Herr Riha, inwieweit ist Armut relevant für schulische Bildung? Sind für den Lehrer denn nicht alle Schüler gleich?
Riha: Nein, leider nicht. Wertet man die PISA-Daten nach der sozialen Schichtzugehörigkeit aus, wie es bereits 2003 die Forscher Tillmann und Meier getan haben, so stellt man fest, dass die soziale Schicht den Schulerfolg in keinem anderen untersuchten Land so stark mitbestimmt wie in Deutschland. Die ärmsten Kinder sind also auch die mit den geringsten Bildungschancen. Bei gleicher Intelligenz und gleichen Leistungen bekommt z.B. ein Facharbeiterkind drei Mal seltener die Empfehlung fürs Gymnasium als ein Akademikerkind.
Werden arme Kinder also von Lehrern diskriminiert?
Riha: So vereinfacht kann man das nicht sagen. Zum einen spielen sicherlich tatsächlich Selektionsprozesse eine Rolle, wobei Lehrer ihre Empfehlungen für ein Kind aber eher danach auswählen, inwieweit es für eine längere Schullaufbahn durch das Elternhaus ökonomisch und ideell unterstützt werden kann. Hier ist etwa mit einzubeziehen, dass mit einem Gymnasialbesuch längere Kosten und Abhängigkeiten verbunden sind als mit einem niedrigeren Bildungsabschluss. Zum anderen ist bedeutsam, welche Bildungskompetenzen und welches Förderungswissen bei den Eltern von Lehrerseite wahrgenommen wird. Das wiederum hängt auch von deren eigenen Bildungsstand ab – somit werden Bildungschancen quasi weitergegeben. Drittens ist von erheblicher Bedeutung, ob die Eltern bereits frühzeitig förderliche Entwicklungsbedingungen anbieten können, welche die Vorraussetzungen für eine „positive Schulkarriere“ in Form von so genannten „Basiskompetenzen“ anlegen.
Was sind das für Kompetenzen und wie kann man sie fördern?
Riha: Am sinnvollsten ist hier wohl die Unterscheidung zwischen „Bildungs- und Nutzerkompetenzen“. Bildungskompetenzen sind etwa die Fähigkeit, sich längerfristig auf bestimmte Aufgaben zu konzentrieren, ein gewisses mathematisches Grundlagenwissen, sprachliche Fähigkeiten und eine rasche Auffassungsgabe. Nutzerkompetenzen sind all die Fähigkeiten, die nötig sind um die Lebensumwelt Schule als Lernangebot überhaupt nutzen zu können, also Motivation, Selbstsicherheit, emotionale Stabilität und soziale Fähigkeiten. Diese werden jedoch nur dann ausreichend gefördert, wenn Eltern bereits frühzeitig anregende Entwicklungsbedingungen anbieten können. Hierzu gehört neben einer gesunden Ernährung und anregendem Spielzeug auch eine angemessen große Wohnung und ein erträgliches Wohnumfeld mit Freizeitangeboten. Dies ist vor allem bei Familien in Sozialen Brennpunkten, wo die Eltern oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen angestellt sind, nur schwer zu gewährleisten. Auch die Eltern-Kind-Beziehung wird dadurch erheblich beeinträchtigt, denn Kinder brauchen unbelastete Erziehungspersonen.
Welche Rolle spielen dabei Veränderungen in Bezug auf Familien, z.B. die erhöhte Scheidungsrate?
Riha: In Deutschland gibt es einen perspektivischen Wandel des Familienbildes der „bürgerlichen Kernfamilie“, auf dem Schule in ihrer bisherigen Form basiert. So hat sich etwa der Anteil von Alleinerziehenden in den letzten Jahren systematisch erhöht was besonders in Ostdeutschland festzustellen ist, wo der Anteil alleinerziehender Eltern von 1996 noch 10 % derzeit auf 17 % gestiegen ist. Zudem gibt es eine Zunahme nichtverheirateter Eltern und sogenannter „Patchwork-Familien“, also Familien mit Stiefvätern bzw. -müttern (derzeit 8%). Diese neuen Familienformen sind besonders anfällig für zumindest zeitweilige Betroffenheit von Unterversorgung und Armut. Wie Studien belegen, wirkt sich aber auch eine nur zeitweise erlebte Armut entscheidend auf die Bildungs- und Nutzerkompetenzen von Kindern aus. Kinder, die in Armut aufwachsen, haben z.B. ein vierfach erhöhtes Risiko, Verhaltensstörungen zu entwickeln. Entsprechend berichten Lehrer in meinen Weiterbildungen von der Beobachtung, dass die Anzahl „schwieriger Schüler“ in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Dem entspricht auch, dass auch die WHO mit einer Zunahme der Zahl psychisch beeinträchtigter Kinder rechnet. Derzeit liegt deren Anteil bei etwa 15 – 20%. Im Jahr 2020 werden es nach Schätzungen der WHO 50 % mehr sein. Diese Prozesse lassen sich unter anderem plausibel auf ökonomische Benachteiligung und riskante Lebenslagen von Familien zurückführen.
Die soziale Schicht bestimmt den Schulerfolg in keinem anderen Land so stark mit wie in Deutschland.
Wie wirken sich diese Prozesse auf das Aufgabenfeld der Schule aus?
Riha: Schule in ihrer jetzigen Form ist trotz sehr engagierter Reformationsbemühungen im Bildungswesen noch nicht in der Lage, vor allem das Fehlen von Nutzerkompetenzen auszugleichen. Das lässt sich darauf zurückführen, dass die Konzeption von Schule als Bildungseinrichtung immer noch von dem Vorhandensein einer Kernfamilie ausgeht, welche eine ausreichende vorschulische wie schulbegleitende Förderung vornehmen kann. Dies wird in Zukunft jedoch seltener der Fall sein, da alternative Familienformen zunehmen werden, die unter den gespannten wirtschaftlichen Bedingungen der Globalisierung häufiger von riskanten Lebenslagen betroffen sind. Man kann somit sagen, mit dem Verschwinden der Mittelschicht macht Armut Schule – in dem Sinne, dass die Aufgaben von Schule durch einen Kompetenzwandel ihrer Zielgruppe „gemacht“ werden. Schule kann also nicht mehr lediglich Wissen vermitteln, sie muss kompensatorisch auch Familienfunktionen übernehmen.
Welche Lösungswege sehen Sie?
Riha: Vielversprechend ist bereits die zunehmende Verfügbarmachung von Ganztagsangeboten, die für Schulen und Pädagogen oft eine beträchtliche Umstellung bedeuten. Durch Ganztagsangebote vor allem im Grundschulbereich können suboptimale Entwicklungsbedingungen in benachteiligten Elternhäusern recht gut kompensiert werden. Durch die bessere Einbindung von fachlichen und nichtfachlichen Angeboten, eine größere Verweildauer in der Institution und eine bessere Förderungsmöglichkeit in multiprofessionellen Teams (also in Kooperation mit Sozialpädagogen, Erziehern und Psychologen) kann sich Schule als integrative, bindungsfördernde Lebensumwelt einbringen. Darüber hinaus ist es wichtig, dass sich Schule als Netzwerkbestandteil versteht und mit Einrichtungen der Jugendhilfe, der Familienberatung und der Familienpädagogik kooperiert. Insbesondere die Familienpädagogik kann Eltern helfen, auch in angespannten Lebenslagen Ressourcen zu entwickeln.