Noah Gordon

Wir haben nicht viel dazugelernt

Der 87-jährige Schriftsteller Noah Gordon spricht über die Verfilmung seines Bestsellers „Der Medicus“, Religionskonflikte, Zukunftssorgen und die Entwicklung der Medizin

Noah Gordon

© Universal Pictures International

Mr. Gordon, was ist das für ein Gefühl, wenn man Figuren, die man sich als Autor ausgedacht hat, Jahre später ‚aus Fleisch und Blut‘ auf der der Leinwand erblickt?
Gordon: Das ist ein sehr komisches Gefühl. Wenn ein Schriftsteller an einem Buch arbeitet, sieht er natürlich Gesichter, die Physis, er hat für jede Rolle eine Persönlichkeit vor Augen. Das Schöne daran ist aber, dass jeder einzelne Leser ganz unterschiedliche Gesichter sieht. Jeder Leser findet in den Figuren verschiedene kleine Dinge, die er kennt, von den Tausenden Menschen, die er in seinem eigenen Leben schon gesehen hat.

Kommt die Filmbesetzung von „Der Medicus“ denn an Ihre Gedankenwelt nah heran?
Gordon: Zum Teil sehen sie die Figuren im Film nicht so aus, wie ich mir das vorgestellt habe – das wäre ja aber auch mysteriös gewesen. Allerdings muss ich sagen, dass für diesen Film so talentierte, sehr begabte Schauspieler ausgewählt wurden – da habe ich beim Zuschauen fast sofort meine eigene ‚Besetzung‘ vergessen.
Beim Casting muss entweder große Perfektion oder extremes Glück dabei gewesen sein. Denn wenn man sich das Gesicht des jungen Rob anguckt und das des Erwachsenen, dann glaubt man wirklich, es ist die gleiche Person. So etwas ist sehr schwer zu erreichen.

Zitiert

Ich habe schon die Sorge, dass manche Leser enttäuscht sind. Nicht vom Film, aber davon, dass etwas, was sie sehr geliebt haben, nun anders ist.

Noah Gordon

Gegenüber dem Buch gibt es im Film sehr viele Änderungen. Haben Sie Angst, dass manche Leser dadurch enttäuscht sein könnten?
Gordon: Ich habe schon die Sorge, dass manche Leser enttäuscht sind. Nicht vom Film, aber davon, dass etwas, was sie sehr geliebt haben, nun anders ist.
Ich habe auf dem Weg hierher im Flugzeug mit einer Stewardess gesprochen und sie meinte, sie hätte das Buch vor 25 Jahren gelesen. Ich bekomme auch Briefe von Menschen, die es mehrere Male von vorne gelesen haben, die es auch an Freunde und Verwandte weitergegeben haben. Für mich ist es ein kleines Wunder, dass das Buch so lange Bestand hat. Das ahnt man ja nicht in dem Moment, wo man es schreibt. Es wurde für mich… nicht ganz so etwas wie ein eigenes Kind, aber doch ein wichtiger Bestandteil meines Daseins, mehr als nur Papier und Tinte.

Wie haben Sie persönlich auf die Änderungen reagiert?
Gordon: Ich gebe zu, als ich den ersten Drehbuch-Entwurf las, war ich selbst etwas enttäuscht und verletzt. Weil es etwas ist, an dem ich vier Jahre meines Lebens gearbeitet habe, was an sehr vielen Orten der Welt in vielen Ländern der Erde gelesen wurde und Beifall fand.
Dann kamen aber andere Gesichtspunkte ins Spiel, die Produzenten haben viel Zeit investiert und eine ganze Reihe von Autoren engagiert um ein langes, sehr kompliziertes Buch in einen Film zu verwandeln.

© Universal Pictures International

© Universal Pictures International

Hatten Sie das eigentlich für möglich gehalten?
Gordon: Ich kann Ihnen sagen: Man kann dieses Buch eigentlich nicht in einen Film packen. Vielleicht in zwei Filme oder eine längere TV-Serie. Aber angesichts der Tatsache, dass sie hier ihr Bestes versucht haben, war ich etwas offener für diese Idee der Umsetzung.
Außerdem sagte meine Familie immer zu mir: Solange es gut gemacht ist, sollte es mich nicht beunruhigen, dass ein Film ein anderes Wesen ist als ein Buch. Also habe ich mich damit abgefunden.
Und als ich den ersten Rohschnitt sah, habe ich gemerkt, wie gut die Schauspieler sind und wie der Regisseur die Zuschauer direkt in die Geschichte hineinzieht, auch in diese ja sehr unhygienischen Umstände im Mittelalter. Ich finde, es ist ein sehr interessanter Film geworden.

Das Interesse des Publikums an historischen Stoffen scheint nach wie vor ungebrochen. Was steckt dahinter?
Gordon: Ich denke, es gibt eine Sehnsucht nach Vergangenem, zum Beispiel nach der Stetigkeit der Eltern und Großeltern. Es ist schön, zurückzuschauen, auf seine Vorfahren. Und ich denke, dass die Leute sich nach mehr Einfachheit sehnen als wir sie heute haben, damals haben die Menschen einfachere Leben gelebt. Die Leute wollen wissen, was gestern war.
Dann war es auch eine Zeit, in der die großen, organisierten Religionen aufeinanderprallten. Die Zeit der Kreuzzüge, durch die so viele Menschen umkamen, eine Zeit von Intoleranz und Wildheit.

Gerade die Konflikte der Religionen sind bis heute ja noch nicht bewältigt.
Gordon: Nein, es nicht lange her, dass Protestanten und Katholiken sich in Irland gegenseitig umgebracht haben, oder Juden und Moslems im Nahen Osten. Es gab eine Reihe von Kriegen mit Beteiligung der US-Armee, mit denen viele Menschen nicht einverstanden waren… Und da denke ich: Wir sind nicht fortgeschritten. Das Problem ist, dass wir heute mit einem Schlag so viele Menschen töten können, wie es mit einem Säbel im Mittelalter nicht möglich war. Wir haben als Menschen nicht viel dazugelernt. Und ich bin in hohem Maße besorgt über die Welt, die meine Enkel erleben werden. Ich hoffe, sie haben die Möglichkeit, ein friedliches Leben zu führen.

Warum haben wir nicht aus der Geschichte gelernt? Sind die Religionen der wesentliche Grund dafür?
Gordon: Ich denke nicht, dass die Religion der einzige Grund ist für unsere Probleme. Aber was geschieht, ist: Jede Religion denkt von sich, sie sei der einzige Weg zu dem, was man Gott nennt. Gleichzeitig verachtet sie die Menschen, die nicht an das gleiche glauben. Dadurch entstehen Konflikte, um Land, um Gefolgschaft. Es gibt natürlich auch viel Gutes, was die organisierte Religion leistet, Hilfe für die Armen und solche Dinge. Auf der anderen Seite kann sie aber auch Übel verursachen.

Hätten Sie diesbezüglich denn eine ‚Botschaft‘?
Gordon: Nein, ich habe keine. Ich bin nicht so töricht, dass ich den Leuten etwas über ihren Glauben erzähle. Das ist eine sehr persönliche Angelegenheit, ich befürworte oder lehne nicht etwas ab, was den Glauben eines bestimmten Menschen betrifft. Ich habe allemöglichen Freunde, manchmal diskutieren wir sehr leidenschaftlich über Religion… Sagen wir es so: Ich könnte nicht mit jemandem befreundet sein, der sagt: Mein Weg ist der einzige Weg und du musst ihn befolgen.

In der „Medicus“ ist neben der Religion vor allem die Medizin und ihre Entwicklung das zentrale Thema. Wie entstand Ihr Interesse daran? Sie haben Medizin ja nicht studiert…
Gordon: Ich bin in den Journalisten-Beruf gegangen und habe erstmal über alles mögliche geschrieben. Zuerst war ich bei einer Zeitung in Worcester, wo ich aufgewachsen bin. Dort gab es zum Beispiel die „Worcester Foundation for Biomedical Research“, wo die Antibabypille entwickelt wurde. Und als ressortübergreifender Reporter für eine kleine Zeitung lernte ich die ganzen beteiligten Leute kennen.
Meine zweite Zeitung war dann der „Boston Herald“ und in Boston hatten wir das MIT, Labore, großartige Krankenhäuser, die ersten Transplantationen wurden gemacht usw. Mein Chefredakteur war der Ansicht: Wenn du ein Journalist bist, solltest du alle Bereiche abdecken können, deswegen gab es keine Experten in unserer Zeitung – im Gegensatz zum „Boston Globe“, der allein fünf Redakteure für Wissenschaft und Medizin hatte.

Und das hat Ihren Ehrgeiz geweckt?
Gordon: Die haben uns regelmäßig übertrumpft, weshalb ich selbst anfing, Reportagen in dem Bereich zu schreiben, so wurde ich schließlich Wissenschaftsredakteur des „Herald“ und hatte dort eine großartige Zeit.
Doch während meiner Ausbildung wollte ich nie Wissenschaftler sein, das war nie mein Traum. Ich habe an der Universität nie Kurse in Physik oder Chemie besucht. Ich hatte viel Biologie und Psychologie, doch ich hatte immer noch viele Lücken in meiner Bildung.

Während in „Der Medicus“ noch viele Menschen, vor allem die Religionsvertreter, damit hadern, tote Körper zu sezieren, ist die Wissenschaft ein Jahrtausend später bereits dabei, in das menschliche Gehirn vorzudringen. Bereitet Ihnen das Sorge?
Gordon: Nein, ich bin deswegen überhaupt nicht besorgt. Ich bin stark beeindruckt und erstaunt was heute alles möglich ist. Ich empfehle Ihnen dazu einen Artikel, den ich vor kurzem im „New Yorker“ las (Kim Tingley: „The Body Electric“). Dort wurde beschrieben, dass man jetzt einen Weg gefunden hat, elektronische Systeme und Leitungen in weiches, biegsames Material zu integrieren (integrated silicon circuit). Dadurch sind völlig neue Dinge möglich. Sie können mit der Elektronik Teile des Gehirns erreichen, an die man bislang nicht herankam, sie können damit ausgezeichnete und unheimliche Dinge machen.

Zum Beispiel?
Gordon: Man hat bereits implantierte Zellen benutzt um bestimmten blinden Menschen Augenlicht zu ermöglichen. Oder, was sie an Tieren bereits ausprobiert haben: Man hat das Herz komplett mit Elektronik ummantelt, wodurch es möglich sein wird, zum Beispiel einen Herzanfall weit im Voraus zu erkennen. Die Zukunft ist wirklich sehr aufregend!
Der Journalist fragte dann den Wissenschaftler (John Rogers von der University of Illinois): „Sie könnten mit der Technologie viele Herz- und Gehirnkrankheiten heilen. Glauben Sie nicht, dass Sie damit das Leben vieler kranker Menschen verlängern?“ – Da hat er gesagt: „Ja, das glaube ich. Aber über die Konsequenzen sollte die Gesellschaft nachdenken, nicht ich. Ich bin nur ein Ingenieur.“ (lacht)
Also, ich denke, die Welt befindet sich gerade an der Schwelle zu einer sehr außergewöhnlichen Zeit für die Medizin.

Zum Schluss: Das Feuilleton hat Ihren Erfolg und Ihr literarisches Werk eher ignoriert. Stört Sie das?
Gordon: Ich denke, ich habe Glück gehabt. Ich erinnere mich, als mein erstes Buch herauskam, da traf ich kurz darauf meinen Vater auf der Straße. Ich hatte das Buch nach großen finanziellen Problemen geschrieben, ich hatte einen Vorschuss von 10.000 Dollar erhalten, aber dann brauchte ich vier Jahre, bis es fertig war. Und dann sagte mein Vater „Ich habe gerade die erste Rezension gelesen.“ Und ich fragte: „War sie gut?“ – „Nein, das war in der Newsweek“ (lacht) Da war ich sehr niedergeschlagen. Doch dann bekam ich ganz ausgezeichnete Kritiken, ich glaube, es gab keine weitere schlechte.
Ich werde jetzt nicht sagen, was ich vielleicht gesagt hätte als ich noch jünger und dümmer war als heute, nämlich so etwas wie „Kritiken kümmern mich nicht“. – Natürlich bewegt es einen, wenn jemand sagt, du bist ein guter Schriftsteller oder du bist ein schlechter Schriftsteller. Aber ich hatte Glück und ich bin sehr dankbar für dieses wunderbare Leben, in dem ich der Arbeit nachgehen konnte, die ich absolut liebe. Ich denke, viele meiner Freunde können das nicht von sich sagen.

Und Sie sind mit 87 Jahren noch immer ein sehr aktiver Gesprächspartner. Hat die Literatur Sie jung gehalten?
Gordon: Ich weiß nicht, ob es allein die Literatur ist. Wie gesagt, ich habe viel Glück gehabt – und ich bin immer noch mit der Frau zusammen, in die ich mich vor 65 Jahren verliebt habe.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.