Helmuth Rilling

Das Bild des Dirigenten hat sich erheblich verändert

Helmuth Rilling über die Zukunft geistlicher Musik, den Glauben, Applaus in der Kirche, Bach und nervige Hintergrundmusik

Helmuth Rilling

© Holger Schneider

Herr Rilling, Albert Einstein sagte einmal über Johann Sebastian Bach: „Was ich zu Bachs Lebenswerk zu sagen habe: Hören, spielen, lieben, verehren und – das Maul halten.“
Helmuth Rilling: Diese Wortwahl von Einstein, den ich sonst sehr verehre, würde ich für Bach nicht sehr passend halten. Und „das Maul halten“ ist nun gerade das, was ich bei Bach nicht getan habe.

Die „Zeit“ bezeichnete Sie einmal als „Schwäbischen Evangelisten“. Soli Deo Gloria – „Gott allein zur Ehre“ schrieb Bach über jedes seiner Werke. Wäre das ein passender Ausdruck für Ihr eigenes Lebenswerk?
Rilling: Meine Aufgabe ist nicht eine Verkündigung des Evangeliums und der Theologie des Christentums. Auch wenn mir manchmal gesagt wird, was ich für den christlichen Glauben auf der Welt tue, sei sehr wichtig. Die Gesprächskonzerte, die meine Erfindung sind, sind ein Versuch, die Menschen zu einem tieferen Verständnis der Musik zu führen, die wir gerade aufführen.

Sehen Sie sich als Missionar?
Rilling: Ich bin ein Musiker. In den Gesprächskonzerten erkläre ich die Musik. Meine Aufgabe ist es, zu zeigen, wie große Komponisten geschrieben haben und was sie uns damit sagen wollten. Aber wofür sollte ich missionieren?

Kann man den Glauben über Musik besser transportieren als mit Worten, beispielsweise im Ausland?
Rilling: Natürlich nicht besser, aber auf andere Weise. Musik spricht immer für sich selbst.
Bach hat in seinen Kantaten nichts anderes getan, als ein Pfarrer von einer Kanzel mit seiner Predigt. Drei Viertel seines Werks hat er zu geistlichen Texten verfasst. Das darf man nicht übersehen, und deshalb muss man sich mit diesem Bereich befassen, um Bach verstehen zu können. Man darf an seine Musik nicht ohne christliche Überlegungen heran gehen, man würde Wesentliches vermissen.

Wird eine Aufführung eines geistlichen Werkes besser, wenn bei den Ausführenden oder Zuschauern ein enger Bezug zum Glauben besteht?
Rilling: Ich bin so oft in fremden Ländern unterwegs, in denen der christliche Glaube nicht so verbreitet ist wie bei uns. Den Musikern sage ich dann: Sie müssen nicht an die Inhalte der christlichen Religion glauben, aber sie müssen sich damit befassen und versuchen, sie zu verstehen. Ohne das erreicht man beispielsweise Bach zu wenig in seiner Tiefe.

Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie geistliche Musik in einer Kirche oder im Konzertsaal aufführen?
Rilling: Natürlich. Das Ideal ist, geistliche Musik in einer Kirche aufzuführen, wofür sie entstanden ist. Aber diese Wahl hat man nicht. Nicht in Deutschland, nicht in Europa und schon gar nicht im anderen Ausland, wo es diese Kirchen gar nicht gibt. Da muss die Musik selbst den Raum zur Kirche machen.

Stört es Sie, wenn nach einer Aufführung in der Kirche geklatscht wird?
Rilling: Das ist eine sehr deutsche Mentalität zu sagen, „das war ein so wichtiges Stück, jetzt wird nicht geklatscht.“ Ich habe dazu keine feste Meinung. Ich finde, man kann auch nach einer Matthäus-Passion klatschen, der Beifall gilt ja auch dem Werk und nicht nur den Interpreten. Ich habe in Südamerika so oft erlebt, dass der Beifall schon losging, bevor der Schlussakkord endete. Das zeigt, wie lebendig, spontan und emotional die Zuhörer sind.

Wenn Sie Bach eine Frage stellen könnten, welche wäre das?
Rilling: Ich würde ihn bitten, uns die Passionsvertonungen zum Lukas- und Markusevangelium verfügbar zu machen. Man weiß, dass er eine Markus-Passion geschrieben hat, die leider verloren gegangen ist. Aber hat er eine Lukas-Passion geschrieben? Das wären meine spannenden Fragen.

Wären Bachs Passionen das Letzte, was Sie in Ihrem Leben hören wollen würden?
Rilling: Ich würde durchaus etwas Neues hören wollen, aber nicht von Bach, sondern von einem heute lebenden Komponisten, Musik, die in eine Zukunft weist.

Gibt es heute noch bedeutende zeitgenössische Kirchenmusik?
Rilling: Natürlich. Ich habe mich immer bemüht, der zeitgenössischen Musik eine Plattform zu verschaffen, die Bachakademie Stuttgart hat viele Kompositionsaufträge an bedeutsame Komponisten unserer Zeit vergeben. Erst vor kurzem haben wir ein neues Werk von Wolfgang Rihm aufgeführt, der bereits 2000 eine Lukas-Passion komponiert hat. Mir war es immer wichtig, die schöpferischen Kräfte unserer Zeit für eine Auseinandersetzung mit geistlichen Texten zu gewinnen. Das ist mir in vielen Fällen auch gelungen.

Trotzdem scheint die Institution Kirche als Auftraggeber keinerlei Rolle mehr zu spielen…
Rilling: Dafür habe ich die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten immer kritisiert. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist zu wenig wirklich bedeutsame geistliche Musik entstanden.

Glauben Sie denn, dass Kirche und Religion heute noch genügend Einfluss und Strahlkraft besitzen, um die nächsten Komponistengenerationen zu geistlichen Werken zu bewegen?
Rilling: Das glaube ich unbedingt, es müssten eben Anfragen an sie herangetragen werden.

Warum haben Sie eigentlich nie selbst komponiert?
Rilling: Als Komponist muss man eine Berufung fühlen, etwas sagen zu wollen. Die hatte ich nicht.

Zitiert

Mir war es immer wichtig, die schöpferischen Kräfte unserer Zeit für eine Auseinandersetzung mit geistlichen Texten zu gewinnen.

Helmuth Rilling

Nikolaus Harnoncourt sagte in einem Interview: „Für viele ist die Musik nur noch eine Kunst des Gefühls, daher wird beim Interpretieren so viel falsch gemacht.“ Stimmen Sie dem zu?
Rilling: Ein Interpret muss die Stücke analysieren um zu verstehen, was der Komponist wollte. Tempo, Dynamik und Artikulation sind eine Frage des ganz genauen und bewussten Nachdenkens, einer genauen Analyse und dem Versuch zu verstehen, was der Komponist wollte. Interpretation ist keine Gefühlsangelegenheit.

Oft hört man bei verschiedenen Aufnahmen große Unterschiede in Bezug auf das Tempo. Wie finden Sie das richtige Tempo?
Rilling: Es gibt in der Musikgeschichte Tempobezeichnungen, die relativ klar scheinen. Aber ein Allegro oder Vivace bei Mozart ist ein ganz anderes als bei Bach. Und es ist wieder anders, wenn wir in die Sinfonien Gustav Mahlers blicken. Man muss also fragen: ist das ein Allegro, das sich von einem vorausgehenden, langsamen Tempo abheben will, oder beschreibt das Allegro den Charakter des Satzes? Da gibt es immer persönliche Entscheidungen, die von Interpret zu Interpret verschieden ausfallen. Es kann auch durchaus sein, dass ich heute ein Allegro langsamer mache, als ich es noch vor zwanzig Jahren gemacht habe, weil meine Bewusstseinsfindung der Musik selbst sich verändert hat.

Sie studieren Werke, die Sie schon hunderte Male aufgeführt haben, wie z.B. Bachs h-moll Messe, immer wieder von neuem. Haben Sie je das Gefühl, mit einem Stück „fertig“ zu sein?
Rilling: Eine Aufführung der h-moll Messe wird heute anders sein, als sie gestern war. Nicht grundsätzlich, sondern in Details. Und wenn Details summiert erklingen, ergeben sich dann doch Veränderungen in Tempi, Dynamik, Satzabständen, Längen von Pausen. Das sind im Endergebnis immer wieder neue Gedanken, die zu einem Stück dazukommen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass man immer im Gespräch mit der Partitur und über die Partitur mit dem Komponisten bleibt. Und immer von neuem versucht, seinen kreativen, schöpferischen Gedanken nachzuvollziehen.

Träumen Sie manchmal von Musik?
Rilling: Immer mal wieder. Aber ich träume weiß Gott nicht jede Nacht von Bach.

Die Musik Johann Sebastian Bachs wurde verjazzt und verpoppt. Was halten Sie von den Interpretationen eines Jacques Loussier?
Rilling: Jaques Loussier hat eine wunderbare Art, sich mit Bach auseinander zu setzen. Aber es ist nicht die meine. Ich kann sie mir mit Vergnügen anhören, aber ich würde sie selbst nicht vertreten.
(Pause) Müssen wir eigentlich nur über Bach sprechen?

Nun, angeblich enthält ja sogar Ihr Autokennzeichen die Initialen von Bach…
Rilling: Das stimmt, nach der Ortskennung steht bei mir „JS–1685“. Aber ich habe auch so viele andere Komponisten aufgeführt.

Dann sprechen wir doch über Mendelssohn-Bartholdy.
Rilling: Mendelssohn ist einer der ganz Großen. Auf so vielen verschiedenen Gebieten. Natürlich will niemand die großen Oratorien Elias und Paulus missen, aber vor kurzem habe ich die „Walpurgisnacht“ nach Texten von Goethe aufgeführt. Ein hinreißendes Stück.

Wird Mendelssohns Musik unterschätzt?
Rilling: Er war in der Nazizeit ein verbotener Komponist. Das hat ihn für eine Generation von Musikern und Zuhörern nicht existent sein lassen. Seine Musik wurde nie mehr gespielt und gehört. Wenn das zwanzig Jahre geschieht, prägt es die Menschen. Ich habe es sehr kritisch gesehen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg es so lange Zeit gedauert hat, bis er wieder ganz nach vorne kam. Ich konnte nicht verstehen, dass Musiker, Musikwissenschaftler und Veranstalter nicht sofort gesagt haben, wir müssen wieder mehr Mendelssohn hören.

Sie feiern im Mai Ihren 80. Geburtstag. Gibt es ein bestes Alter für einen Dirigenten?
Rilling: Nein. Es gibt wunderbare Aufführungen von jungen, unerfahrenen Dirigenten, die mit großem Enthusiasmus an eine Partitur herangehen. Und ebenso gute Aufführungen von älteren Dirigenten, die ihre große Erfahrung in die Interpretation einfließen lassen.

Welche nicht-musikalischen Geräusche mögen Sie?
Rilling: Geräusche, die aus der Natur kommen. Wenn ich auf der Terrasse sitze und die Vögel und den Wind höre, finde ich das wunderbar. Was ich überhaupt nicht schätze, ist die musikalische Berieselung in Supermärkten und Flughäfen. Vor allem beim Studium der Partitur. Ich habe gerne beim Warten an Flughäfen meine Noten vor mir und studiere, da stört mich Musik aus dem Lautsprecher sehr.

Sie studieren ausschließlich anhand der Partitur, hören Sie nie in Aufnahmen rein?
Rilling: So gut wie nie. Warum soll ich etwas hören, was ich lesen kann? Ich kann das in der Partitur lesen und mir vorstellen. Das ist für mich viel besser, als etwas zu hören.

Sie pflegen ein enges Verhältnis zu Ihren Musikern, sind mit vielen per „Du“.  Warum ist Ihnen das so wichtig?
Rilling: Jeder Dirigent muss es so machen, wie er es für richtig hält. Das Bild des Dirigenten hat sich in den letzten 30 Jahren erheblich verändert. Ich erinnere mich gut an Kollegen, die sehr autoritär vorgingen, wo es keine Möglichkeit gab, gegen eine Anweisung des Dirigenten irgendwie vorzugehen oder etwas nicht machen zu wollen. Heute sind die meisten Dirigenten so eingestellt, dass sie mit ihren Orchestern, ihren Chören zusammen arbeiten wollten, nur dann entsteht ein wirklich gutes Ergebnis. Demokratie kann es nicht geben, aber einen Konsens, was die beste Lösung für eine bestimmte Arbeitssituation ist.

Am 24. August 2013 werden Sie nach 32 Jahren die Leitung der Bachakademie offiziell an Ihren Nachfolger Hans-Christoph Rademann übergeben. Sind Sie wehmütig?
Rilling: Überhaupt nicht. Es ist eine ganz natürlich Sache, dass Wechsel in Ämtern stattfinden müssen. Ich bin dankbar, dass ich so lange Zeit die Gesundheit und die Kräfte hatte, diese Arbeit gut zu leisten und jetzt geht sie an einen jüngeren Kollegen über. Das freut mich, und ich hoffe, dass das Werk, das ich mit der Bachakademie schaffen konnte, in eine gute und erfolgreiche Zukunft geht.

Wird Ihnen langweilig werden?
Rilling: Bestimmt nicht! Ich dirigiere unendlich viel. Im Sommer beim Oregon Bach Festival, dass ich seit über 40 Jahren leite, dann bin ich in Korea, Hong Kong, in Mailand, Weimar, Kopenhagen. Ich bin gesund und kann arbeiten, dafür bin ich unendlich dankbar. Es gibt für mich noch so Vieles zu tun.

Helmuth Rilling (*1933 in Stuttgart) ist wie kein zweiter ein Botschafter Johann Sebastian Bachs in der Welt. Er hat zur Wiederentdeckung der romantischen Chormusik beigetragen und fördert durch Kompositionsaufträge die zeitgenössische Musik. Mit mehr

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