Herr Noethen, wären Sie heute gerne noch ein Kind?
Ulrich Noethen: Ich bin mir nicht sicher. In manchen Situationen wäre es vielleicht schön, um manche Dinge zu wiederholen – gar nicht mal, um gewisse Dinge anders zu machen. Manchmal würde ich mir wünschen, in einer gewissen Situation in der Kindheit oder Jugend schon einen anderen Reifegrad gehabt zu haben, um Sachen mitmachen zu können, oder um Sachen besser einordnen zu können. Aber das ist ja auch genau die Zeit, in der man diese Dinge lernt.
Heißt das aber, dass der viel beschworene Verlust an Kindheit und Unschuld der heutigen Jugend eigentlich zu begrüßen ist, weil im Reifeprozess die Fehlerquote niedriger wird?
Noethen: Es kommt eben darauf an, wie ich die Frage stelle. Möchte ich angesichts der jetzigen Umstände, so wie sich die Gesellschaft, die Welt entwickelt hat, möchte ich da nochmal Kind sein oder möchte ich für mich ganz persönlich nochmal diese Zeit zurückholen. Aber je mehr ich darüber nachdenke, komme ich in beiden Fällen zu der Antwort: Das möchte ich eigentlich nicht, nein.
Ihr neuer Film „Scherbenpark“ erzählt von der beeindruckend resoluten 17-jährigen Sascha, die in einem Stuttgarter Hochhausviertel aufwächst. In einer Szene sagt sie: „Ich glaube, ich bin noch gar nicht so erwachsen, wie ich dachte.“
Noethen: Ein sehr sympathischer Moment.
Warum ist Ihnen das sympathisch?
Noethen: Von mir kenne ich diese Erkenntnisse über mich selbst, die einen in so regelmäßigen Abständen über das ganze Leben begleiten. Wo man denkt: Ah, jetzt habe ich wieder ein bisschen mehr kapiert; ich habe mich selbst überrascht. Oder, ich habe mich überholt und muss jetzt feststellen: Ich bin gar nicht so, wie ich dachte. Das sind immer ganz schöne Momente, weil man das Gefühl hat, wieder einen Baustein in der Hand zu haben, ein Stöckchen, an dem man sich ein wenig weiterhangeln kann, eine gewisse Sicherheit.
Können Sie ein Beispiel für so eine Erkenntnis nennen?
Noethen: Nein.
Das wären wahrscheinlich jeweils sehr private Momente.
Noethen: Ja.
Können Sie das Gefühl nachvollziehen, dass die Gegenwart eine eher schwierige Zeit für das Heranwachsen ist? Sie sind ja selbst Vater und haben da sicher diverse Erfahrungen.
Noethen: Nein, ich finde nicht. Es hat wohl zu allen Zeiten Leute gegeben, die gesagt haben, in meiner Kindheit war das alles doch sehr viel schöner, behüteter. Rückblickend wird man da wahrscheinlich immer zu dem Schluss kommen, weil man dann sehr viele Dingen klarer sieht und auch die schmutzigen Seiten des Lebens besser kennengelernt hat. Aber deswegen die Zeit der eigenen Kindheit mit einer Zeit gleichzusetzen, in der alles besser war, ist natürlich völliger Unfug.
Es ist wichtig, etwas gegen den spirituellen Analphabetismus zu tun.
Interessant ist doch, dass in der Gesellschaft immer viel darüber geredet wird, welchen Einflüssen die Kinder ausgesetzt sind, aber es wird kaum davon gesprochen, wie Kinder die Gesellschaft beeinflussen…
Noethen: Es wird meistens vom Ende her gedacht. Wir fragen uns, wie wir die jungen Menschen in Arbeit kriegen, weil sie irgendwann zum Bruttosozialprodukt, zur Rente beitragen sollen. Es wird für die jungen Menschen nachgedacht, wie sie ausgebildet werden sollen, nur im Hinblick darauf, dass die Gesellschaft weiterhin einigermaßen im Gleichgewicht bleibt. Alles andere, die Versuche, die Welt bunter, impulsiver, kindlicher zu machen, finden zwar auch statt, aber ich fürchte, eigentlich wird da mehr an den Konsumenten gedacht und weniger an den Menschen.
Immerhin in dem Punkt sind Kinder und Erwachsenen gleichberechtigt. Sie sind Zielgruppen der Wirtschaft.
Noethen: Ja genau, Kinder sind junge Konsumenten.
Wo sie gerade die Ausbildung ansprachen, sind Sie als Sohn eines Pfarrers eigentlich für oder gegen die Beibehaltung des Religionsunterrichtes?
Noethen: Ich bin nicht gegen Religionsunterricht. Hier in Berlin ist es nur so, dass er freiwillig ist und dann als achte oder neunte Stunde hinten dran geklatscht wird. Die Schulen stellen den Kirchen den Unterrichtsrahmen zur Verfügung und die Kirchen setzen dann jemanden da hin. Der kann ein guter Lehrer, ein ausgebildeter Theologe sein oder eben irgendjemand. Meine Tochter hatte das Glück, Unterricht bei einem sehr guten Theologen zu haben.
Was kann ein guter Religionsunterricht, was der Ethikunterricht nicht kann?
Noethen: Er geht weiter. Es ist wichtig, etwas gegen den spirituellen Analphabetismus zu tun, um sich selbst möglicherweise in ein anderes Verhältnis setzen zu können, zum Leben und zu seiner Umwelt.
Zurück zu „Scherbenpark“. Was wäre für Sascha anders, wenn sie nicht mehr 17 sondern volljährig wäre? Wäre Sie dann erwachsener?
Noethen: Ich glaube, dass das für dieses Mädchen wirklich keine große Rolle spielt. Wir können davon ausgehen, dass sie wirklich ziemlich smart ist, dass sie versucht, dieser Welt, ihrer eigenen Welt etwas zu entkommen, den Horizont ihrer Möglichkeiten weiter zu spannen. Und dann trifft sie auf Volker…
Einen früheren Bekannten ihrer Mutter, einen Zeitungsredakteur, den Sie spielen.
Noethen: … und dieser Mann verkörpert vieles von dem, was Sascha sich vorstellt, wie sie gerne wäre. Er ist eloquent, gebildet, hat ein Zuhause. Sie fühlt sich ihm nahe und ebenbürtig. Das ist wohl ein wichtiger Wegstein ihrer weiteren Entwicklung, diese Potenz zu erleben, dass sie da auf Augenhöhe mitmachen kann.
Dieser Volker fügt sich in eine Reihe interessanter Vaterfiguren ein, die Sie in den letzten Jahren im Kino gespielt haben.
Noethen: Das ist ja nun einfach meine Lebenssituation. Der „jugendlichen Liebhaber“ ist mit den Jahren unwahrscheinlich geworden. Und die Geschichten sind die Geschichten von den jungen Menschen. Nur weil man dann dazu auch mal einen Vater braucht, würde ich nicht von einer Kontinuität in meiner Rollenauswahl sprechen.
In den „Sams“-Filmen spielen Sie eine Vaterfigur, die angesteckt wird, wieder selbst zum Kind zu werden. Der Vater in „Oh Boy“ manipuliert seinen Sohn mit der Kreditkarte. Ihre Rolle in „Scherbenpark“ steht irgendwo dazwischen. Welchem dieser Väter fühlen Sie sich am nächsten?
Noethen: Vorhin kam einer Ihrer Kollegen mit der Frage „Wie viel Ulrich Noethen ist in der Figur?“ Daraufhin habe ich mir die Freiheit genommen zu sagen: Nächste Frage. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, Gerhard Richter zu fragen: Wie viel Richter ist in dem, was sie da auf die Leinwand gebracht haben? Da der Schauspieler sich eben selbst als Mittel hat, liegt die Frage natürlich nahe, aber…
Sie ist letztlich auch nur ein Schlüssel, um herauszufinden, wie der Schauspieler die reale Welt sieht.
Noethen: Es ist aber auch eine Frage, um herauszufinden, ob jemand überhaupt meint, in der Lage zu sein, sich selbst zu kennen oder zu sehen. Da wäre ja die erste Frage, die man sich stellen müsste: Wer bin ich? Und allein diese Frage zu beantworten, finde ich schon reichlich schwer.
Was halten Sie denn von den jüngsten Versuchen, zunehmend Filme auf ein älter werdendes Publikum zuzuschneiden und immer mehr Altenheimkomödien zu produzieren?
Noethen: Diese Tendenz scheint es zu geben. Früher wurde Kino gemacht und man hat eben großartige Geschichten erzählt und sich keine Gedanken darüber gemacht, für welche Altersgruppe das jetzt vorgesehen wäre. Dann kam irgendwann der Gedanke: Wir müssen auch mal was für die Kinder machen. Und plötzlich sagt der Markt: Wir haben die Alten vergessen! Die könnten wir auch nochmal ins Kino locken. Die Diversifizierung der Altersklassen ist fortgeschritten und man versucht eben mit entsprechenden Produkten darauf zu reagieren. Aber von wahnsinnig großem Erfolg scheint mir das auch nicht getragen zu sein. Man kann unterscheiden zwischen Filmen, die für Kinder geeignet sind, oder eben nicht. Ansonsten ist ein guter Film ein guter Film. Weiter würde ich nicht gehen.
Zur letzten Frage: Vor 20 Jahren wurde das Schiller-Theater in Berlin geschlossen, Sie waren damals Teil des Ensembles. Kurz darauf hat Ihre Film- und Fernsehkarriere begonnen. War für Sie das Ende des Schiller-Theaters letztlich ein Glück?
Noethen: Die Situation vor zwanzig Jahren war die, dass das Schiller-Theater geschlossen wurde und das Ensemble auf der Straße stand. Es gab keine Möglichkeiten zum Anschluss. Man wurde von dem Intendanten oder den Regisseuren nicht irgendwohin mitgenommen. Hinzu kam, dass meine damalige Frau schwanger wurde und wir standen relativ hilflos vor der ganzen Situation. Ich hatte dann das Glück, bei einer Vorabendserie, „Die Partner“, mit dem Drehen anfangen zu können. Und ich hatte da das Gefühl, dass ich da sehr willkommen bin, dass sich die Leute darüber freuen, was ich mache. Im Gegensatz zum Theater, wo man eigentlich immer eher froh sein durfte, wenn man bei einem Ensemble dabei war und auch teilweise ziemlich beschissen behandelt wurde.
Haben Sie nie überlegt, zum Theater zurückzukehren?
Noethen: Es gibt da auch diese Wagenburgmentalität gegenüber Schauspielern, die vom Film und Fernsehen kommen, da sträubt man sich und zeigt sich ein bisschen sperrig – teilweise zurecht, teilweise aber auch vollkommen zu Unrecht. Da tut man oft so, als ob das wahre Künstlertum nur dort am Theater zuhause wäre – was natürlich grober Unfug ist. Bei Film und Fernsehen hatte ich hingegen den Eindruck, relativ frei arbeiten zu können, dass ich da unter Umständen auch besser zum Zug komme. Zudem haben mir die negativen Seiten des Theaterschauspielers dermaßen gestunken, dass ich gesagt habe: Ich brauche das nicht. Ich gehe ganz bestimmt nie wieder fest in ein Ensemble; diese Zumutungen teilweise von Intendanten oder Kollegen, das tue ich mir nicht an. Trotzdem empfinde ich es als großen Verlust.
Was fehlt Ihnen?
Noethen: An einem Samstag vor einigen Wochen ist Otto Sander zu Grabe getragen worden. Und in der Nacht vor dem Begräbnis ist Walter Schmidinger gestorben. Ich hatte an dem Sonntag danach ein Konzert, eine Lesung mit Klavier und habe da viel nachgedacht über die beiden Kollegen, die ich unglaublich bewundere, und die ich auch sehr gemocht habe. Und da habe ich mir gedacht: Vielleicht kommt doch wieder der Punkt, wieder auf die Bühne zu gehen. Das besondere an diesen beiden Menschen ist, dass sie nie ihre Verletzlichkeit verloren haben. Es gibt viele, die den Beruf des Schauspielers handwerklich ausüben. Sauber. Aber berühren kann ich die Menschen nur, wenn ich sie durch meine Augen schauen lasse und das kann ich nur wenn ich… offen bin gegenüber allem Möglichen. Und diese beiden waren zwei große Berührer. Ich wünsche mir eigentlich für die Zukunft, dass ich nach dieser Offenheit wieder mehr suche. Aber das sind zwei Schauspieler, die man sich zum Vorbild nehmen kann, da werde ich in nächster Zeit öfter dran denken.
Kann man in unserer Gesellschaft als Erwachsener gelten und bestehen, wenn man sich diese Offenheit und Verletzlichkeit behält?
Noethen: Auf jeden Fall. Es gibt ja eine Form von Erwachsensein, die darin besteht, eine Fassade aufzubauen; das gilt weithin als erwachsen. Aber wenn ich als Künstler ernstgenommen werden will, als Schauspieler, dann gehört diese Offenheit zu den Grundvoraussetzungen. Nur wenn das auch gegeben ist, dann geschehen wunderbare Dinge.