Volker Schlöndorff

Vom Temperament her will ich immer eingreifen.

Regisseur Volker Schlöndorff über Berufskrankheiten, Orientierungslosigkeit im Kino und seinen neuen Film "Ulzhan"

Volker Schlöndorff

© X-Verleih

Herr Schlöndorff, Sie sagten einmal, dass Sie sich mit jedem Ort, an den Sie kommen, verändern und dass Sie für Ihre Freunde in Frankreich ein ganz anderer Volker Schlöndorff seien als für Ihre Freunde in Berlin, München oder New York. Ihren neuen Film „Ulzhan“ haben Sie in Kasachstan gedreht. Was hat dieses Land aus Ihnen gemacht?
Volker Schlöndorff: Kasachstan hat mir Geduld beigebracht. Vieles ging einfach nicht so schnell, auf Grund der Zerstörung, die 80 Jahre Sowjet-Sozialismus hinterlassen haben, auch weil wir es mit Nomaden, die noch nach den Jahreszeiten leben, zu tun hatten. Aber ob ich mich von Land zu Land verändere, kann ich nicht sagen, meine Freunde sehen mich zumindest anders. Einmal hatte ich eine Diskussion mit dem amerikanischen Regisseur Michael Cimino, während der ich mal deutsch, mal englisch, mal französisch gesprochen habe, und er fragte mich: „Wie kommt es, dass du, obwohl du alle Sprachen auf einem gewissen Level beherrscht, auf deutsch immer viel lauter und aggressiver sprichst?“ Woran es liegt, weiß ich nicht. Vielleicht daran, dass man sich in gewisser Weise selbst zensiert. Wenn man als Deutscher französisch spricht, brüllt man eben nicht rum.

In welcher Version sehen Sie sich denn selbst am liebsten?
Schlöndorff: Als Regisseur ist man ein Bestimmer. Das ist eine Berufskrankheit, unter der hauptsächlich die Familie leidet. Man ist ununterbrochen am Inszenieren, sogar schon am Frühstückstisch, indem man zum Beispiel Anweisungen gibt, wer wo zu sitzen hat. Und es geht ja dann weiter. Bei Billy Wilder wurde das immer ganz deutlich, wenn er sich über die Schuhe von jemandem wunderte und ihm dann sagte, dass er sich ein neues Paar kaufen müsste. Das ist eine typische Regisseurssache, die man sich – wie alle Berufskrankheiten – vielleicht auch wieder abgewöhnt.
Zurzeit versuche ich nicht mehr, alles zu bestimmen, sondern Sachen laufen zu lassen, hinzunehmen. Auch wenn es mir schwer fällt. Vom Temperament her will ich immer eingreifen. Doch ich lerne, Sachen zuzulassen, so wie in „Ulzhan“ die Hauptfigur Charles gezwungen wird, seine eigene Trauer zuzulassen.

Dinge zuzulassen, bedeutet auch Gefühle zuzulassen…
Schlöndorff: Dieser Mann will nicht wahrhaben, dass er einen wahnsinnigen Verlust erlitten hat. Diese Fotos, die er bei sich trägt, sind wie eine Parabel. Eine Frau könnte ihn verlassen haben. Oder die Familie könnte umgekommen sein, das wäre der größte Gau. Er steckt das Foto in die Innentasche, läuft aber gleichzeitig wie ein Berserker durch die Steppe. Es ist keine Trauer, die ihn antreibt, sondern Wut. Er fragt sich: „Warum musste mir das passieren?“ So wie Leute, die Krebs haben. Max Frisch’ erste Reaktion war damals, dass er sagte: „Ich war noch nie so empört. Allen anderen passiert das, aber wieso mir?“
Dies ist natürlich noch nicht die Phase, in der man die Trauer zulässt. Zulassen heißt zu akzeptieren, dass es passiert ist, dass es einen zerstört hat. Dazu wird Charles von der Nomadin Ulzhan gezwungen, indem sie ihm so hartnäckig folgt, bis er schließlich sein Geheimnis preisgibt. Danach ist er – wenn man genau hinschaut – immer offener und beteiligt sich auch immer mehr am Leben der Anderen. Er lässt also Gefühle zu, ja.

Was für ein Gefühl haben Sie mit dem Film zugelassen?
Schlöndorff: Ich habe mich von dem Etikett, das mir anheftet, befreit. Ich habe nun einmal jahrelang das Etikett Literatur und Politik getragen. In Bezug auf „Ulzhan“ sagte man mir: „Der Film hat nur einem Fehler, nämlich dass da dein Name drauf steht. Wenn es der erste Film von einem jungen Regisseur wäre, dann wäre es sehr interessant und man wollte ihn entdecken. Aber von dir hat man das nicht erwartet.“

Sie sagten kürzlich, dass Sie während der Arbeit an diesem Film gemerkt haben, wie schön es sei, zu verweilen.
Schlöndorff: Ich glaube, wie alle volontaristischen Menschen bin ich jemand, der sich wahnsinnige Aufgaben stellt, sich gleichzeitig jedoch immer überfordert fühlt. Das geht zurück bis beinahe in die Schulzeit, als ich nach Frankreich ging, und mir sagte, dass ich es schaffen muss, mich dort durchzusetzen.
Bei den Dreharbeiten dachte ich deshalb immer: „Weshalb kann ich mich nicht auch mal wie andere einfach mal an den Straßenrand setzen und gucken, was da passiert? Warum kann ich jetzt nicht einfach wie er da in der Steppe in einer Höhle eine Decke ausrollen, mich da drauflegen und schlafen, mich dem Lauf des Lebens anpassen, anstatt es dauernd in den Griff haben zu wollen?“
Verweilen zu wollen, ist eine typische Sehnsucht für jemanden, der zu viel macht. Diejenigen, die verweilen, sehnen sich vielleicht danach, mehr zu tun. Aber ich habe es bisher nie zugelassen, es gab auch nicht die Gelegenheit.

Sie erwähnten eben Parallelen zwischen Ihnen und Ihrer Hauptfigur. In ihm steckt demnach eine Menge von Ihnen selbst?
Schlöndorff: Man kann gar nicht anders, als sich da rein zu projizieren.
Dass er immer weitergehen will, dass er die Trauer nicht zulassen will, dass er mit sich selbst in einem dauernden Kampf ist, dass er versucht, sich auf andere Menschen einzulassen, aber nicht wirklich die Geduld dafür hat und gleich wieder abbricht und wegläuft, all das sind Dinge, die von mir da drin stecken. Ich kann schwer einen anderen Charakter erfinden, der mir nicht vertraut ist.

Es scheint fast so, als sei der ganze Film wie eine Zusammenfassung von Motiven Ihres Lebens. Sie besuchten eine französische Schule, Ulzhan unterrichtet an einer. Sie waren Chef der Medienstadt Babelsberg, ein Utopia, ähnlich der kasachischen Hauptstadt Astana und nicht zuletzt geht es auch um den Abschied von väterlichen Mentoren.
Schlöndorff: Das ist schön beobachtet. Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich kann Ihnen noch etwas Schönes erzählen. Meine erste große Liebe war eine mexikanische Indianerin, eine Chiahuahua, beinahe wie Winnetous Schwester. Das war zu der Zeit, als wir „Viva Maria!“ in Mexiko drehten, ich war dort Regieassistent. Nach sechs Monaten, als es vorbei war, sagte sie: „Das war also dein Abenteuer während der Dreharbeiten“. Und ich sagte: „Nein überhaupt nicht, du kommst mit nach Deutschland.“ Ich habe sie also zu meiner Verlobten gemacht und mit nach Deutschland gebracht. Nach einem Vierteljahr ging es nicht weiter, weil die Beziehung nicht funktionierte. Später habe ich jedoch jemanden getroffen, der eine solche exotische Jugendliebe tatsächlich geheiratet hat und 20 Jahre glücklich mit ihr zusammen lebte. Da dachte ich mir: „Du warst zu ungeduldig, hast es nicht zugelassen.“
Solche Sachen beinhaltet der Film natürlich. Doch mir war das nicht so bewusst. Für mich war erst einmal die Herausforderung, in Kasachstan einen Film zu machen. Wir hatten die Steppe wie eine leere Leinwand, die man mit seinen Themen zu füllen beginnen musste. Jean-Claude Carrière, mein Drehbuchautor und alter Freund, wird schon gewusst haben, wieso er für diese Aufgabe mich gefragt hat. Er dachte, dass ich dafür der Richtige sein könnte. Mir ist oft aufgefallen, dass andere besser wissen, was gut für einen ist. Es war oft so, dass mir Stoffe empfohlen wurden, die ich zunächst ablehnte, und am Ende wurden es die besten Filme.

Jean-Claude Carrière hat Drehbuchautoren ans Herz gelegt, ihre Phantasie und das Geschichtenerzählen so zu trainieren wie einen Muskel. Was muss ein Regisseur trainieren?
Schlöndorff: Den gleichen Muskel. Das ist mir in Amerika aufgefallen. Wenn europäische Regisseure zusammen sitzen, fragen sie sich höchstens muffig: „Was machst du als nächstes?“ „Ach, da kann man jetzt noch nicht drüber reden.“ In Amerika sind Regisseure – ob sie nun Billy Wilder, King Vidor, Scorsese oder Coppola heißen – in erster Linie Geschichtenerzähler, auch im Leben. Die sitzen zusammen und überbieten sich gegenseitig, kämpfen um das Wort. Das ist sicher ein nützliches Training, um Filme zu verkaufen aber auch um raus zu finden, worum es eigentlich beim eigenen Film geht. In Interviews wird man immer gefragt: „Warum haben Sie in Kasachstan diesen Film gedreht, warum haben Sie „Die Blechtrommel“ gemacht?“ Dadurch kommt man im Nachhinein so langsam dahinter, warum man diesen Film gemacht hat. Man kann sich in seiner Antwort immer noch täuschen, aber man findet zumindest eine Erklärung, die sich gut verkauft. Aber ich habe gemerkt, dass es einem sehr hilft, die Dynamik seiner Geschichte zu entdecken, wenn man sie oft einfach erzählt. Wolfgang Kohlhaase, der Autor meines Films „Die Stille nach dem Schuss“, war in der Beziehung genau wie Carrière. Bevor der auch nur eine Zeile aufschrieb, erzählte er eine Geschichte 100 Mal immer wieder. Ich dachte zuerst, der verschwendet seine ganze Energie, aber nein, auf diese Weise kam er zu seinen ganzen kurzen knappen Formulierungen in „Solo Sunny“ oder „Sommer vorm Balkon“. Und weil Jean-Claude sich auch als Erzähler sieht, hat er auch diese Figur, den professionellen Geschichtenerzähler in „Ulzhan“ eingeführt. Der Mann, der von Hochzeit zu Dorffest zieht und seine Geschichten erzählt, wo gibt es heute noch so etwas? Das ist mittlerweile auch schon wieder eine Erfindung.

Zitiert

Als Regisseur ist man ein Bestimmer.

Volker Schlöndorff

Kommt es also vor, dass sie ein neues Filmprojekt beginnen, ohne zu wissen, worauf es hinauslaufen wird?
Schlöndorff: Das ist genau das Problem. So wie man erst beim Sprechen entdeckt, was man eigentlich denkt und will, so merkt man oft erst beim Machen, was man da eigentlich tut. Für mich ist das ein Prozess, der in der Vorbereitung eines Films abläuft, wenn man sich mit dem Kameramann, den Kostüm- und Bühnenbildnern trifft und mit den Assistenten den Drehplan macht. Dann sage ich: Für diese Szene brauche ich drei Tage. Alle sagen mir, das kann man auch an einem Tag drehen, aber ich spüre, dass mir das nicht reichen würde und komme dadurch langsam selber erst darauf, was mir wirklich wichtig ist. Insofern stimmt es, dass man erst, wenn der Film fertig ist, sagen kann, was man erzählen wollte. Ich kann mir zum Beispiel gut vorstellen, dass jemand sagt: „Ich mache jetzt einen Film gegen die Todesstrafe“ Und wenn man sich den Film am Schluss ansieht, stellt man fest, der ist eigentlich für die Todesstrafe. Ein klassisches Beispiel ist „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“. Wie Fritz Lang da mit Peter Lorres Figur umgeht, und so zwiespältig, wie das Ende ist – Lang möge mir verzeihen, aber ich bin mir gar nicht so sicher, dass er gegen die Todesstrafe gewesen ist. Das Emotionale kontrolliert man eben nicht.

Das heißt, am Ende ist das Werk klüger als sein Macher?
Schlöndorff: Das ist eine alte Weisheit, aber wie alle Weisheiten muss man sie immer wieder für sich selbst entdecken.

Nicht ganz so alt ist das digitale Zeitalter, das dem Kino fundamentalen Veränderungen beschert hat und weiter bescheren wird. Wie sehen Sie den Status Quo dieser Entwicklung?
Schlöndorff: Der Status Quo ist die absolute Ratlosigkeit, um nicht zu sagen: Panik. So wie es ist, wird es nicht weitergehen, das spürt man. Es ist durch die preiswertere Technik möglich geworden, unendlich viele kleine Filme zu machen. Früher hatte man so solide Sachen, wie den „Film der Woche“ (lacht). Jetzt kommen 15 Filme in der Woche raus, niemand hat mehr den Überblick. Woran soll ich mich da orientieren? Wenn ich mich nicht orientieren kann, dann bleibe ich erstmal zu Hause. Alles wird sich ändern, es werden ja nicht nur die alten Projektoren gegen neue digitale ausgetauscht. Das wird sich auswirken auf die Art der Programme, wie oft die Filme gewechselt werden. Man wird dann eher an einen bestimmten Ort gehen, anstatt einen bestimmten Film sehen zu wollen. Meine Tochter ist 16, die macht das jetzt schon so. Die geht mit ihren Freunden an den Potsdamer Platz in das Kino, wo die Originalfassungen laufen. In welchen die dann reingehen ist gar nicht so wichtig, Hauptsache sie sind zusammen und schauen sich gemeinsam einen Film an.

Aber als Regisseur benutzen sie digitale Technologien?
Schlöndorff: Ich fange jetzt auch an, digitale Fotos zu machen. Aber ich fühle mich immer noch am wohlsten mit der analogen Kamera. Ich fotografiere auch noch mit einer alten Kamera und schwarzweiß, ich klammere mich ein bisschen an die alte 35mm-Kamera. Wenn alle was Neues machen, muss es auch jemanden geben, der am Alten festhält. Aber alles nach den Dreharbeiten, der Schnitt, die Lichtbestimmung und auch die Vorführungen können gerne digital sein. Ich bin ein paar Mal drauf rein gefallen, saß im Kino und dachte: Ach, das ist doch gut so, im Kino, mit einer richtigen Vorführung. Und nachher habe ich erfahren, das war eine digitale Vorführung.

Sie sprachen eben von der Orientierungslosigkeit der Zuschauer. Was bedeutet das für sie als Filmemacher? Gehen sie anders an ihre Arbeit heran?
Schlöndorff: Man müsste seinen Film so unverwechselbar machen, wie möglich. Das ist aber schon immer wahr gewesen. Gleichzeitig würde ich das niemals einem jungen Regisseur als Rezept geben. Wenn man meint, man muss jetzt ganz besonders originell sein, kommt meistens etwas Schreckliches dabei heraus. Der Filmemacher muss das Gefühl haben: ich kann nicht anders. Er kann sich nicht nach dem Markt oder der Technik richten. Er kann nur versuchen, in sich reinzuhören: was möchte ich? Und dann kann er nur hoffen, dass es andere auch so sehen wollen. Sich nach Außen zu orientieren, das bringt nichts.

Aber gibt es nicht auch die Ratlosigkeit: Was soll überhaupt noch erzählt werden?
Schlöndorff: Manchmal denke ich, das klassische Kino, wie wir es gekannt haben, ist vielleicht letzten August mit Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni gestorben. Von jetzt an wird es ein anderes Kino geben. Das Kino, das die beiden gemacht haben, gab es vorher ja auch nicht. Das Kino ist ein Stehaufmännchen aus dem einfachen Grund: jeder will irgendwann mal rausgehen und mit anderen zusammen etwas erleben. Das ist eben Kino, Theater, Live-Musik.

Sie haben als Regisseur ihre Vaterfiguren gehabt. Haben Sie das Gefühl, nun auch zu den Vätern der jungen Filmemacher zu gehören?
Schlöndorff: Das glaube ich nicht (lacht). Meine Kinoväter waren auch mehr wie ältere Brüder. Die, die ich in der Zeit der Nouvelle Vaguebewunderte, Louis Malle oder Melville, waren gerade mal ein paar Jahre älter. Vorbilder wären eher die Meisterwerke von Fritz Lang oder Eisenstein, aber ich hätte nie gedacht, dass das Vaterfiguren für mich sind. Opas habe ich immer viele und gerne gehabt. Josef von Sternberg, immer wieder Billy Wilder. Oder Dramatiker wie Arthur Miller oder Max Frisch, die gut über Kinos sprechen konnten. Schriftsteller sind ja oft gute Kinogänger. Heinrich Böll ging gerne ins Kino um zu weinen, so richtig als ganz normale Zuschauer, aber als Erzähler hat er natürlich auch analysiert, was er da sieht. Mit diesen Großvätern habe ich mich gerne unterhalten, aber mit denen stand ich nicht in Konkurrenz.

Letzte Frage: Sie haben von dem „großen Berg“ gesprochen aus Literatur oder politischen Ereignissen, der noch abgetragen werden muss…
Schlöndorff: Oder erklettert…

Was erklettern Sie als nächstes?
Schlöndorff: Ich habe noch kein Projekt. Nachdem ich bei „Die Päpstin“ ziemlich über Nacht gefeuert worden war, hatte ich so schnell nichts anderes. Ich habe mich erstmal hingesetzt und die ganzen Geschichten, die ich ihnen gerade erzählt habe und noch ein paar mehr aufgeschrieben als ein Buch. Das wird im Herbst erscheinen Und jetzt schaue ich mich um, was der nächste Film sein wird. Da bin ich auch nicht nervös. Der wird mich schon finden.

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