Gunnar Vikene

Junge Schauspieler wollen meistens beweisen, wie gut sie spielen können – und dann übertreiben sie es schnell.

Gunnar Vikene über seine Erfahrungen in der Psychiatrie, die Selbstzweifel von Preisträgern und seinen Film „Vegas“

Gunnar Vikene

© vegasfilm.no

Gunnar Vikene, wie sind Sie Filmregisseur geworden?
Vikene: Ich habe während meines Dokumentarfilmstudiums mit dem Regisseur Trond Kvist „Boomerang“ gemacht, der 1995 in ganz Norwegen in die Kinos kam und für ziemlich viel Aufregung sorgte. Dann habe ich angefangen, Werbefilme zu drehen und meine ersten Spielfilme. So bin ich bisher noch nicht dazu gekommen, meinen Diplomdokumentarfilm zu machen. Aber mittlerweile habe ich zwei Kinder. Da bin ich noch ganz gerne Student.

Worum ging es in „Boomerang“?
Vikene: Um Gewalt bei der Polizei, genauer gesagt um einen Fahrstuhl, hier bei der Polizei in Bergen, in dem Verdächtige oft misshandelt worden sind. Das wurde durch eine Studie zweier Wissenschaftler aufgedeckt und der öffentliche Aufschrei war groß. Die Polizei fand heraus, von wem die Wissenschaftler ihre Informationen hatten und verklagte jene, die auf der untersten sozialen Stufe standen, also vor allem Junkies, wegen angeblicher Falschaussagen. Nach unserem Film wurden diese Prozesse alle wieder aufgenommen – alle wurden freigesprochen und bekamen hohe Entschädigungen.

Das hat Ihnen früh gezeigt, welchen Einfluss das Medium Film haben kann?
Vikene: Ja, auf jeden Fall. Allerdings waren die Entschädigungen eher eine tragische Farce. Wenn man Junkies plötzlich viel Geld in die Hand gibt, bezahlen Sie damit in der Regel keine Entzugsklinik.

An Ihrem neuen Film „Vegas“ haben Sie zum wiederholten Mal mit Torun Lian als Co-Autorin gearbeitet. Wie kam das?
Vikene: Wir haben uns vor etwa 12 Jahren bei einem Autorenworkshop kennen gelernt. Wir wurden Freunde und haben uns seitdem beim Schreiben oft unterstützt. Den meisten professionellen Lektoren, denen du deine Arbeit schicken kannst, merkst du an, dass sie deinen Film am liebsten selber machen würden. Sie kommen mit jeder Menge Ideen, die einem aber nicht weiterhelfen. Torun ist ganz anders. Sie behandelt einen mit Respekt. Sie stellt genau die richtigen Fragen, hilft einem klarer zu sehen, was man eigentlich schreiben will. 

Spielt es in dieser Zusammenarbeit eine Rolle, dass Lian selbst Regisseurin ist, die ja mit „Nur Wolken bewegen die Sterne“ einen großen Erfolg, auch bei den Lübecker Filmtagen hatte?
Vikene: Interessanter Weise nein. Wir haben uns noch nie besonders viel über die Regie  unterhalten. Wir halten das Schreiben und das Umsetzen des Drehbuchs strikt voneinander getrennt. Das liegt wohl auch daran, dass für mich das Regie führen ein sehr persönlicher Prozess ist. Da geht es in erster Linie darum, ein Vertrauensverhältnis zwischen mir und den Darstellern aufzubauen. Wie man das macht, darin sind Regisseure sehr unterschiedlich.

Wie machen Sie es?
Vikene: Mit erwachsenen Darstellern gehe ich erstmal aus und wir betrinken uns. Das sollte ich vielleicht nicht sagen. (lacht) Aber es ist mir wichtig festzustellen, ob die Schauspieler und ich über die Nervosität eines ersten Treffens hinaus eine gemeinsame Ebene finden können, ob wir uns füreinander interessieren. Dann kommt es eher zu einem Verhältnis, in dem man sich in der Arbeit direkt und ehrlich die Meinung sagen kann. Höflichkeit ist in dem Sinne am Filmset fehl am Platz. Nur so kann man seine Geschichte wahrhaftig erzählen. Wenn ich mit Kindern drehe, mache ich das genauso. Nur ohne Bier.

In Ihrem neuen Film „Vegas“ lernen sich drei Teenager in einem Heim kennen. Sie alle haben traumatische Erfahrungen hinter sich, aber nur das Mädchen Marianne lässt ihre Gefühle raus, die beiden Jungs erdulden fast alles mit regungsloser Mine.
Vikene: Das war gar nicht leicht. Junge Schauspieler wollen ja meistens beweisen, wie gut sie spielen können und übertreiben es dann schnell. Aber gerade diese Regungslosigkeit war sehr wichtig.

Inwiefern?
Vikene: Zum einen werden Dramen durch große Emotionen schnell sentimental. Man muss dem Publikum Raum lassen, die eigenen Gefühle in die Geschichte und auf die Protagonisten zu projektieren. Etwas prätentiös ausgedrückt: wenn überhaupt auf der Leinwand geweint wird, müssen den Zuschauern kurz zuvor die Tränen gekommen sein.

Diese Ausdruckslosigkeit hat auch etwas Bedrohliches.
Vikene: Während einer der Jungs seine Mutter umgebracht hat, aber immer noch hofft, dass sie zu ihm zurück kommt, versucht der andere seine Familie zusammen zu halten, obwohl der Vater seine Mutter regelmäßig verprügelt. Beide erlauben sich nicht, ihre Gefühle heraus zu lassen. Wenn sie das täten, bräche ihre Welt in Stücke. Darin liegt auch eine gewisse Stärke. Marianne dagegen lässt ihre Emotionen ungehemmt raus. Sie ist wohl die, die am dringendsten Hilfe braucht. Sie hat große Angst, verletzt oder zurückgewiesen zu werden. Diese Angst hat wohl jeder, aber bei ihr ist sie besonders krass.

In vielen ähnlichen Filmen sind es vor allem die jungen Frauen, deren nicht angepasstes Verhalten als Symptom einer psychischen Störung beschrieben wird. Wie exzentrisch oder extrovertiert darf man sein, bevor man als „krank“ gelten muss?
Vikene: Das ist schwer zu beantworten. Andersherum ist es einfacher. Zu Beginn meines Studiums habe ich als Betreuer in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet, wo ein Mädchen aufgenommen wurde, die so belastet von ihren Problemen war, dass sie sechs Monate lang kein Wort gesprochen hat. Erst als ich mich mit anderen zufällig über Vögel unterhalten habe, hat sie auf einmal von dem Vogel erzählt, den sie als Kind hatte und der gestorben war. Sechs Monate lang nichts zu sagen, das  ist definitiv nicht gesund.   

Familiäre und Gewalt unter Jugendlichen ist ein sehr aktuelles Thema. Wie akut ist das Problem in Norwegen?
Vikene:  Norwegen ist ein so reiches Land – es könnte eigentlich der beste Ort der Welt für Kinder sein. Aber etwa 80-100.000 Kinder unter 18 Jahren wachsen in Heimen auf, weil ihre Eltern es nicht schaffen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Und etwa 90 Prozent von ihnen landen in der Drogenszene oder werden kriminell. Es gibt gerade eine große Debatte in Norwegen zu diesem Problem. Morgen zum Beispiel wird es eine Vorführung von „Vegas“ geben, wo Politiker und Experten eingeladen sind, um über Lösungen zu diskutieren.

Wie könnten solche Lösungen aussehen? Werden die Sozialarbeiter falsch ausgebildet?
Vikene: Es gibt einige wenige Sozialarbeiter, die diesen Kindern ihr Leben gewidmet haben und sehr engagiert sind. Aber die meisten kommen frisch von der Schule in solche Heime und arbeiten dann drei, vier Jahre in dem Beruf, bevor sie ausgebrannt sind und sich was anderes suchen. Sie sind nicht erfahren genug, um Kindern zu helfen, die mit 10 oder 13 so kaputt sind, dass ihnen auch zehn Psychologen kaum mehr helfen können. Wenn diese Kinder nicht mit 4, 5 Jahren aus ihrem Familien heraus genommen werden, ist es in der Regel zu spät. Meine Freundin, die auch die Mutter meiner Kinder ist, arbeitet in einer Notfallstation für misshandelte und psychisch kranke Kinder. Sie sollen dort eigentlich maximal acht Wochen bleiben, aber die meisten bleiben bis zu einem Jahr, weil es einfach nicht genug Heime für sie gibt. Der Dokumentarfilm, den man da drehen könnte, wäre nicht zu ertragen. 

Wie läuft „Vegas“ in den norwegischen Kinos?
Vikene: In den ersten vier Wochen hatte er etwas 40.000 Zuschauer. Das ist nicht gerade viel, aber schon okay. 

In den deutschen Kinos haben es realistische Dramen aus Deutschland sehr schwer. Ist das in Norwegen ähnlich?
Vikene: Das kommt darauf an. Wenn so ein „Problemfilm“ zur richtigen Zeit und mit einem ausreichenden Marketingbudget gestartet wird, kann er auch schon mal 200.000 Zuschauer haben. Worauf ich allerdings richtig stolz bin, ist unser Kinosystem. Anders, als etwa in Schweden, gibt es bei uns keine Multiplexe, hinter denen die großen Produktionsfirmen stehen. Sie gehören entweder den Kommunen oder werden privat betrieben. Natürlich will man auch in unseren Kinos lieber Gewinne als Verluste machen und es wird immer schwieriger, die Menschen dazu zu bewegen, viel Geld fürs Kino auszugeben. Mehr als 2-3 Mal im Jahr macht man das hier im Durchschnitt auch nicht. Aber es gehört zum Selbstverständnis in Norwegen, dass im selben Kino nicht nur der aktuelle Blockbuster, sondern auch der kleine schwedische Kunstfilm gezeigt wird, der in Schweden gerade mal 5000 Zuschauer hatte.   

Einige norwegische Regisseure haben in den letzten Jahren auch in den USA gedreht. Bent Hamer und Petter Næss zum Beispiel. Wäre das auch etwas für Sie?
Vikene: Petter Næss hat mir erzählt, dass er bei „Mozart und der Wal“ fünf Produzenten hatte, die sich nicht einig werden konnte, ob sie eine Komödie oder lieber ein Drama haben wollten. Wenn du dich als Dienstleister siehst, der seinen Job macht, und nach den Dreharbeiten die Verantwortung für den Film komplett abgibt, dann geht das. Solange sich nicht ein interessantes Angebot zu den richtigen Bedingungen ergibt, bleibe ich doch lieber hier.

Was bedeutet Ihnen ein Erfolg auf einem Festival?
Vikene: Für die Karriere zählt eigentlich nur ein Erfolg auf einem der ganz großen Festivals, in Cannes, Venedig oder Berlin. In Rom hat „Vegas“ gerade eine Lobende Erwähnung bekommen. Wir haben Karoline gefragt, die Darstellerin von Marianne, ob sie hinfliegen möchte. Und sie meinte „Ich muss eigentlich eine Englisch-Klausur schreiben. Aber… okay.“ Dann hatte ihr Flieger Verspätung und sie kam gerade noch im letzten Moment zum Fotoshooting am roten Teppich. Man sieht sie jetzt etwas gestresst und orientierungslos neben Hellen Mirren stehen. Aber ich vermute. dass war die verpasste Klausur wert, denn Hellen Mirren ist eine ihrer Lieblingsschauspielerinnen.

Sie haben für Ihren Film „Himmelfall“ vor sechs Jahren auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck den Publikumspreis bekommen…
Vikene: Das hat mich sehr gefreut und überrascht, denn die Konkurrenz war damals sehr gut. Gegen die Selbstzweifel, die jeder vernünftige Mensch ja manchmal hat, hilft das, aber nur für ein paar Wochen. Dann redet man sich ein: bei der Auszählung der Stimmen sind bestimmt die Zettel vertauscht worden. Eigentlich hat ein anderer gewonnen.

Werden Sie dieses Mal in Lübeck zu Gast sein?
Vikene: Das weiß ich noch nicht. Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich pleite und müsste erst noch einen Sponsor finden. Aber ich habe viel Gutes über die Nordischen Filmtage gehört. Solche kleinen Festivals sind weniger prätentiös, da hat man auf jeden Fall die angenehmeren Begegnungen.

Woran arbeiten Sie gerade?
Vikene: Ich suche gerade nach Arbeit. Ich schreibe auch an einem Drehbuch, aber es ist zurzeit auch bei uns ungeheuer schwierig, einen Film finanziert zu bekommen. Vielleicht gehe ich in die Psychiatrie – aber hoffentlich wieder auf die angenehmere Seite des Zauns. (lacht)

Gunnar Vikene wurde 1966 in Bergen geboren und ist einer der erfolgreichsten norwegischen Regisseure seiner Generation. Zuletzt war er mit dem Kinderfilm „Rettet Trigger!“, der in Deutschland auch in die Kinos kam, auf den Berliner Filmfestspielen mehr

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