Wolf Biermann

Raubtiere sind auch auf Augenhöhe.

Der Liedermacher, Dichter und Schriftsteller Wolf Biermann spricht im Interview über sein neues Buch „Barbara“, das Verhältnis von Liebe und Politik und einen beleidigten Finger

Wolf Biermann

© Claudia Araujo

Herr Biermann, Ihnen fehlt ein Teil Ihres rechten kleinen Fingers. Wie ist das passiert?
Wolf Biermann: Den habe ich mir abgerissen. Und warum? Wegen der Liebe! Weil ich meiner Frau Pamela den schönsten Apfel pflücken wollte, im Garten bei uns. Mir fehlten aber fünf Zentimeter bis zu diesem einen Apfel. Es hingen noch viele andere am Baum, aber ich wollte ihr diesen besonders schönen Apfel geben. Ich habe mich auf die Zehenspitzen gestellt, verlor die Balance, bin rückwärts gefallen und habe im Fallen die Hände nach hinten gerissen, um mich abzustützen. Ein Reflex. Und da stand eine Steinbank im Garten. Die Kante ist aus scharfen Steinchen, rissig, Beton. Als ich auf dem Hintern saß, hing der Finger daneben.

Haben Sie sich gleich Sorgen um Ihr Gitarrenspiel gemacht?
Biermann: Mein Sohn Manuel rief mich an und sagte: „Herzlichen Glückwunsch, dass Du Dir den Finger abgerissen hast, den richtigen!“ Ich sagte: „Bist Du verrückt, was soll das?“ Er sagte: „Als ich klein war, hast Du mir einen Vortrag gehalten: Wenn ich mal einen Finger verlieren muss, sollte das der rechte kleine Finger sein. Wenn es der linke wäre, wäre ich im Arsch, dann kann ich nicht mehr Gitarre spielen, nicht greifen.“ Und jetzt kommt die Philosophie: Warum ist der kleine rechte Finger abgerissen? Weil er beleidigt war. Jahrzehntelang steht er mit mir auf der Bühne, die Leute klatschen, ich kriege Gage. Und wer spielt nicht mit? Er! keiner braucht ihn. Also sagte der kleine Finger: Ich geh schon mal vor und halte dir den Platz frei. Der kleine Finger sitzt oben, mit meinem Vater Dagobert und meiner Mutter Emma auf der Wolke, und wartet auf den Rest.

Mit den verbliebenen Fingern haben Sie ihr neues Buch „Barbara“ geschrieben.
Biermann: Ja, es sind sind Novellen, eine Kette von Geschichten. Sie handeln von Menschen in ihrem Widerspruch. „Ich bin kein getüftelt Buch. Ich bin ein Mensch in meinem Widerspruch.“ Das ist ein schönes Wort von Conrad Ferdinand Meyer und es passt. Es sind Novellen über Berühmte und Unberühmte, über tapfere und kluge, auch verrückte Menschen, über sogenannte Alltagshelden, und Scheitergeschichten. Freilich gescheite Scheitergeschichten, sonst wäre es ja langweilig.

barbara_coverIch fühlte mich bei der Lektüre bisweilen an Musiker erinnert, die in ihrer Autobiografie noch einmal öffentlich mit früheren Liebesabenteuern prahlen müssen.
Biermann: Das ist Ihr Eindruck. In 15 der 18 Novellen geht es aber gar nicht um mich und meine Lieben, sondern um ganz andere Menschen. Und bei denen auch nicht immer um irgendwelche Liebesabenteuer. Nur in drei Geschichten schildere ich kurzweilige Begegnungen mit einer Frau. Dabei geht es um sehr verschiedene Themen: Um Macht und Missbrauch, um Sexualität und Aufklärung und darum, was sich einem ins Gedächtnis brennt.

Liebesnovellen und andere Raubtiergeschichten“ nennen Sie Ihr Buch im Untertitel.
Biermann: Ja, und die Geschichten handeln auch davon, wie schwach, wie erbärmlich, wie hilflos der Mensch sein kann, wenn er in Konflikte gerät. Auch in dem, was Brecht das „Spiel der Geschlechter“ nennt, wie z.B. Monika, die ihrem Mann ein Brotmesser in den Rücken rammt, weil sie nicht will, dass er sich prostituiert.

Nun wird seit einigen Jahren viel darüber geschrieben und diskutiert, wie man das „Spiel der Geschlechter“ besser auf Augenhöhe betreiben kann – und eben nicht so wie Raubtiere.
Biermann: Raubtiere sind auch auf Augenhöhe… Sehen Sie, ich bin schon kein alter Mann mehr, sondern, wie es in meinem neuen Gedicht heißt, „ein blutjunger Greis“ von 82 Jahren. Aber ich kann mich ganz gut erinnern, wie ich in das Spiel der Geschlechter geriet. Wie verzweifelt unsicher ich war, in was für Ängste und Irrtümer ich mich reingeküsst habe.

Erzählen Sie…
Biermann: Meine erste große Liebe, auf die waren alle scharf in der Schule. Wenn eine neue Klasse im Internat eingeschult wird, gucken erst mal die sechzehn, siebzehn jährigen Hirsche der höheren Klassen darauf, was da für neue Mädchen kommen. Umgekehrt natürlich auch. Auf ein, zwei von denen sind alle scharf, so geht’s den Jungs wie den Mädchen. Die älteren Jungs protzen mit ihrem Geweih und schreiten auf die Lichtung, das ist der Schulhof, und zeigen, was sie für tolle Hirsche sind. Und mir kleinem Biermann, ich war sehr unsicher damals, gelang es dieses eine Mädchen zu gewinnen, wie man im Schuljargon sagte: Ich ging mit ihr. Sagt man das heute noch?

Zu meiner Zeit hat man das zumindest noch gesagt.
Biermann: Okay, das war für mich das größte Glück meines damaligen Lebens. Sie war nicht nur die Schönste in der Schule, sondern auch die Klügste. Ich sah weder besonders gut aus, noch hatte ich besonders viel auf der Festplatte im Kopf. Bis dahin zählte ich zu den schlechtesten Schülern in der Klasse, was keine sehr angenehme Lebenssituation ist. Das änderte sich wie im Märchen und auf Knopfdruck in der DDR durch meine Freundin. Auch weil ich ihr gefallen wollte, wurde ich endlich ein guter Schüler.

Nach Ihrer Ausbürgerung 1976 haben Sie in Hamburg eine Zeit lang mit drei Frauen und Ihren Kindern unter einem Dach gelebt. Das klingt nach einem alternativen Lebensentwurf…
Biermann: …der uns wunderbar misslungen ist. Es war eine Übergangslösung, die aus der Notsituation, die Folge der Ausbürgerung, entstand. Wir waren alle fremd und neu im Westen, da liegt die Idee nahe, dass man – in verschiedenen kleinen Wohnungen – unter einem Dach leben könnte und sich gegenseitig unterstützt. Aber bald stellte sich heraus, dass jeder mehr Raum für sich brauchte. Dann habe ich, ausgerechnet im Jahr 1983, Pamela in Hamburg kennengelernt. Ich war jung, ich war erst 46. Sie war schon 19. Und ich habe endlich begriffen, dass ich im Spiel der Geschlechter mit einer Frau die Unendlichkeit finden muss und auch kann. Wer nicht ruht in der Liebe zu einem bestimmten Menschen, hat im Streit der Welt sehr schlechte Karten. Liebe hat also auch eine politische Dimension. Aus komisch politischen Gründen, könnte man sagen, bin ich fast dazu verurteilt, in der Liebe ein Mensch zu werden und kein Raubtier. Damit ich mich im Streit der Welt, der übrigens von Raubtieren gemacht wird, behaupten kann.

Sie sagten gerade „ausgerechnet im Jahr 1983“, was meinen Sie damit?
Biermann: In diesem Jahr hatte ich endlich die Kraft und den Mut aufgebracht, mich von dem Kinderglauben an die Endlösung der sozialen Frage, genannt Kommunismus, zu lösen. Für mein kleines Menschenleben war das der entscheidende Bruch, durch den sich meine Haltung zur Menschheit, was man Politik nennen kann, geändert hat. Dass sich im selben Jahr auch meine Haltung zum einzelnen Menschenexemplar, also auch zum Spiel der Geschlechter, geändert hat, das finde ich interessant. Ob das einen wirklich tiefen, kausalen Zusammenhang hat oder nur ein dummer Zufall ist, darüber muss ich nochmal nachdenken. Ich glaube eher nicht.

Es fällt auf, dass Sie in Ihren Büchern und Essays, immer wieder mit Bewunderung oder zumindest freundschaftlich von Schriftsteller- und Dichterkollegen schreiben. Zu anderen Liedermachern scheinen Sie jedoch keine Beziehung zu haben…
Biermann: Es gab einen, den mochte ich, den ich sehr schätzte: Walter Mossmann. Der hatte eine schöne Seele, einen scharfen Verstand und eine gute Stimme. Der war aus meiner Sicht ein einziger Lichtblick. Ich bin, manche sind schon tot, mit vielen ausländischen Liedermachern befreundet. Kollegen wie die Katalanen Maria del Marbonet und Pi de la Serra, wie der Spanier Paco Ibanez, der Grieche Dionysis Savvopoulos, Daniel Vigietti aus Uruguay und die Amerikanerin Joan Baez.

Warum haben Sie nach Ihrer Ausbürgerung in der westdeutschen Liedermacherszene keinen Anschluss gefunden?
Biermann: Den hab weder im Osten noch im Westen gesucht. Ich konnte mich nicht von dieser Szene entfernen, weil ich ihr niemals angehörte. Wir waren zu verschieden geprägt. Ich sage es womöglich zu oft, aber es ist trotzdem wahr: Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wurde. Das ist weder Verdienst noch Schuld. Die meisten Deutschen hatten eine andere Lebensgeschichte als ich. Das waren die Nazi-Kinder, also die Mehrheit nach dem Krieg. Aber ich kam nun mal durch Zufall der Geburt aus einem Kommunisten-Judennest. Ich konnte stolz auf meine Eltern sein.

© Claudia Araujo

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Wie blicken Sie heute auf den „Streit der Welt“? In den letzten Jahren haben sich viele politische Konflikte wieder verschärft.
Biermann: Das halte ich für ein Zerrbild. Die Konflikte waren früher mindestens so scharf wie heute. Damit idyllisieren Sie das blutige vorherige Jahrhundert.

Aber wenn wir die letzten zehn, zwanzig Jahre betrachten?
Biermann: Wissen Sie, die Zeiten, in denen man einigermaßen wach lebt, in denen fällt einem plötzlich auf, dass die Welt ganz schön kompliziert ist. Und so gerät man in die kindliche Vorstellung, dass diese Konflikte etwas Neues seien. Aber ich kann Sie beruhigen: Das war schon in der Steinzeit so.

Herr Biermann, letzte Frage: Was ist das eigentlich Politische in Ihren neuen Novellen?
Biermann: In den meisten dieser Novellen erkunde ich die Liebe einzelner Menschenexemplare zueinander und zugleich deren Verhältnis zur Menschheit. Das kann man auch Politik nennen, denn Politik im guten Sinne heißt ja, dass man eine Art Liebeserklärung an die Menschheit versucht. Deswegen mischt man sich ein in den Streit der Welt, sonst würde man sich ja wie ein Idiot fortstehlen ins Privatleben. Das Wort Idiot heißt im Griechischen, wie Sie wohl wissen werden, nicht Dummkopf, sondern Privatier: Einer, der sich zurückzieht von sozialen Verantwortlichkeiten.

[Das Interview entstand im März 2019.]

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