aus der Bildungs-Bourgeoisie stammen, natürlich nicht in Therapien latschen oder zu "Vera am Mittag". Sondern dass sie in ihrer Pariser Wohnung Bach hören und versuchen, sich damit zu fangen. Das sind Assoziationen, die der Zuschauer zwar nicht begreifen muss, trotzdem muss jede Entscheidung in einem Film fundiert sein.
Vor "Gespenster" haben Sie mit Julia Hummer schon bei "Die innere Sicherheit" zusammengearbeitet. Warum haben Sie sie erneut besetzt?
Petzold: Ich kenne niemanden, der mit so einer Physis verloren sein kann wie Julia. Sie ist eine der ganz wenigen Schauspielerinnen, die in so einer Rolle nicht sofort mit einem Spendenkonto-Blick in die Kamera schaut. Deswegen habe ich schon beim Schreiben immer an sie gedacht. Es war klar, dass sie das spielt.
Sie arbeiten häufig mit demselben Team zusammen und besetzen dieselben Schauspieler. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Petzold: Dem Kino in Deutschland fehlt Kontinuität. Man kann hier einen Erstlingsfilm drehen und wenn man Glück hat, bekommt man auch noch das Geld für einen zweiten Film, aber dann ist alles vorbei. Kontinuität bedeutet für mich, mit den Leuten, mit denen ich arbeite, die Schraube immer ein bisschen weiter zu drehen und neues Gebiet zu betreten. Das heißt nicht, dass manche das Team nicht auch mal verlassen und andere dazukommen. Die Schauspieler sind in Deutschland nicht das Problem. Es gibt viele gute Schauspieler hier, aber nur wenige, die langsam reifen können. Nina Hoss oder Benno Fürmann zum Beispiel schaffen das. Auch bei Julia Hummer kann ich mir gut vorstellen, dass sie reift und nicht immer diese Jugendlichen spielt.
Sie haben mal gesagt, Städte wie Hamburg und München seien abgefilmt. Sehen Sie diese Gefahr auch für Berlin?
Petzold: Man kann jede Stadt noch einmal filmen, als wenn es das erste Mal wäre. Ich habe zum Beispiel "3 Minuten Heroes" von Klaus Lemke gesehen, in dem Hamburg ganz toll aussieht. Deutschland ist aber eben nicht nur Hamburg, Berlin und München. Fast alle Leute, die ich kenne, kommen aus Detmold oder irgendwelchen Vorstädten. Die finden aber nicht statt. Die Frage ist, wie man diese zersiedelte Welt der Vorstädte zum Schauplatz machen kann. Wie bekommt man es hin, in einer Eisdiele in Herford ein Liebesgespräch zu filmen, ohne dass man sich schämt, in Herford zu sein.
"Gespenster" spielt zum Großteil am Potsdamer Platz. Was verbinden Sie persönlich mit diesem Ort?
Petzold: Durch meine Kinder musste ich immer in diese IMAX-Kinos gehen. Mittlerweile wollen die aber schon gar nicht mehr. Und auf McDonald’s haben sie auch keine Lust mehr. Ich bin aber oft am Potsdamer Platz, weil dort das Arsenal-Kino ist. Außerdem schaue ich mir gern an, wie eine Stadt versucht, sich selbst eine Erzählung zu geben. Ich schaue mir auch gern neue Hotels an, wie diese Sterne-Hotels versuchen, etwas vom Mythos Hotel zu realisieren. Ich frage mich immer, wie machen die das? Im Ritz Carlton zum Beispiel holen sie dann aus Frankreich ein komplettes Bistro rüber. Die Frage ist, ob das funktioniert oder das Ganze nicht doch nur eine Currywurst-Halle ist.
Neben dem Kino haben Sie fürs Fernsehen gearbeitet. Schauen Sie selbst viel fern?
Petzold: Ich schaue vor allem Sport. Ansonsten sehe ich eigentlich gar nicht fern. Ich ertrage diese ganze Vorabendwelt nicht, diese dauernden Bühnenstücke mit ihren Problemchen.
Was ist so schlimm daran?
Petzold: Dominik Graf hat einmal gesagt, früher hatte man das Gefühl, dass der "Tatort" noch eine deutsche Stadt filmt, dass es eine Soziologie der Städte gibt, der Nächte und der Leidenschaften. Heutzutage tragen die Kommissare alle gute Kleidung, trinken Espresso und fahren tolle Autos. Irgendetwas fehlt da. Ich finde, man muss schon versuchen, wie bei den amerikanischen Polizeifilmen aus den Linoleumböden, den Neonröhren und den drittklassigen Computern einer Polizeidienstelle einen Funken herauszuschlagen, der sehenswert ist.
Gibt es ein aktuelles Projekt, an dem Sie gerade arbeiten?
Petzold: Ich bereite gerade einen weiteren Film mit Nina Hoss vor mit dem Titel "Yella". Das ist die Geschichte einer Frau, die eine zerrüttete Ehe und Arbeitsstelle verlässt und in den Westen geht, wo sie in Venture Capital-Kreisen reüssiert. Erst zum Schluss erfährt sie, dass sie eigentlich längst tot ist – ein Horrorfilm also. Wir drehen auf dem Expo-Gelände in Hannover und in Wittenberge, eine Stadt mit 58 Prozent Arbeitslosigkeit und einem völlig zusammengebrochenen Arbeitsmarkt. Die Figur, um die es geht, stammt von dort und geht dahin, wo sich die deutsche Wirtschaft ansiedeln sollte, auf dem Expo-Gelände. Es ist total gespenstisch dort. Alles ist riesig groß und nichts findet statt.
In letzter Zeit haben sich viele Filmemacher mit dem Nationalsozialismus beschäftigt – "Der Untergang", "Der neunte Tag" oder "Sophie Scholl". Reizt Sie das Thema?
Petzold: Nein, überhaupt nicht. Es gab mal den Film "Zündschnüre" nach den Erinnerungen von Franz Josef Degenhardt. Darin wird versucht, den Alltag im Nationalsozialismus darzustellen. Das war interessant. Ich habe auch gerade das Buch "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly gelesen, was ich sehr interessant fand. Das alles aber taucht in diesen Verfilmungen nicht auf, sondern immer nur Hitler und Sophie Scholl, lauter Bühnenfiguren. Wenn mich etwas reizen würde, dann wäre es der nationalsozialistische Alltag. Aber dann sehe ich sofort die immer selbe Babelsberger Studio-Straße vor mir, wo irgend so eine HJ-Gruppe drübermarschiert, und ich stehe da mit Megaphon. Dann doch lieber das Expo-Gelände.