Herr Karmakar, wenn man sich die Berichterstattung zu den „Hamburger Lektionen“ anschaut, fällt auf, dass ausführlich auf die globalisierungskritischen Argumente Fazazis eingegangen wird, die religiösen Fragen aber ignoriert werden, als seien sie nur eine Art Verzierung. Ist das ein Missverständnis?
Karmakar: Die religiöse Aufladung oder Herleitung der Gedankengänge von Fazazi ist sehr wichtig. Mir geht es aber darum zu zeigen, dass man ihn auch verstehen kann, gerade wenn man nicht religiös bewandert ist. Wir haben uns ja ein bisschen einreden lassen, dass man überhaupt nur zu dem Thema reden kann, wenn man zum Beispiel den Koran kennt. Aber in diesen Reden sind sehr viele Punkte auszumachen, die auch mit unserer eigenen Geschichte zu entschlüsseln sind. Viele radikale Bewegungen haken an realen Punkten ein und Fazazis Argumentationslinie im Bezug auf den Kolonialismus und wie wir ihn heute verstehen ist zum Teil auch berechtigt. Interessant ist aber, was er weg lässt und welche Konsequenzen er daraus zieht. Die Konsequenz aus seiner Kolonialismuskritik ist Rache. Wenn man ihm sozusagen vor 100 Jahren oder heute noch Tomaten geklaut hat, leitet er daraus die Berechtigung ab, Gut und Hab der Menschen in Deutschland stehlen oder rauben zu dürfen, damit man auf unsere Kosten etwas Gutes für den Islam tun kann. Auffällig ist, wie wenig er auf die Eliten der arabischen Länder und deren Rolle im Kolonialismus eingeht.
Sie zeigen zu Beginn des Films die Hamburger Straße, den Steindamm, an dem die Al Quds-Moschee liegt. Wollten sie damit zeigen, dass der Film nicht von etwas Exotischem handelt, sondern uns ganz direkt angeht?
Karmakar: Zum einen verbindet dieses Bild den Film mit der Gegenwart. Das ist etwas, was aus unserer Gesellschaft herauskommt. Die beiden Predigten von Fazazi im Film bestimmen zudem sehr genau einen Ort und Zeitpunkt, nämlich den Januar 2000, gut eineinhalb Jahre vor dem 11.September. Es geht nicht um irgendeine Moschee, es bedeutet nicht, dass das überall in Deutschland sein könnte. Es geht genau um diesen Ort in Hamburg. Außerdem gefällt mir dieses Bild, weil es eben keine Moschee zeigt, wie wir sie uns vorstellen. Es ist ein normales Bürogebäude. Man beschäftigt sich nicht mit dem, was da passiert, man fährt daran vorbei.
Auf der einen Seite kann man sich vorstellen, dass Fazazi seine Wirkung nicht verfehlt, wenn er sagt: Unsere Mütter sind hier Putzfrauen, wir machen die Arbeit, für die sich die Deutschen zu schade sind. Auf der anderen Seite gab es den Fall der Konvertiten im Sauerland, die als mutmaßliche Attentäter festgenommen wurden. Wurden die möglicherweise von Fazazis Weltbild angesprochen?
Karmakar: Ein wesentliches Element des Films sind die Reaktionen der Anwesenden im Gebetsraum, die wir durch Untertitel hinzugefügt haben. Dadurch entsteht ein sozialer Kontext. Fazazi spricht nicht wie ein Präsident in die Kamera, sondern es gibt eine Art Gesprächssituation, in der Leute ihn reflektieren, und an manchen Stellen wird deutlich, dass sie gut finden, was er sagt. In diesem sozialen Raum formuliert er ein attraktives „all-inklusive-Angebot“. Gleichzeitig propagiert er ein sehr streng ausgerichtetes System, in dem auch der Gedanke einer Elite eine sehr starke Rolle spielt, die sich strengen Exerzitien aussetzt.
Aber funktioniert das im Christentum nicht ähnlich?
Karmakar: Die Kirchen sind sicher beeindruckt von der Rigidität, die im Islam teilweise eingefordert wird. Bei uns beten die Leute, wenn überhaupt am Sonntag, bei denen ein paar Mal am Tag – da könnten wir uns mal eine Scheibe von abschneiden, denken die. Das Elitäre Moment ist das entscheidende. Viele radikale Bewegungen haben sich als Avantgarde verstanden und daraus ihre Selbstermächtigung abgeleitet, zum vermeintlichen Wohl der Allgemeinheit Dinge zu tun, die Mord mit einschließen. Diese Perspektive ist anscheinend ein verlockendes Angebot. Man muss ja immer bedenken, dass es sich bei der Hamburger Gruppe, die an den Anschlägen vom 11. September beteiligt war, überhaupt nicht um mittellose oder unterdrückte Personen gehandelt hat. Mohammed Attas Vater ist Rechtsanwalt, seine Schwestern sind Professorinnen in Kairo. Das ist nicht das klassische Bild vom marokkanischen Bauern, der hier ausgebeutet wird.
Ist Fundamentalismus also eher ein Minderheitenphänomen oder stimmt die Theorie eines generellen Kulturkampfes?
Karmakar: Man kann schon sagen: Es gab zum Beispiel den Marxismus-Leninismus und jetzt gibt es eine religiöse Aufladung, die sich auf das Leben des Propheten bezieht. Ich will nicht sagen, dass sie das Verpackungsmaterial ist, aber ich finde es auffällig, welche rhetorischen Figuren es gibt, die immer gleich funktionieren. Das beängstigt mich. Und man kann nicht außer Acht lassen, dass ein marokkanischer Imam da in einer Moschee predigte, die Anfang der 90er Jahre von marokkanischen Immigranten gegründet worden war; in der Gruppe um Atta waren aber nicht alle Marokkaner. Was mir auch aufgefallen ist: es gibt so viele Leute, die nach Mitteleuropa wollen, dafür auch den eigenen Tod in Kauf nehmen und dann gibt es diese Leute, die haben die Möglichkeit hier zu sein, sind auch Teil des universitären Betriebs, lehnen aber alles komplett ab. Das ist doch merkwürdig.
Es gibt eine gewisse Ästhetik des Terrors, in der Art wie sich Terroristen zum Beispiel im Internet darstellen. Ist dieses ästhetisierte Desperadotum allein schon sinnerfüllend oder glauben die Attentäter wirklich, dass sie nach der Tat im nächsten Moment im Jenseits sind?
Karmakar: Ich glaube, du kannst so etwas nicht sagen, wenn du nicht wirklich davon überzeugt bist. Das geht gar nicht anders. Wie will man andere von einer Sache überzeugen, von der man selbst gar nicht überzeugt ist? Selbst wenn man im Detail vielleicht lügen würde, täte man das für diese Sinnstiftung, diese Utopie, die viele Leute annehmen wollen. Sie fühlen sich entbunden, individuell entscheiden zu müssen. Dass Angebot, dich als Individuum umdefinieren zu können, Träger einer historischen Aufgabe zu sein, macht auch die große Attraktivität der Rede Fazazis aus. Und wenn dann noch dieser Absolutheitsanspruch formuliert wird, mit dem der Islam in alle Lebensbereiche hineingreift, von der Ernährung über die Kleidung bis hin zur Heirat, entbindet einen das auch von alltäglichen Sorgen und Entscheidungen. Dieses entbindende Moment ist auch ultra attraktiv für Leute aus unserer Gesellschaft, in der ja die individuelle Entscheidung im Vordergrund steht.
Interessanter Weise bietet der Islamismus für viele Sinnfragen eines weiten Spektrums Antworten an, von der Globalisierungskritik von Attac bis hin zum Judenhass der NPD. Was kann unsere Gesellschaft dagegen halten, die keine Sinnangebote macht, sondern den Menschen eher auf sich allein stellt?
Karmakar: Erstmal muss man festhalten, dass sich nicht viele Muslime dieser Allumfassenheit unterwerfen wollen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Im Bezug auf unsere Gesellschaft ist es halt so: Ich bin kein Minister, auch nicht im übertragenen Sinne. Jeder muss diese Probleme mit sich selbst austragen und man muss akzeptieren, dass das Leben nicht immer nur in eine Richtung geht, sondern dass es Höhen und Tiefen gibt und dass die Tiefen für den Reifungsprozess genau so wichtig sind, wie ein Höhepunkt. Bei uns wird zum Beispiel viel zu selten dargestellt, dass etwas Schönes und Positives nicht einfach so entsteht, sondern dass man eben auch etwas dafür tun muss. Dass Zweifel und allgemein negative Aspekte ein wesentlicher Bestandteil des Lebens und des künstlerischen Schaffens sind, wird immer ausgeblendet, weil wir uns nur für die Erfolgsgeschichten interessieren.
Und negative Erfahrung werden über den Umweg des „positiven Denkens“ negiert.
Karmakar: „Immer positiv denken“ ist eine völlig sinnentleerte Formel, die macht mich richtig aggressiv. Beim Sport und in der Politik heißt es ständig: Wir müssen nach vorne gucken. Was heißt das? Sollen wir nicht mehr nach hinten sehen? Unser Gehirn funktioniert doch über Erinnerung. Die Erinnerung ist doch ein wesentlicher Bestandteil unserer Person. Wenn wir das Zurückliegende einfach ausblenden, führt das eben auch zu einem Verständnisverlust, wie das Leben funktioniert.
Immer positiv zu denken ist eine völlig sinnentleerte Formel, die macht mich richtig aggressiv.
Die Frage ist, wie man zurückschaut. In Deutschland fällt in dem Zusammenhang schnell das Wort der „Bewältigung“.
Karmakar: Ja, man sagt: Schlimm, 50 Millionen Tote! Aber wir haben uns wieder versöhnt und gucken jetzt nach vorne.
Wo verläuft die Grenze zwischen dem Rückblick zum besseren Verständnis der Gegenwart und jener Rückwärtsgewandheit, die zum Beispiel mit der Kolonialisierung Rache legitimiert?
Karmakar: Das wesentliche Element bei Fazazi ist ja nicht der Kolonialismus. Für mich ist hoch interessant, wie klar er macht, warum er unsere Gesellschaft komplett ablehnt. Für ihn ist alles gottgegeben, von Gott bestimmt. Und wir sind sozusagen so gottlos, dass wir die Regierungsgeschäfte an gewählte Vermittler delegieren. Er lehnt genau das ab, was die Erfolgsgeschichte unserer Gesellschaft ausmacht. Bei allen Fehlern und Problemen, die wir haben: Letztlich ist doch die Geschichte der Bundesrepublik keine negative, Furcht einflößende Veranstaltung. Sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen, sie zu verteidigen ist eine Möglichkeit, aus der Vergangenheit Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Unsere Gesellschaftsform ist nicht selbstverständlich, auch kein Dauerläufer oder ein sich selbst immer wieder erneuerbarer Motor.
Wie sehen die Möglichkeiten zu einem gesellschaftlichen Diskurs in der islamischen Welt aus?
Karmakar: Es gibt schon die Vielfalt von Meinungsäußerungen. Es gibt ja sehr viele Talkshows auf Al-Dschasira. Da wird ja nicht nur immer nur verkündet, sondern viele Themen werden besprochen. Fazazi erwähnt ja eine Talkshow, in der darüber diskutiert wurde, ob eine Frau, die menstruiert, den Koran berühren darf. Es ist doch interessant so etwas zu erfahren, welche Probleme die Anwesenden in der Al Quds-Moschee haben und mit welcher Strenge Fazazi darauf reagiert. Einer fragt: Ich habe einen Job, der mir nicht erlaubt, am Freitag zu beten. Was soll ich machen? Dann sagt er: Du musst deinen Job aufgeben. Wir müssen das auch als ernsten Diskurs verstehen lernen, selbst wenn uns das noch so fremd ist.
Es geht also darum, über das Verstehen ihres alltäglichen Umfeldes, Terroristen besser einschätzen zu können?
Karmakar: Jeder Staatsanwalt, der in nationalsozialistischen Gewaltverbechen ermittelte, hat doch versucht zu verstehen, was die Leute veranlasst hat, zum Beispiel die Ghettos in Osteuropa zu liquidieren. Ein Staatsanwalt kann sich doch gar nicht erlauben, zu sagen: die spinnen alle. Er muss doch versuchen, das mit seiner Ratio nachzuvollziehen, um die Verbrechen in eine strafrechtliche Sprache umsetzen zu können. Das ist doch auch hier der Fall.
Auch als gläubiger Jude oder Christ fühlt man sich wie in der Sklaverei, wenn man am Samstag oder Sonntag arbeiten muss. Wo beginnt der Islamismus, den man bekämpfen muss?
Karmakar: Wenn ein Neonazi den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, dann haben wir doch ein völlig automatisiertes Handlungsmuster. Wir gehen davon aus, dass der Staatsanwalt in dieser Sache ermittelt. Muss er ja auch. Warum soll er das nicht auch bei einem Imam machen? Natürlich gibt es bei uns aus guten Gründen Religionsfreiheit. Aber ich erwarte letzten Endes, dass so jemand wie Fazazi bei uns nicht mehr predigt. In einer Talkshow auf Al-Dschasira zur zweiten Intifada wurde Fazazi im Oktober 2000 über das Telefon zugeschaltet und sagte, dass alle Juden in Israel ermordet werden müssen.
Man würde davon ausgehen, dass der Verfassungsschutz das mitbekommt und tätig wird.
Karmakar: Natürlich, das ist doch deren Aufgabe. Wir wissen, dass die Moschee im Fokus vom Verfassungsschutz war. Aber die haben ihre Aufmerksamkeit anscheinend auf etwas anderes gelegt. Auch auf dem Offenen Kanal in Berlin sollen wohl früher Predigten gesendet worden, die den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen könnten.
Inwiefern ist Fazazis Einfluss auf die Attentäter des 11. September nachweisbar?
Karmakar: Bei den Hausdurchsuchungen nach dem 11. September ist bei einem der Tatverdächtigen eine dieser Videokassetten mit Fazazis Lektionen gefunden worden. Die Kassetten standen in der Moschee zur Verfügung und auch in einer Buchhandlung außerhalb der Moschee. Zum Zeitpunkt der Predigt im Januar waren die meisten der Gruppe um Atta und Binalshib in Ausbildungscamps in Afghanistan.
Was geschah mit Fazazi nach dem 11. September 2001?
Karmakar: Er wurde nach den Terroranschlägen in Casablanca 2003 verhaftet und in Marokko zu 30 Jahren Haft verurteilt. Unsere Staatsanwaltschaft ist nie gegen Fazazi tätig geworden. Er verschwand im Oktober 2001 und auch hier neigt man immer gerne dazu, ein Problem für erledigt zu halten, wenn es das Land verlassen hat.
Das Interview enstand im September 2007.