Mr. Cullum, man hört, dass in letzter Zeit viele Künstler von London nach Berlin ziehen. Können Sie das bestätigen?
Jamie Cullum: Ja, ich selbst habe vier Musiker-Freunde, die gerade erst nach Berlin gezogen sind und wahrscheinlich kommen sie so schnell nicht zurück. Es passiert sehr viel in Berlin, es gibt eine tolle Künstler-Community, es ist nicht zu teuer, ein sehr kreativer Ort.
Was wäre der erste Grund für Sie nach Berlin zu ziehen?
Cullum: An Berlin schätze ich sehr, dass es eine sehr familienfreundliche Stadt ist. Mir scheint, dass Berlin Kinder einfach sehr gerne hat. So etwas hat man bei Großstädten nicht so oft.
Sie wohnen in der Nähe von London – hat das raue Klima auf der Insel eigentlich Ihre Stimme beeinflusst?
Cullum: Das Wetter und das Klima in Großbritannien hat sicherlich einen Einfluss auf unsere Persönlichkeit, besonders unseren Sinn für Humor, den Sarkasmus und die Selbstironie. Wie es meine Stimme beeinflusst hat, weiß ich nicht. Das ist das Klima, in dem ich geboren bin – heute bin ich aber so viel unterwegs, da habe ich sozusagen keinen Mangel an Klimawechseln.
Sie haben 2010 in Ihrem Blog geschrieben, Ihre Stimme befände sich in einem „brenzligen“ Zustand. Ist sie inzwischen wieder in Ordnung?
Cullum: Ja, absolut. Es ging bei mir nicht so weit wie bei Adele oder John Mayer, die ihre Stimmen richtig verletzt haben. Ich war damals krank geworden, habe aber einfach weitergemacht, mich nicht ausgeruht, ich habe meine Stimme überreizt und es dauerte dann erst einmal, sie wieder zurück in den Normalzustand zu bekommen. Ich habe einige Monate nur bestimmte Übungen gemacht. Die Situation war nie zu ernst, aber ich habe damals darüber geschrieben, damit das vielleicht auch anderen Sängern hilft.
Ihr Kollege, der Jazz-Sänger José James, sagte uns, er schlafe viel, verzichte auf Alkohol….
Cullum: Damals war ich genau das Gegenteil: Ich habe viel Party gemacht, wahrscheinlich zu viel getrunken und ich habe mein Instrument nicht respektiert. Aber danach diese Erfahrung zu machen, hatte etwas Positives, weil ich mich deshalb mehr mit meiner Stimme beschäftigt habe, bis dahin hatte ich mich vor allem auf mein Klavierspiel konzentriert. Es hat Spaß gemacht, an der eigenen Stimme zu arbeiten, diese Zeit hat auch einen großen Einfluss darauf, wie ich heute klinge. Ich kann meine Stimme jetzt auf interessantere Art und Weise einsetzen als früher.
Jeder von uns Sängern hat Songs, von denen er nicht will, dass sie nochmal verunstaltet werden.
Nach mehreren Alben mit eigenen Jazz-Pop-Songs singen Sie nun auf „Interlude“ Jazz-Standards. Wie schwer ist es, aus dem umfangreichen Jazz-Fundus auszuwählen?
Cullum: Für mich ist das eigentlich nicht schwer. Ben Lamdin, der das Album produziert hat, und ich, wir sind solche Plattenfreaks und ‚Crate-Digger‘, außerdem habe ich jede Woche eine Radiosendung – mein Leben besteht sozusagen aus einer Abfolge von Playlists. Ich muss mich ständig damit beschäftigen, Songs auszuwählen. Sicher geht es auch darum, Songs zu finden, die noch nicht zu häufig aufgenommen wurden und bei denen du das Gefühl hast, dass du damit etwas Besonderes ausdrücken kannst.
Warum zum Beispiel fiel Ihre Wahl dann auf „My One and Only Love“, von dem es Hunderte Aufnahmen gibt?
Cullum: Den Song hatte ich schon auf meinem aller ersten selbstproduzierten Album gesungen. Und ich hatte immer das Gefühl, dass ich das damals nicht richtig gemacht habe, dem Song nicht richtig gerecht geworden bin. Ich wollte jetzt auch eine Art von Arrangement in den Fokus rücken, die mehr den orchestralen Stil von Duke Ellington widerspiegelt, vermischt mit der Eingangspassage aus dem Bill Evans Song „Peace Piece“. Das ist von mir eine Hommage an das Werk von Duke Ellington.
José James meint, es wäre heute unnötig einen Song wie „Singin‘ in the Rain“ oder „Summertime“ nochmal aufzunehmen. Wie sehen Sie das?
Cullum: Jeder von uns Sängern hat solche Songs, von denen er nicht will, dass sie nochmal verunstaltet werden. José fragt sich halt: Was will jemand heute noch mit „Summertime“ aussagen? Warum muss das noch jemand aufnehmen?
Zumindest „Singin‘ in the Rain“ haben Sie ja aufgenommen…
Cullum: Ja, bei dem Song geht es mir anders. Da steckt für mich die Idee dahinter, so einen fröhlichen Uptempo-Song mal auf eine Art zu singen, die trauriger, nachdenklich und besinnlich ist.
Und von welchem Song würden Sie die Finger lassen?
Cullum: Ich kann nicht verstehen, warum irgendjemand nochmal „Fly Me to The Moon“ aufnehmen würde, was gibt es da noch zu sagen? – Aber dann kommt vielleicht José, Gregory Porter oder Annie Lennox mit einer neuen Version um die Ecke und schon ändere ich meine Meinung.
Ihr Arrangement von „Good Morning Heartache“ ähnelt dem von Billie Holiday. Hat das einen besonderen Grund?
Cullum: Das war auch eine spezielle Entscheidung. Die Platte reflektiert vor allem das Arrangieren vor den 1950ern, als die Arrangements noch orchestraler waren, die Harmonien waren eher verzwickt und der Sänger war mehr Teil der Band, die Band war nicht nur Hintergrund für den Sänger.
Das ist eine Zeit, die mich fasziniert, und das Arrangement von „Goodmorning Heartache“ ist ein perfekter Ausdruck davon: Was hinter dem Sänger geschieht ist sehr komplex, es ist eine Referenz an große europäische Komponisten und es klingt ganz anders als später die Arrangements in den 50ern zum Beispiel bei Sinatra oder von Nelson Riddle. Das wollte ich widerspiegeln, weshalb ich das Arrangement auch nicht verändert habe.
Für Ihre Radioshow haben Sie u.a. schon Dave Brubeck und Wynton Marsalis interviewt. Was hätten Sie Frank Sinatra gefragt?
Cullum: Ich würde mit ihm über Improvisation sprechen, das wird heute bei Sinatra ja kaum thematisiert. Soweit ich das sehe, hatte er eine unglaubliche Affinität zu Jazz-Musikern, er hat mit Quincy Jones aufgenommen, mit Count Basie… Mich würde interessieren, wie er an den Gesang herangegangen ist. Fühlte er sich wie ein Saxofonist, der ein Solo spielt? Und wie anders hat er den gleichen Song beim nächsten Konzert aufgefasst? Fühlte er sich eher der Jazz-Tradition nah, oder sah er sich als Sänger, der einfach nur die Songs singt? – Wobei ich schon stark vermute, dass er geantwortet hätte, dass er sich beim Singen so gefühlt hat, wie ein Lester Young oder Dexter Gordon.
In unserem ersten Gespräch erwähnten Sie, dass Sie die Sinatra-Ära überhaupt nicht interessiert. Hat sich das gewandelt?
Cullum: Ich habe das Thema damals wahrscheinlich etwas abgewehrt, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, dass ich als Sänger etwas Ähnliches mache. Meine Platten waren… vielleicht keine komplette Ablehnung dieser Ära… – doch ich wollte zumindest, dass die Leute meine Musik als etwas von heute betrachteten und nicht als Wiederholung von etwas Vergangenem. Meine Liebe und mein Interesse zu dieser Ära war aber immer vorhanden.
Sie vermuteten gerade, Sinatra hätte sich auch als Instrumentalist gesehen. Ist das auch Ihre Herangehensweise?
Cullum: Ja, klar. Weil ich dadurch auch darauf achte, was neben dem Text noch alles passiert, harmonisch, melodisch, das ist eine große Hilfe. Mich inspirieren auch Instrumentalversionen, die Interpretationen von großen Musiker sind oft das erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an diese Songs denke, ich beziehe mich weniger auf die Vokal-Version.
Beim Song „Interlude“ beziehe ich mich auf „Night in Tunisia“. Ich wusste natürlich, dass es den Song auch mit Gesang gibt, dann entdeckte ich die Version von Sarah Vaughan mit diesem eigenartigen Instrumental-Arrangement hat: das ist harmonisch dicht und ausgefallen, da kann man nicht anders, als es als Instrumentalist zu denken.
In Ihren Konzerten springen Sie gerne auf den Flügel, laufen mit Mikro durchs Publikum. Braucht es immer dieses Show-Element?
Cullum: Die „Interlude“-Konzerte sind schon sehr energetisch. Aber es ist wichtig, dass diese Dinge, die ich sonst so mache, die Musik nicht überwältigen. Das funktioniert auch nicht, wenn ich einen Song wie „My One and Only Love“ singe, da muss ich meine Stimme sehr unter Kontrolle haben, da kann ich nicht außer Atem sein.
Aber auch auf den „Interlude“-Konzerten sind Sie sehr in Aktion, wie man beobachten kann…
Cullum: Ich mache das, was ganz spontan aus mir herauskommt. Ich empfinde das nicht als Show, es ist auch nicht so, dass ich immer rumspringen muss. Es ist einfach ein natürlicher Ausdruck der Freude daran, was ich mache. Der Show-Aspekt ist sicher Teil dessen, was die Leute fasziniert, aber ich persönlich denke da nicht viel drüber nach.
Und wenn es irgendwann aufhört wird das auch damit zu tun haben, wie ich mich zu dem Zeitpunkt fühle. Ich will jedenfalls nicht, dass ich mich irgendwann gezwungen fühle, eine große Show zu veranstalten.
Zum Schluss will ich noch eine Frage nachholen, die ich bei unserem ersten Interview 2006 vergaß, zu stellen. In „I want to be a Popstar“ singen Sie auch die Zeile „Told what to do, miming to a tape“. Haben Sie schon mal mit Playback gesungen?
Cullum: Nein, mein Gesang kam noch nie vom Band. Manchmal ist es nicht möglich, die Live-Band im TV-Studio zu haben, dann muss ich damit zurechtkommen, aber ich habe nie zu einer Klavier- oder Gesangsaufnahme gemimt. Ich kann sicher sagen, dass das nie Teil meines Lebens war. (lacht) Ich würde dabei auch richtig lächerlich aussehen. Weil ich nie genau erinnern kann, wie ich das Stück damals im Studio gesungen habe. Das heißt, ich würde dazu ganz falsche Bewegungen machen und die Leute würden denken, im Hintergrund singt ganz jemand anderes. Playback-Singen ist sozusagen eine Fähigkeit, die ich nicht besitze.