Frau Moskalenko, Ende September 2010 nahm bei einer Diskussionsrunde zum Fall Chodorkowski in Berlin neben Ihnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auf dem Podium platz. Welche Rolle spielt der Auftritt einer deutschen Ministerin wenn es um den Chodorkowski-Prozess geht?
Moskalenko: Wenn sich die Aufmerksamkeit vergrößert für das, was im Fall Chodorkowski geschieht, dann ist das sehr nützlich, insofern ist die Teilnahme der Justizministerin sehr wichtig. Ich denke sowieso, dass die deutsche Regierung, auch Teile der deutschen Bevölkerung eine Vorstellung von dem Fall haben, ähnlich erlebe ich es nur in den USA und Großbritannien.
Es ist sehr wichtig, wenn der Angeklagte schon keine Hoffnung auf ein faires Gerichtsverfahren hat, dass zumindest die Hoffnung besteht, dass immer mehr Menschen davon erfahren.
Aber haben die von Ihnen erwähnten Länder und deren Regierungen in dieser Sache überhaupt Einfluss?
Moskalenko: Auf das Rechtswesen kaum. Leider. Selbst die bedeutendsten Entscheidungen des Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), welche verbindlich für Russland und die russische Justiz sind, haben keinen besonderen Einfluss.
Warum nicht?
Moskalenko: Nun, die Entwicklung vom Unrechtsstaat zum Rechtsstaat, die wollen wir natürlich sofort, aber das braucht viel Zeit. Das heißt, man braucht viel Geduld – ich persönlich habe allerdings keine Geduld.
Sie konnten als Anwältin für Menschenrechte bereits Erfolge in Straßburg erzielen…
Moskalenko: Meine Betrachtung Russlands teilt sich heute in die Zeit vor und nach Kalaschnikow (die Klage des russischen Gefangenen Valery Kalaschnikows im Jahr 2002 war die erste, welche vor dem EGMR Erfolg hatte, Russland wurde vom EGMR zur Zahlung einer Entschädigung an Kalaschnikow für widrige Haftbedingungen verurteilt, Anm. d. Red.) Da hat man Russland deutlich gemacht, dass der Umgang mit Gefängnisinsassen im Land barbarisch ist, Folter per Gesetz könnte man sagen.
Ich kann zwar nicht abstreiten, dass Russland inzwischen auch viel dafür getan hat, die Situation in den Gefängnissen zu verändern. Aber wenn Sie mich fragen, ob sich die Zahl der Klagen von Gefangenen beim Europäischen Gerichtshof verringert hat, muss ich Ihnen sagen, dass das Gegenteil der Fall ist.
Russland steht bei den anhängigen Verfahren auf dem ersten Platz in Straßburg, 2007 waren es rund 20.000 Verfahren.
Moskalenko: Ganz richtig. Man kann auch nicht behaupten, dass die Entscheidung im Fall Kalaschnikow allgemeingültigen Charakter bekommen hätte. Individuelle Maßnahmen gibt es, es gibt Entschädigungszahlungen, einzelne Prozesse werden wieder aufgerollt – nur gibt es keine generellen Veränderungen. Dabei halte ich es für wichtig, dass in Straßburg Präzedenzfälle geschaffen werden. Wir hatten gehofft, dass wir einen Prozess wie den im Fall Kalaschnikows für sehr viele Betroffene gewinnen. Zwar wurde einerseits erreicht, dass Gefangene sich jetzt zumindest auf den Fall berufen können, andererseits hätte ich mir gewünscht, dass die darauf folgenden Maßnahmen viel effektiver sind. Der Fall Kalaschnikow ist acht Jahre her, doch nach wie vor kann man nicht sagen, dass die Haftbedingungen in den russischen Gefängnissen mit europäischen Standards vergleichbar wären. Leider nicht.
Was können Sie sagen, was die Klagen von Michail Chodorkowski in Straßburg anbelangt?
Moskalenko: Im Fall Chodorkowski wurde schon verhandelt, ob seine Klage vor dem EGMR zulässig ist und in allen wichtigen Punkten – Artikel 3 betrifft die Haftbedingungen, Artikel 5 die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzugs, sowie Artikel 18 – wurde sie bereits für zulässig erklärt. Im Moment wird seine zweite Klage vom EGMR geprüft, die sich auf Artikel 6, auf das Recht auf ein faires Verfahren und die damit verbundenen Garantien bezieht.
Wichtig erscheint mir dabei Artikel 18, in dem festgelegt ist, dass die Rechte und Freiheiten nur im Sinne der Konvention eingeschränkt werden dürfen und nicht entgegengesetzt zu den Zielen der Konvention. Hier hat es mit Wladimir Gussinski ja schon einen Fall gegeben, wo der EGMR geurteilt hat: der Freiheitsentzug Gussinskis im Jahr 2000 war nicht im Sinne der Konvention, sondern damit wurden andere Ziele verfolgt (der Medienmanager Gussinski leitete u.a. den einzigen unabhängigen russischen Nachrichtensender NTW, bis zu dessen Übernahme durch Gazprom 2001, Anm. d. Red.). Und jetzt bei der ersten und zweiten Klage Chodorkowskis vor dem EGMR zeigen wir, dass die politische Motivation seiner Verfolgung nicht mit den Zielen der Konvention vereinbar ist.
Gesetzt den Fall, der EGMR wird im Fall Chodorkowski ein Urteil gegen Russland fällen – wie wird man in Moskau darauf reagieren?
Moskalenko: Voraussagen kann ich das nicht.
Ich habe zehn Fälle vor den EGMR gebracht, wo es um teils sehr grobe Verstöße gegen die Menschenrecht geht, in Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan, da ist Russland gegenüber dem EGMR sehr hartnäckig. Wenn sie einen Prozess verlieren wird zwar eine Kompensation gezahlt. Aber mehr nicht, sie werden nicht effektiv nach Schuldigen suchen. Da gibt es eine klare ablehnende Haltung – und das befürchte ich auch im Fall Chodorkowski.
Allerdings sehe ich auch: Wenn der EGMR bestätigen sollte, dass im Fall Chodorkowski Artikel 6 der Konvention verletzt wurde, dann hat Russland eigentlich nur eine Möglichkeit, der Entscheidung nachzukommen. Gemäß Artikel 413 der russischen Prozessordnung müssten alle Entscheidungen widerrufen und der Fall neu aufgerollt werden.
Aber würde dann ein anderes Urteil gefällt?
Moskalenko: Sicher ist es möglich, dass sie im Fall eines neuen Prozesses am Ende genau das gleiche Urteil fällen. Die Mitarbeiter des Gerichts würden dann nochmal genau die gleichen Dinge auftischen während der ganze Saal lacht und buht, das wäre absurd aber durchaus möglich.
Ich denke, es ist dann vor allem wichtig, dass die Öffentlichkeit eine richtige Vorstellung von der Sache bekommt. Wenn der EGMR Russland verurteilt, dann sollen die Bürger das erfahren. Und ich halte es übrigens auch für undenkbar, dass bei einem entsprechenden Urteil des EGMR, der Fall nicht neu aufgerollt wird.
Unabhängig davon ist eine weit verbreitete Befürchtung, dass Chodorkowski kaum freikommen dürfte, sollte Putin erneut Präsident werden. Wie schätzen Sie das ein?
Moskalenko: Ich denke, die Regierung wird alle Maßnahmen ergreifen, um ihn gefangen zu halten, solange es geht. Diese Regierung. Aber nichts ist ewig. Russland ist ein Land mit Überraschungen. Unser Volk kann lange aushalten, das wissen alle sehr gut. Genauso gut weiß man aber auch, dass es mit der Geduld irgendwann zu Ende geht. Chodorkowski ist ein Testfall. In diesem Verfahren gibt es viele Mängel, die auch andere Fälle betreffen. Aber hier kommen sie alle zusammen, hier sind sie offensichtlich, für alle sichtbar.
Auch deswegen widme ich mich dem Fall, weil unsere vergangenen Siege in Fällen wie Belewitskij, Akulenin, Babitsch oder Trubnikow – das waren alles wichtige Entscheidungen und Präzedenzfälle, aber von denen haben in Russland nur wenige Menschen erfahren. Wenn der Fall Chodorkowski vor dem EGMR gewonnen wird dann gibt es eine neue Perspektive, einen neuen Zugang.
Sie sagten, die Regierung, werde alles tun, um Chodorkowski gefangen zu halten…
Moskalenko: Ja, Putin hat ihm kürzlich sogar unterstellt, er habe Blut an den Händen, was eine sehr unehrliche Behauptung ist. Wir haben Putin daraufhin aufgefordert, dazu eine Aussage in diesem Prozess zu machen. Aber das Gericht hat es nicht für notwendig befunden, diesen wichtigen Zeugen zu hören. Ein Manager von der Größe Chodorkowskis konnte ja viele Dinge gar nicht entscheiden, ohne Mitwirkung von Vertretern der Regierung auf der Ebene Putins.
Das Ziel der Regierung war, die Geschäfte von Chodorkowski zu stoppen, so hat es beispielsweise der frühere Ministerpräsident Michail Kassjanow gesagt. Doch das Gericht hat Putin in diesem Prozess die stumme Abwesenheit zugestanden.
Die Entwicklung vom Unrechtsstaat zum Rechtsstaat braucht viel Zeit.
Doch es haben auch Regierungsvertreter ausgesagt.
Moskalenko: Ja, es kamen German Gref (von 2000-2007 russischer Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel, heute Vorstandsvorsitzender der Sberbank) und Wiktor Christenko (derzeit Minister für Industrie und Handel). Und spätestens nach ihren Aussagen hätte der Fall Chodorkowski geschlossen werden müssen (Christenko sagte u.a. aus, es sei unmöglich, dass Chodorkowski zwischen 1998 und 2003 Hunderte Millionen Tonnen Öl unterschlagen habe, was ihm im zweiten Prozess vorgeworfen wird, Anm. d. Red).
Es gibt ohnehin den Widerspruch, dass Chodorkowski im zweiten Prozess beschuldigt wurde, er habe eine riesige Fördermenge Öl gestohlen, während im ersten Prozess der Vorwurf lautete, er habe auf eben diese Fördermenge zu wenig Steuern gezahlt. Worauf hätte er nach deren Ansicht denn Steuern zahlen sollen? Auf das Diebesgut? Hören die sich überhaupt selber zu? Die Anschuldigungen sind Nonsens, trotzdem wurde das Verfahren nicht eingestellt.
Steckt für Sie denn Putin hinter dem Verfahren?
Moskalenko: Als der Präsident… nein, als der frühere Präsident – sehen Sie, wir versprechen uns laufend (lacht) – gefragt wurde, was er zu dem zweiten Prozess gegen Chodorkowski sagen würde, da antwortete er ganz ahnungslos „Ach, es gibt noch einen zweiten Prozess? Ich weiß nur, dass er seine Strafe verbüßt. Ich bin es nicht, der die Maus in die Ecke treibt.“ usw.
Aber wer sonst?
Moskalenko: Gute Frage. Bei dieser Äußerung Putins haben damals viele Leute die Ohren gespitzt, es folgten viele Spekulationen, auch optimistische hinsichtlich einer möglichen Freilassung. Doch damit der Optimismus nicht lange anhielt, ließ er andere Äußerungen folgen, eben auch die Unterstellung, Chodorkowski habe Blut an den Händen.
Dazu muss ich sagen, dass Putin in den 70er Jahren genau wie ich auch an der St.Petersburger Universität Jura studiert hat, wo man uns beigebracht hat, was Recht bedeutet. Insofern frage ich mich: Wie kann er so eine Anschuldigung gegenüber Chodorkowski äußern, ohne irgendwelche Beweise zu haben? Auch unter ethischen Gesichtspunkten?
Ich habe nach diesen Äußerungen keinen Zweifel mehr daran, dass das, was die Regierung oder ihr einflussreichster Vertreter will, so auch im Fall Chodorkowski geschehen wird. Den Fall, dass die Regierung sagt, er hat Blut an den Händen und trotzdem spricht ihn der Richter frei – daran glaube ich nicht.
Sie bezeichnen die Anschuldigungen als Nonsens. Doch wie denken Kollegen von Ihnen darüber, warum setzen sich nur wenige für die Menschenrechte ein?
Moskalenko: Erstens ist diese Aufgabe nicht ungefährlich. Zweitens müssen die Leute, wenn sie in Opposition zur Regierung zu arbeiten, für sich einige Entscheidungen treffen: Sie müssen immer haargenau das Gesetz befolgen. Es darf keinen schwarzen Fleck in der Biografie geben, Sie dürfen der Regierung keinerlei Möglichkeit bieten, Sie bei Ihrer Arbeit zu behindern. Und drittens muss man seine Familie und Freunde darüber informieren, dass man nicht ungefährlich lebt.
Bei unserem „International Protection Center“ gab es schon Versuche, Mitarbeitern die Arbeitserlaubnis als Anwalt zu entziehen. Sie haben versucht, uns zu schließen mit der Begründung, wir würden nicht alle Steuern zahlen. Mitarbeiter von uns wurden einbestellt, es gab persönliche Attacken. Russland hat den EGMR aufgefordert, mich aus einem Verfahren zu entfernen, was der EGMR aber als Behinderung dieses Verfahrens gewertet hat.
Solche Attacken führen dazu, dass unser Center kleiner wird, auf der anderen Seite haben wir natürlich auch unsere Auswahlkriterien. Im Moment beschäftigt unser Center zehn Personen. Es gibt Hunderte, Tausende Anfragen aus ganz Russland, von denen wir dann vor allem die Fälle auswählen, die sich gut als Präzedenzfälle eignen.
Aber wie stehen die vielen anderen russischen Juristen zu der Situation des Rechtssystems in Russland? Zu den unfairen Prozessen, zur fehlenden Unabhängigkeit der Gerichte?
Moskalenko: Nicht alle halten es für notwendig, dagegen anzugehen.
Ich kann Ihnen nur von der anderen Seite erzählen: Anna Stawitskaja, eine Anwältin und Schülerin von mir, mutig, bildhübsch – bei ihr habe ich mich zuerst gefragt, warum sie nicht als Model für Zeitschriften arbeitet. Stattdessen wühlt sie in Akten voller Dreck, Blut und Folter. Sie sagte zu mir einmal: „Ich wollte immer Anwalt werden. Doch bei aller Liebe zu diesem Beruf, ich würde ihn wechseln, wenn da nicht ein bisschen Hoffnung wäre, ein Hauch frischer Luft.“
Das eine ist, ohne Hoffnung zu arbeiten: Wenn Sie mit den Fällen, die uns vorliegen, zu den russischen Gerichten gehen – da können wir nicht helfen. Auf der anderen Seite existiert mit Straßburg ein Mechanismus, der zwar nicht sofortig wirkt, der auch nicht alle gewünschten Resultate bringt, aber der uns ein kleines bisschen Hoffnung lässt.
Wer außer dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte könnte Russland beeinflussen?
Moskalenko: Natürlich nimmt unsere Regierung Stimmen aus dem Ausland wahr, aber sie reagiert nicht immer, auch nicht auf die vernünftigsten Anmerkungen, die aus dem Westen kommen.
Die europäischen Parlamentarier ihrerseits bemühen sich, Russland nicht zu isolieren, versuchen den Dialog zu führen. Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat das in unserer Diskussionsrunde sehr gut formuliert: „Man muss den russischen Partnern wie Partnern begegnen“. Und in so einer Partnerschaft muss man auch seine Meinung äußern.
Aber wie effektiv ist das?
Moskalenko: Die partnerschaftliche Beziehung ist sicherlich angebracht bei einem so großen Land, einer so großen Bevölkerung.
Wenn Russland aus dem Europarat eines Tages austreten sollte, was ich für sehr unwahrscheinlich halte, dann würde Russland einen wichtigen Mechanismus verlieren, die Rechte zu schützen. Es heißt ja nicht, dass man mit jedem Fall zum europäischen Gerichtshof gehen soll, aber allein die Existenz, die Möglichkeit, es zu tun, die zügelt die Regierung.
Ich freue mich ja nicht über die hohe Zahl der russischen Klagen vor dem EGMR, sondern ich freue mich über die hohe Zahl der Fälle, die nicht bis Straßburg gekommen sind, weil die Regierung zuvor auf nationaler Ebene die verletzten Gesetze wiederherstellen wollte. Das zählt viel mehr.
Deswegen ist mir der Fall Chodorkowski so wichtig, in diesem Fall könnte die Regierung ein Signal setzen bezüglich der Unrechtmäßigkeit der Handlungen. Warum das nicht geschieht, darüber kann ich keine Aussage treffen, das ist nicht meine Aufgabe. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dass wir uns Schritt für Schritt in Richtung des europäischen Rechtswesens bewegen. Diese Aufgabe ist nicht sehr komfortabel und auch nicht vollkommen ungefährlich. Die Anzahl meiner gewonnen Prozesse in Russland liegt bei Null, die Zahl der Erfolge vor dem EGMR unterscheidet sich davon erheblich.
Haben Sie Wladimir Putin eigentlich auch persönlich kennen gelernt?
Moskalenko: Auf der Uni? Nein. Wir haben zwar im gleichen Gebäude gelernt, aber ich habe ihn damals nicht persönlich gekannt. Ich habe mich aber sofort an sein Gesicht erinnert, als er 1998 das erste Mal im Fernsehen aufgetaucht ist.
Was glauben Sie, ist ihm wichtig? Will er Gutes für sein Land oder nur für seinen Kreis?
Moskalenko: Ich weiß überhaupt nicht, was er will, ich werde da auch keine Vermutungen anstellen. Ich sehe in jedem Fall, dass die heutige Regierung den Anspruch erhebt, überall das Sagen zu haben. Unter gewissen Umständen könnte dahinter auch ein guter Wille stecken, allerdings nicht, wenn sie die Menschenrechte fast vollständig ignorieren.
Ich denke schon, dass Herr Putin auch die Stärkung seines Landes im Sinn hat. Die Regierung hat immer ihre Ziele und die Bürger andere, nur sollte die Balance der Interessen so sein, wie es der Europarat, wie es die Menschenrechtskonvention vorsieht.
Das stalinistische System, als die Menschen nur kleine Rädchen im Getriebe waren, ist für mich absolut nicht hinnehmbar, egal welche Motivationen seitens einer Regierung dahinterstecken. Weil die Tränen der Gefolterten werden für mich immer wichtiger sein als irgendwelche abstrakte Interessen der großen Machthaber.
Ich will, dass die Menschen in Russland sich nicht so hilflos fühlen gegenüber dem Staat, nicht so ungeschützt sind vor diesen Machthabern. Versetzen Sie sich einmal in einen Russen, der aus Willkür von der Polizei auf der Straße angehalten wird, ohne Grund geschlagen wird, gesundheitliche Schäden erleitet… Wir haben viele solcher Fälle schon gehabt, aber da übernimmt dann einfach niemand Verantwortung für.
Aber Sie sind auch nicht ohne Hoffnung, dass sich die Lage verbessert.
Moskalenko: Ich bin kein Politologe, ich kann den gesellschaftlichen Prozess nicht bewerten. Aber ich bemerke schon, dass sich in der Gesellschaft etwas tut. Nehmen wir zum Beispiel die Polizisten, die in die Öffentlichkeit getreten sind und ehrlich über Missstände berichtet haben (Ende 2009 sprach der Polizist Alexej Dymowski in Videobotschaften, die bei Youtube zu sehen sind, über Korruption und die Arbeitsbedingungen bei der russischen Polizei, Anm. d. Red).
Ich denke mein Volk bekommt mehr und mehr ein Bild von den tatsächlichen Zuständen in diesem Land. Wobei sie durch viele Medien noch immer in die Irre geführt werden. Es gibt drei, vier unabhängige Medien, aber das ist es auch schon. Eine freie Presse haben wir noch nicht, Zensur und Kontrolle der Massenmedien verhindern ein reales Bild und eine Meinungsvielfalt. Und die ist auch Michail Chodorkowski wichtig. Er hat ja nicht nur die Jabloko-Partei finanziell unterstützt sondern auch die Kommunisten, er hat keine klaren politischen Präferenzen. Ihm war nur wichtig, dass es eine Opposition gibt, dass viele verschiedene Meinungen existieren können. Wenn es aber stattdessen ein Monopol gibt, so sagte er, dann nimmt die Regierung dem Land und seiner Gesellschaft die Chance auf eine normale Entwicklung.
Ist sein Schicksal also auch mit dem Schicksal der Demokratie in Russland verbunden?
Moskalenko: Das hängt sicher miteinander zusammen. Der Fall ist ein Test, in vielerlei Hinsicht, er ist eine Prüfung für unsere Regierung, für die Funktion unseres Rechtswesens.
Chodorkowski ist ein sehr intelligenter Mensch, er kann eine beliebige schwere Frage einfach erklären, das sehe ich als großen Intellekt. Einmal erklärte er mir im Gefängnis eine Wirtschaftsfrage und ich merkte, wie währenddessen einer der Wärter anfing, interessiert zuzuhören. Da meinte ich zu ihm: „Wir beide können uns glücklich schätzen, was wir hier gerade für eine Lehrstunde erhalten.“ Ich denke, eine funktionierende Regierung sollte sich doch die Intelligenz solcher Leute zu nutze machen. Chodorkowski jedenfalls liebt sein Land und wird dem Wohle seines Landes dienen – und sei es aus dem Gefängnis heraus.