Herr Garbarek, auf den meisten Ihrer CDs spielen Sie eigene Werke. Sehen Sie sich eigentlich als Komponist?
Garbarek: Wenn man darunter versteht, dass jemand mit Papier und Bleistift dasitzt, Musik schreibt und darüber nachdenkt – das bin ich nicht, da sehe ich mich eher als Musiker, der ein Instrument spielt, einen Klang erzeugt.
Allerdings war ich vor einigen Jahren schon etwas irritiert, als die TONO (norwegische GEMA, d. Red.) zu mir sagte: „Ihre Musik ist nur Improvisation“. Daraufhin meinte ich: „Es ist Musik, ich habe diese Noten, diese Tonfolgen erfunden, wie ein Komponist – ich sollte etwas dafür bekommen.“ Aber für die war es nichts wert. Weil ein ‚richtiger’ Komponist in ihren Augen Stunden und Stunden damit zubringt. Woraufhin ich ihnen gesagt habe, dass ich mein ganzes Leben damit verbracht habe, an den Punkt zu kommen, wo ich diese Noten so spielen kann.
Und was war das Ergebnis?
Garbarek: Am Ende bekamen wir ein bisschen, dann wurden die Tantiemen über die Jahre mehr, dann ist es wieder zurückgegangen. Ich habe ihnen dann noch gesagt, dass es doch auch darum gehen muss, wie viele Leute diese Musik hören. Also, dass grob gerechnet Paul McCartney 90 Prozent kriegen sollte, ich vielleicht 1 Prozent und ein zeitgenössischer Komponist 0,5 Prozent. Aber diese Sicht der Dinge wurde ignoriert (lacht)…
Sie haben neben der Improvisation aber auch Filmmusik geschrieben…
Garbarek: Ich habe auch Musik für Orchester geschrieben, ich kann auch am Tisch sitzen mit Papier und Bleistift. Aber ich begreife das nicht als etwas grundsätzlich Anderes als wenn ich spiele.
Vielen Hörern in Deutschland sind Sie bekannt durch „Officium“, ein Projekt bei dem Sie zu dem Gesang des Hilliard-Ensembles improvisieren. Finden die Konzerte eigentlich nur in Kirchen statt?
Garbarek: Ja. Wir haben auch schon mal andere Orte ausprobiert, Konzertsäle, sogar mal ein Zelt mit Soundanlage. Aber das funktioniert nicht richtig. Die richtige Magie entsteht erst, wenn diese Atmosphäre da ist, dieser große Raum, in dem sich die Klänge mischen.
Das heißt, Sie gehen in Kirchen aus Gründen der Akustik?
Garbarek: Für mich ist das ganz sicher so.
Nicht aus religiösen Gründen.
Garbarek: Nein. Das ist eine rein musikalische Überlegung. Der Kirchenraum bietet sich für diese Art von Musik an, sie wurde ursprünglich ja auch für diesen Raum gemacht.
Und dann gibt die Kirche dem Ganzen… – also, ich mag das Wort „religiös“ nicht so sehr – aber für manche Hörer gibt es dem Ganzen eine gewisse Spiritualität: das Gefühl von hoher Kunstfertigkeit, verbunden mit Architektur, Gemälden an den Wänden, all die Emotionen, die über hunderte von Jahren in diesem Raum Eingang gefunden haben. Das gibt unseren Konzerten vielleicht noch eine zusätzliche Dimension.
Das Hilliard-Ensemble singt biblische, liturgische Texte. Ist Officium ein musikalisches Gebet?
Garbarek: Die Musik sollte in sich eine Spiritualität haben – was übrigens jede Musik haben sollte. Jede Form von Musik sollte das als Background haben.
Können Sie erklären, was genau Sie mit Spiritualität meinen?
Garbarek: Das ist schwer zu definieren. Ich denke da zum Beispiel an den Moment, als ich das erste Mal John Coltrane hörte – und das war nicht „A Love Supreme“, keines der religiösen Stücke, sondern etwas sehr abstraktes. Ich hatte keine Ahnung, was er da musikalisch machte, ich spielte damals noch kein Instrument. Und doch, trotz der unglaublichen Komplexität des Stückes hat es mich emotional sehr berührt, in mir etwas ausgelöst. Das nenne ich Spiritualität. Das kam von der Person durch das Instrument, auf die Platte, von Amerika ins norwegische Radio durch den Lautsprecher in mein Wohnzimmer – und es war immer noch Spiritualität in dieser Musik.
Mir persönlich bedeutet Spiritualität mehr als Religion. Religion bedeutet ja große Organisationen, Krieg... - viele komische Dinge eigentlich.
Teile von „Officium Novum“ basieren auf Stücken der orthodoxen Liturgie. Haben Sie schon Konzerte in orthodoxen Kirchen gegeben?
Garbarek: Nein, noch nie. Ich wüsste auch gar nicht, ob man uns das erlauben würde. Es gibt ja auch in Westeuropa viele Kirchen, die uns nicht erlauben, dort unsere Musik aufzuführen. Deutschland ist da sehr offen, aber in Spanien, Frankreich, Polen oder Italien ist das eine ganze andere Sache. Es ist nicht gesagt, dass wir überall spielen können. Das muss verhandelt werden, manchmal müssen wir auch das ganze Textmaterial hinschicken.
Welches Verhältnis haben Sie denn zur Religion?
Garbarek: Also, ich glaube nicht an einen alten Mann mit Bart, da oben, das ist nicht mein Denken. Es gibt eine Kraft, ja, aber was das alles bedeutet, die Frage, was dahinter steckt, – die weiß niemand zu beantworten. Und ich hoffe, dass wir die Antwort auch nicht finden werden. Mir persönlich bedeutet Spiritualität mehr als Religion. Religion bedeutet ja große Organisationen, Krieg… viele komische Dinge eigentlich.
Aber dies hat Sie offenbar nie davon abgebracht, mit Ihrer Musik in Kirchen zu gehen.
Garbarek: Nein, denn egal wie schlecht die Dinge sind, die dort geschehen, sie kommen ursprünglich von dem guten Willen, Gutes zu tun. Die Emotionen sind zunächst gut. Nur die Effekte können verheerend sein. Die Leute wollen das Richtige tun, sie wollen so viel wie möglich erfüllt sein vom Göttlichen, gemäß ihrer Interpretation. Aber leider kann es verheerende Folgen haben – wenn andere Leute, die auch das Gleiche wollen, andere Schlüsse daraus ziehen. Dann hast du Kriege.
Wenn man in das Booklett der neuen CD „Officium Novum“ schaut, sucht man die vom Hilliard-Ensemble gesungenen Texte vergeblich. Die Texte sind also gar nicht wichtig?
Garbarek: Für mich nicht.
Und für den Hörer?
Garbarek: Auch nicht, würde ich sagen, nein. Es war sicherlich wichtig für den Komponisten, der diese Werke geschrieben hat, aber für mich ist es das nicht.
Das ist vermutlich eine Schwäche von mir, es gibt nur wenige Sänger, wo ich auf die Texte achte, Billie Holiday oder Louis Armstrong beispielsweise. Bei anderen kümmern mich die Worte nicht und ich höre eher auf den vokalen Ausdruck – aber das macht die Musik ja nicht weniger bedeutend, die Stimme ist dann wie ein Instrument. Natürlich, wenn das Wort stets wichtiger als alles andere wäre, dann müsste ich Sänger werden. Aber ich bin Saxofonist.
Wenn die Worte bei Officium nicht wichtig sind, was ist dann wichtig für Sie?
Garbarek: Der Wohlklang, das ist das Wichtigste. Der Klang der Hilliards und die Art wie ich darauf reagiere, ob ich mich damit mische oder ob ich einen Gegenpart bilde. Auch der Raum ist wichtig, der ist für uns manchmal wie das sechste Ensemble-Mitglied. Es gibt aber auch Räume, wo sich der Klang kaum mischt, wo alle fünf Stimmen separat erklingen. Das ist dann harte Arbeit für uns, da versuchen wir mit allen Kräften, die Illusion eines kohärenten Klangs zu erschaffen.
Machen Sie sich Gedanken darüber, was die Musik von Officium für den Hörer bedeutet?
Garbarek: Nein, überhaupt nicht. Als wir das erste Album aufnahmen hatten wir eine tolle Zeit, wir waren alle sehr zufrieden mit dem Ergebnis – aber ich dachte, es würde nur wenige Leute interessieren. Hundert, ein paar Tausend vielleicht, aber mehr nicht. Ich glaube, inzwischen hat sich Officium etwa eine Million mal verkauft – das ist ein schon ein Mysterium. Nicht, das Officium nicht gut wäre, dennoch ist es mir ein Rätsel, warum dieses Projekt so viele Menschen angesprochen hat.
Vielleicht, weil sich die Leute dabei gut entspannen können.
Garbarek: Wenn es für die Leute so funktioniert, wunderbar. Wir Musiker sind in den Konzerten sicherlich nicht entspannt. Und ich persönlich würde Officium auch nicht zum Entspannen auflegen, weil ich so viele Assoziationen damit verbinde.
Was ist Ihre Entspannungsmusik?
Garbarek: Da gibt es viel. Ich könnte eine alte Platte von Bill Evans aus den frühen 60ern nehmen, mit seinem Trio. Das beim Autofahren durch die norwegische Landschaft zu hören – das kann sehr entspannend sein.