Frau Drohsel, seit wann sind Sie politisch?
Drohsel: Politisch aktiv bin ich seit 1995, seit ich 15 bin. Aber ich war auch schon vorher ein politisch denkender Mensch.
Können Sie sich erinnern, wann das eingesetzt hat?
Drohsel: Das ist ein Prozess. Ich bin in Berlin aufgewachsen und wenn man hier mit offenen Augen durch die Straßen läuft, bekommt man viel von den gesellschaftlichen Problemen mit. Ich habe als Kind gesehen, dass es Armut und Obdachlosigkeit gibt und das hat mich nicht kalt gelassen.
In Zehlendorf?
Drohsel: Erstens bin ich nicht in Zehlendorf aufgewachsen und zweitens bin ich mit meinen Eltern durchaus auch an andere Orte in Berlin gefahren. Wo man Sachen wie Ausländerhass mitkriegt, oder dass Frauen blöd angemacht werden. So ein diffuses Ungerechtigkeitsgefühl, dass hatte ich schon früher als mit 15.
Wurden Sie durch Ihr Elternhaus politisch geprägt?
Drohsel: Meine Eltern sind nicht politisch aktiv, aber sie sind politische Menschen und wir haben viel über politische Themen gesprochen. Der zweite Bildungsweg, die 68er Bewegung, das waren Themen, die meine Eltern geprägt haben und davon habe ich schon als Kind einiges mitbekommen.
Sie waren Sprecherin der Jusos in Zehlendorf. Ist das eine Gegend, die einen politisch prägt oder motiviert, politisch aktiv zu werden?
Drohsel: Groß geworden bin ich in Steglitz. Unser Haus war ein recht simples Mietshaus, aber in der Gegend stehen schon vorwiegend Villen. In diesem Sinne war das prägend, da ich auf der einen Seite zur Kenntnis genommen habe, dass das eine privilegierte Gegend ist. Auf der anderen Seite war mir früh klar, dass mich etwas von den Leuten unterscheidet, die in den Villen wohnen.
Gab es dadurch ein gewisses Rebellionsgefühl?
Drohsel: Nein, zumindest nicht gegen einzelne Menschen dort. Höchstens gegen die unterschiedlichen Verhältnisse, in denen Menschen aufwachsen.
Sie haben zeitweise in Rom studiert, wie prägend war für Sie das dortige politische Klima, die politischen Extreme, sowohl links als auch rechts, sind ja weit ausgeprägter als hierzulande.
Drohsel: Als ich nach Rom gegangen bin, war ich bereits politisch aktiv und hatte schon meine grundsätzlichen Überzeugungen. Eine prägende Zeit war es aber trotzdem, weil das unmittelbar nach Genua war. Es gab eine Debatte um die Frage der Polizeigewalt und ob man dieser rechtsstaatlich beikommt.
Ansonsten ist die politische Kultur in Italien eine andere, polarisierter als bei uns.
Ist das gut?
Drohsel: Ich finde es grundsätzlich gut, klare Positionen zu beziehen und zu vertreten. Aber diese müssen natürlich auch begründet sein.
Die Fragen nach Ihrer Herkunft und politischen Prägung stellen wir, weil wir gerne wissen wollen, was eine Politikerbiographie so alles braucht.
Drohsel: Ich weiß gar nicht, ob es eine Politikerbiographie gibt. Zumindest kann ich nichts über irgendwelche zwingenden Erfordernisse sagen. Ich war immer politisch aktiv, nicht weil ich eine Politikerkarriere angestrebt habe, sondern weil ich es sinnvoll finde, mich politisch einzubringen.
Sie sind immerhin Bundesvorsitzende der Jusos.
Drohsel: Ja, das hat sich so entwickelt, aber das war nicht mein Plan. Ich habe auch nie gedacht: Für eine Karriere muss ich dieses oder jenes machen. Meiner Meinung nach sollte man politisch aktiv sein, weil man Dinge verändern will. Irgendwann kommt natürlich die Erkenntnis hinzu, dass man bestimmte Dinge nur verändern kann, wenn man auch die Möglichkeit dazu hat, sprich eine Position, in der man gestalten kann.
Wie wird man denn Bundesvorsitzende der Jusos?
Drohsel: Ich bin mit 15 politisch aktiv geworden, weil es so viel Ungerechtigkeit auf dieser Welt gibt. Ich habe angefangen, bei den Jusos mitzudiskutieren und mitzuarbeiten. Dann habe ich mich zum Beispiel dafür eingesetzt, dass die Jusos Berlin eine Demonstration unterstützen und dazu musste ich den Landevorstand fragen. Irgendwann dachte ich, dass ich auch selber im Landesvorstand sein und so selber mitentscheiden könnte. Das hat sich bei mir so ergeben.
Und was halten Sie von Quereinsteigern? Kann man auch ohne so eine lokalpolitische Vorgeschichte in den Politikerberuf hineinwachsen?
Drohsel: Sicher gibt es ein paar Beispiele, wo das geklappt hat. Gleichzeitig ist eine Partei auch demokratisch organisiert und um dort eine verantwortungsvolle Position zu bekommen, braucht man Leute, die die politische Arbeit und die Positionen gut finden. Politisches Vertrauen entsteht meist durch gemeinsame Arbeit.
Man wird also in der Partei nur anerkannt, wenn man sich über Jahre hochdient?
Drohsel: Dass man oft von der ‚Ochsentour’ spricht, die man durchlaufen muss, kommt daher, weil es keinen besseren Garant für eine Person gibt, als deren praktische Arbeit, die man über ein paar Jahre kennen gelernt hat.
Die Ochsentour ist also wichtig für den innerparteilichen Rückhalt. Ist sie es auch für den Wähler?
Drohsel: Letztlich – das gilt sowohl für die Zusammensetzung des Parlaments als auch für die Zusammensetzung einer Partei – muss es nach demokratischen Prinzipien funktionieren. Und da entscheidet immer noch die Basis, wer in eine verantwortungsvolle Position kommt. Es führt kein Weg daran vorbei, sich mit der Basis auseinanderzusetzen. Das finde ich vom Grundanspruch auch richtig.
Aber ändert sich das nicht gerade?
Drohsel: Wieso?
Aufgrund des Einflusses der Medien. Mit Karl Theodor zu Guttenberg steht im Moment ein Politiker ganz oben auf der Beliebtheitsskala, den vor ein paar Monaten noch niemand kannte. Glauben Sie nicht, dass sich Politikerbiographien ändern werden? Dass es in Zukunft schneller geht?
Drohsel: Das kann schon sein. Die Medien gerade mit ihrer Schnelligkeit haben vielleicht eine andere Bedeutung als vor 40 Jahren. Trotzdem bin ich der Meinung – vielleicht bin ich da auch sehr traditionell – dass die Basis für die eigene politische Arbeit die Unterstützung durch die Parteigenossen ist, das ist die Verankerung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das anders funktionieren sollte.
Anders gefragt: Ist in einem Wahlkampf heute nicht viel mehr das über die Medien vermittelte Image eines Politikers das Entscheidende und weniger seine bisherigen realpolitischen Leistungen?
Drohsel: Natürlich sind vermittelte Bilder über Medien mitentscheidend. Auf der anderen Seite glaube ich, dass Wahlkämpfe vor Ort auf der Straße ausgetragen werden, die direkte Kommunikation ist immer noch entscheidend. Nichts kann einen so in Rage oder zum Nachdenken bringen wie das direkte Gespräch mit jemandem. Man kann nachfragen und auf Zweifel unmittelbar reagieren. Und das funktioniert nur, wenn man eine große Partei hat, die auch bereit ist, gemeinsam Wahlkampf zu machen.
Ihr Bild vom Wahlkampf ist also in der Tat noch eher traditionell. Was halten Sie denn von einer politischen Casting-Show, wie sie das ZDF mit „Ich kann Kanzler“ präsentiert?
Drohsel: Überhaupt nichts. Ich weiß auch gar nicht, was man daran gut finden soll. Das ist ein rein formalistisch-karrieristischer Zugang zu Politik. Politik zeichnet sich für mich dadurch aus, dass Menschen zusammen kommen, sich über politische Verhältnisse austauschen, überlegen, was ihnen nicht passt oder was sie wollen und anfangen, das gemeinsam umzusetzen. Das ist für mich Politik. An erster Stelle steht der politische Wille, etwas verändern zu wollen, nicht der Wille, Karriere zu machen.
Aber vielleicht wollen die Leute, die sich beim ZDF bewerben, ja auch etwas bewegen und suchen dafür nur eine Art Schnellzugang zum politischen Geschäft.
Drohsel: Ich denke, wenn man etwas bewegen will, kann man seine Zeit und Kraft auch dazu einsetzen, sich für seine Ideale stark zu machen, anstatt sich in irgendwelchen Castingshows zu präsentieren.
Für Ideale kann man sich doch aber auch im Fernsehen stark machen, vielleicht sogar mit großer Wirkung. Das Fernsehen ist immer noch ein viel genutztes Medium.
Drohsel: Aber der Gewinn einer Fernsehshow führt doch nicht dazu, dass hier kein Kind mehr in Armut leben muss oder Studiengebühren in bestimmten Bundesländern wieder abgeschafft werden. Ich finde, so ein Casting-Format ist inhaltsentleert.
Aber Casting-Formate erfreuen sich heute großer Beliebtheit. Könnte man nicht mit einer politischen Casting-Show die Bevölkerung wieder mehr für Politik interessieren?
Drohsel: Nochmal: ich weiß nicht, was an Casting-Formaten so positiv sein soll. Politik basiert darauf, dass man gemeinsam mit Menschen Dinge tut. Dass man sich Leute sucht, die die gleichen oder ähnliche politische Vorstellungen haben und dass man gemeinsam dafür kämpft, diese umzusetzen. Die Grundanlage dieser Casting-Shows ist aber Konkurrenz.
Gut, das mag sein. Aber gibt es „Casting“ nicht ohnehin schon in der Politik?
Drohsel: Das ist ein großer Unterschied. In der Politik werden demokratische Entscheidungen getroffen, eine Mehrheit stimmt für eine bestimmte Position oder auch für einen bestimmten Kandidaten. Es ist vielleicht nicht völlig unentscheidend, wie ein Mensch aussieht, welche Körpersprache er hat und welche Klamotten er an hat. Aber am Ende steht seine politische Position im Zentrum. Wenn jemand in eine politisch verantwortungsvolle Position gelangt, erwarte ich, dass er etwas Sinnvolles tut. Oberflächlichkeiten sind für mich dabei nachrangig.
Wir vermuten, dass viele Partei-Entscheidungen nach Umfragewerten gefällt werden, auch Personalentscheidungen. Oder war die Entscheidung, Frank-Walter Steinmeier zum Kanzlerkandidaten zu küren, etwa nur eine rein inhaltliche?
Drohsel: Da gab es ganz viele Gesichtspunkte, die eine Rolle gespielt haben, aber sicher keine Casting-Gesichtspunkte.
Ich war immer politisch aktiv, nicht weil ich eine Politikerkarriere angestrebt habe, sondern weil ich es sinnvoll finde, mich politisch einzubringen.
Man weiß allerdings, dass ein Außenminister traditionell gute Umfragewerte hat, Frank-Walter Steinmeier hatte sehr wahrscheinlich bessere als Kurt Beck.
Drohsel: Die Richtschnur auch für Personalentscheidungen ist für mich die Frage, wie am meisten sozialdemokratische Politik umgesetzt werden kann. Ich gehe davon aus, dass das auch die Gesichtspunkte waren, anhand derer die engere Parteiführung ihre Entscheidung getroffen hat.
Den Wahlkampf machen die großen Parteien heute nicht mehr alleine, sondern sie beauftragen große PR-Agenturen. Wird da inzwischen mehr an der Form als am Inhalt gearbeitet?
Drohsel: Das sind zwei unterschiedliche Sachen. Erst muss man sich entscheiden, welche Politik man möchte und danach, wie man das vermitteln kann. Dabei muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht mehr in einer Zeit leben, in der man im Hinterzimmer seine Flugblätter selbst druckt, sondern dass es auch Internet, großflächige Plakate und Zeitungsanzeigen gibt. Und dort muss man die Inhalte auch professionell vermitteln. Dafür Leute zu konsultieren, die sich damit auskennen, ist keine Schande.
Auf dem Internetkanal SPD-Vision gab es vor kurzem einen Wettbewerb für den Entwurf eines Steinmeier-Logos. Spricht das nicht auch dafür, dass Image und Oberfläche eine immer größere Rolle spielt?
Drohsel: Das hat schon immer eine Rolle gespielt. Bei Willy Brandt zum Beispiel war es auch wichtig, dass er mit „Mehr Demokratie wagen“ einen Slogan hatte. Der hat die Politik aber auf den Punkt gebracht. Es ging um die Vermittlung von politischen Inhalten.
Eine andere Image-Frage: Sind Sie im November 2007 aus der „Roten Hilfe“ ausgetreten. Weil Ihre Mitgliedschaft sonst dem Image der Jusos geschadet hätte?
Drohsel: Das war nicht der Gesichtspunkt, warum ich dort ausgetreten bin. Das Problem war einfach, dass man sonst bei jeder politischen Entscheidung die Debatte um die Rote Hilfe mitgeführt hätte. Ich habe zwar die Mitgliedschaft in der Organisation aufgegeben, aber dadurch nicht irgendwelche Positionen revidiert.
D.h., Sie haben gegenüber den Medien signalisiert, es gibt – formal – keine Verbindung mehr. Inhaltlich haben Sie aber keine Position aufgegeben. Zeigt das nicht die Macht der Medien?
Drohsel: Natürlich spielen die Medien auch eine Rolle. Ich wurde jedoch von meinem Verband gewählt. Das ist für mich das Entscheidende und dem fühle ich mich verpflichtet.
Kommen wir zu einem ähnlich gelagerten Problem: Franz Müntefering schließt eine Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke auf Bundesebene aus. Warum? Aus Gründen des Parteiprogramms?
Drohsel: Da müssen sie ihn selber fragen. Wir als Jusos sind der Meinung, dass man die inhaltliche Auseinandersetzung mit anderen Parteien suchen muss, auch mit der Linkspartei. Wir würden eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei nicht kategorisch ausschließen.
Wie würde sich eine Abkehr von der Ablehnung der Linkspartei auf die Umfrageergebnisse der SPD auswirken?
Drohsel: Ich bin keine Kaffeesatzleserin.
Für mich ist entscheidend, möglichst viel sozialdemokratische Politik durchzusetzen. Und ich sehe, dass das mit der Union in ganz vielen Punkten nicht funktioniert, beispielsweise beim gesetzlichen Mindestlohn. Der ist auch mit der FDP nicht umzusetzen.. Aber wenn die SPD nun leider nicht allein über 50 Prozent kommt, braucht man dafür Bündnispartner und die würde ich eher im linken Bereich verorten. Deswegen bin ich der Auffassung, dass man mit Grünen und Linkspartei auf jeden Fall sprechen muss. Und wenn es gelingen würde, sich auf gemeinsame Projekte zu einigen, dann bin ich niemand, der kategorisch eine Zusammenarbeit ausschließen würde.
Franz Müntefering tut es aber. Vielleicht weil die Linke bei vielen Bürgen noch eine falsche Assoziation auslöst?
Drohsel: In Berlin hat das rot-rote Bündnis jedenfalls eine Mehrheit. Dort hat es Wowereit überhaupt nicht geschadet, dass er die Koalition mit der PDS nicht ausgeschlossen hat.
Hat der Sozialismus ein schlechtes Image?
Drohsel: Wir leben in einer pluralen Gesellschaft und es gibt unterschiedliche Meinungen. Manche wie wir Jusos sind der Auffassung, dass unsere kapitalistische Gesellschaft von sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist und wir überzeugt davon sind, dass im Kapitalismus ein freies und gleiches Leben für alle nicht verwirklicht werden kann.
Dann erlebe ich aber natürlich auch Leute, die den Kapitalismus super finden, die es gerecht finden, dass es Arme und Reiche gibt – die wollen den Sozialismus logischerweise nicht. Und es gibt Menschen, die in der ehemaligen DDR konkret Unrechtserfahrungen gemacht haben, weil sie bespitzelt wurden oder im Gefängnis saßen und deshalb Vorbehalte gegenüber dem Begriff „Sozialismus“ haben. – An der Stelle kann man immer deutlich machen, dass die DDR nicht das ist, was sich die Jusos unter einem demokratischen Sozialismus vorstellt.
Aber besonders die CDU legt viel Wert auf die negative Konnotation beim Sozialismus, in vielen offiziellen Verlautbarungen heißt die Linke dort immer noch „SED-Nachfolgepartei“.
Drohsel: Klar. Das ist Polemik. Da habe ich den Eindruck, dass bei manchen Leuten noch nicht angekommen ist, dass der Kalte Krieg seit einiger Zeit vorbei ist.
Ich nehme auch nicht wahr, dass der Sozialismus überall eine negative Konnotation hat. Sicherlich werden liberale Anhänger des Kapitalismus immer plump gegen diesen Begriff polemisieren, aber gerade in der Krise wachsen doch die Zweifel am Kapitalismus.
Wie viel Prozent der Wähler kennen Ihrer Schätzung nach ein Parteiprogramm?
Drohsel: Das kann ich nicht schätzen.
Wonach entscheidet der Wähler Ihrer Meinung nach?
Drohsel: Positionen von Parteien werden neben dem Wahlprogramm auch in gesellschaftlichen Debatten deutlich. Es ist öffentlich klar, dass die SPD für einen gesetzlichen Mindestlohn ist und die CDU dagegen. Oder dass Olaf Scholz sich sehr bemüht, die Leiharbeit einzudämmen, und die CDU das verhindert. Das sind politische Standpunkte.. Ich habe schon den Eindruck, dass es für Wähler eine Rolle spielt, wie Parteien sich zu gesellschaftlichen Problemen äußern und welche Lösungen sie anbieten.
Laut einer Studie, der ‚Studentensurvey’ der Uni-Konstanz, nimmt selbst unter Studenten das Interesse an Politik immer weiter ab. Wie erklären Sie sich das?
Drohsel: Diese Umfragen kann man immer so oder so lesen. Ich persönlich habe den Eindruck, dass das Problem nicht darin besteht, dass die Leute politisch desinteressiert sind, sondern dass sie keine Lust auf etablierte Parteienpolitik haben. Deswegen ist das Engagement auch größer in Initiativen und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Es gibt durchaus eine Wahrnehmung, was gesellschaftliche Probleme sind und es gibt eine Meinung dazu, wie sich unsere Gesellschaft entwickeln und verändern soll. Aber den Entschluss, selbst politisch aktiv zu werden – den fassen sehr wenige.
Warum das Desinteresse an der etablierten Parteienpolitik?
Drohsel: Ich glaube das hängt, was die SPD angeht, mit verschiedenen Faktoren zusammen. Die SPD hat in den letzten Jahren viele Menschen enttäuscht, die der Partei traditionell zugeneigt waren. Weil sie – in der Wahrnehmung vieler Menschen – keine Politik gemacht hat, die die Situation für sozial schwächere Menschen verbessert hat. Dann kommt hinzu, dass der Druck auf individuelle Erwerbsbiografien, schnell zu studieren, Fremdsprachen zu lernen, Praktika zu machen, sehr groß ist. Damit ist die Freizeit, in der man sich politisch engagieren könnte, auch geringer.
Auch Sie zögern beim berufspolitischen Engagement. Gibt es Dinge, die Sie vom täglichen politischen Geschäft abhalten?
Drohsel: Ich will zuerst meine juristische Ausbildung abschließen, von daher steht für mich nach dem Juso-Vorsitz erst mal im Vordergrund, das Referendariat und das zweite Staatsexamen zu machen.
Aber danach?
Drohsel: …muss ich sehen, wo und wie ich mich weiter politisch betätige. Ich kann mir da grundsätzlich sehr verschiedene Sachen vorstellen, entweder in der Partei oder zum Beispiel als linke Anwältin. Ich werde dorthin gehen, wo ich das Gefühl habe, dass ich am meisten von dem umsetzen kann, wovon ich überzeugt bin. Und ich glaube, man kann an unterschiedlichen Stellen in dieser Gesellschaft viel bewirken.
Auch als Juristin?
Drohsel: Ich könnte mich für Flüchtlinge einsetzen, die vor der Abschiebung stehen, kann Frauen vertreten, die sexuell missbraucht wurden, oder ALG2-Empfänger verteidigen, denen das Geld vom Sachbearbeiter zusammengestrichen wird – es gibt schon viele Orte, wo man sich gegen Ungerechtigkeiten wehren kann.
Aber Sie haben zumindest eine politische Vision, die Verwirklichung des Demokratischen Sozialismus…
Drohsel: Richtig.
Angenommen Sie sitzen dann doch irgendwann im Bundestag, verliert man da im täglichen Geschäft, in zermürbenden Ausschuss-Sitzungen etc. solch eine Vision aus dem Blick?
Drohsel: Nicht zwangsläufig. Erst mal geht es um die grundsätzliche Orientierung, wo man hinwill. Ich weiß auch, dass es nicht übermorgen so sein wird, dass die Mehrheit den Kapitalismus aufheben und im demokratischen Sozialismus leben will. So lange das so ist, habe ich mich entschieden, Realpolitik zu machen, in der SPD. Das heißt: konkret an Fragen zu diskutieren und darum zu kämpfen. Beispielsweise ob man Studiengebühren einführt oder nicht. Das ist dann erst mal nicht die Verwirklichung des Demokratischen Sozialismus, aber es ist eine relevante Frage für einen Großteil von Menschen und darum lohnt es sich auch zu kämpfen. Dafür muss man die Vision nicht aufgeben, im Gegenteil, die grundsätzliche Orientierung ist als Richtschnur für realpolitische Entscheidungen notwendig.
Wie sieht der Demokratische Sozialismus eigentlich im Alltag aus? Werden Brötchen dann wieder zum EVP verkauft?
Drohsel: Warum? Die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich und es wird immer Leute geben, die viel Geld für gute Brötchen ausgeben, während sich andere Billigbrötchen kaufen oder kein Problem damit haben, die von gestern zu essen.
Wettbewerb würde also stattfinden.
Drohsel: Gegen Wettbewerb um gute Ideen ist doch nichts zu sagen. Die Frage ist doch, ob man Wirtschaft ausschließlich nach Markt, Wettbewerb, Gewinn und Profit ausrichtet. Dagegen spreche ich mich aus.
Woran würde man dann aber die Veränderungen im Alltag so richtig merken?
Drohsel: Zum Beispiel daran, dass es Armut nicht mehr in dem Umfang gibt. Ich finde zum Beispiel die Tatsache, dass soziale Herkunft heute so maßgeblich darüber entscheidet, was für eine berufliche Laufbahn derjenige später einschlagen kann, völlig inakzeptabel.
Und wie sieht der Politik-Apparat im demokratischen Sozialismus aus?
Drohsel: Grundsätzlich muss man schon darüber reden, wie man Demokratie so organisiert, dass auch tatsächlich alle daran partizipieren. Da haben wir heute das Problem bei der Wahlbeteiligung, der passiven Beteiligung, und auch bei der Frage, wer sich aktiv politisch engagiert.
Wünschen Sie sich mehr direkte Demokratie, auf allen Ebenen?
Drohsel: Ich finde, dass Elemente direkter Demokratie sinnvoll sein können. Andererseits muss man aufpassen, dass Volksbegehren im Zweifelsfall nicht für populistische Themen oder rechte Stimmungsmache ausgenutzt werden.
Wird durch mehr direkte Demokratie die Gesellschaft mehr politisiert?
Drohsel: Ja, das kann teilweise dazu führen. Wenn man sich die Auseinandersetzungen in Berlin über das Schulfach Religion, die Schließung des Flughafen Tempelhof oder die Nutzung des Spreeufers anguckt, das waren schon Konflikte, die die Stadt beschäftigt haben.
Wie sehen denn Politikerkarrieren in Ihrer Vision aus. Bleibt die Ochsentour?
Drohsel: Ich denke, es ist richtig, dass Menschen, die einen wählen, einem Vertrauen entgegen bringen müssen. Und in der Partei ist das überwiegend dadurch gewährleistet, dass die Leute einen aus der praktischen Arbeit kennen. Diese Ankopplung an die Basis finde ich wichtig.
Und das Modell Schwarzenegger?
Drohsel: Er ist für mich kein positives Beispiel, weil er eine Politik vertritt, die ich nicht gut finde.
Von einigen deutschen Politikern wird er inzwischen sogar für seine Politik gelobt…
Drohsel: Das sehe ich anders. Aber auch er ist durch eine demokratische Entscheidung ins Amt gekommen.
Lag das nicht viel mehr an Schwarzeneggers Medienprominenz?
Drohsel: Das mag sicherlich eine Rolle gespielt haben. Aber ich halte die Bevölkerung nicht für dumm. Die Menschen können schon selbst wahrnehmen, was es für politische Positionen gibt und sagen, ob sie das richtig finden oder nicht.
Der SPD-Politiker Karl Lauterbach sagte uns kürzlich in einem Interview „Es wird oft gegen das eigene Interesse gewählt.“
Drohsel: Ja, faktisch ist das auch so. Ich würde auch sagen, dass die Wirtschaftsordnung in Deutschland nicht im Interesse der meisten Bürger ist. Nur organisieren sich trotzdem zu wenige für eine Alternative. Deswegen muss man darum kämpfen und versuchen zu erreichen, dass die Menschen die Dinge anders und kritischer sehen.