Blixa Bargeld

Ich bin mindestens in drei Risikogruppen.

Blixa Bargeld, Leadsänger und Texter der Einstürzenden Neubauten, spricht im Interview über Schulöffnungen in Zeiten von Corona, Hygiene-Demos, die Suche nach unverbrauchten Worten, das neue Album „Alles in Allem“ und was er gemeinsam mit Fans per Videokonferenz kocht.

Blixa Bargeld

© Mote Sinabel

Ich glaube nicht, dass etwas Wertvolles entstehen könnte, wenn es nicht in einer extremen Lebenssituation entsteht.“ Blixa Bargeld, dieser Satz stammt von Ihnen, aus dem Jahr 1983.
Blixa Bargeld: Ich weiß. Im Moment bin ich in der extremsten Lebenssituation, die ich je hatte.

Beweist die Corona-Krise, dass Sie damals recht hatten?
Bargeld: Moment! Das wäre ja eine falsche Schlussfolgerung. Ich habe gemeint, dass etwas künstlerisch Wertvolles nur aus einer extremem Situation entstehen kann. Nicht andersrum. In meiner Quarantänesituation ist bis jetzt noch nichts großes Künstlerisches entstanden.

Wie ist die Situation gerade für Sie und die Einstürzenden Neubauten?
Bargeld: Desaströs. Wir haben vor einem Jahr die „Phase IV“ begonnen, mit dem Ziel zu unserem 40jährigen Jubiläum ein neues Album herauszubringen. Das wurde über die Crowdfunding Plattform Patreon durch unsere Supporter finanziert. Der krönende Abschluss dieser Phase wären unter anderem drei Konzerte im April gewesen, eines davon in Potsdam und eins im Konzerthaus auf dem Gendarmenmarkt. Das wären spezielle Konzerte gewesen, nicht das, was wir auf der Tour machen wollen. 500 Supporter haben dafür Flüge gekauft und Hotels gebucht. Dass das nun nicht stattfinden konnte, ist schlimmer und bitterer als die Tatsache, dass die ganze Tour verschoben werden musste.

Zitiert

Plötzlich kommt einem Söder geradezu sympathisch vor.

Blixa Bargeld

Im Zuge der Digitalisierung wurde das Live-Geschäft für viele Musiker wieder zur Haupteinnahmequelle. Müssen nun auch die Einstürzenden Neubauten wieder mehr auf Tonträger und Medien setzen, um sich zu finanzieren?
Bargeld: Ja. Das ist auch das, was wir im Moment tun. Wir haben zur Zeit etwa 650, 700 Supporter. Und für die versuchen wir weiter, Content zu erzeugen, ein paar nützliche Sachen zu machen. Da der größte Teil dieser Supporter sich ja auch in irgendeinem Lockdown befindet, wird das auch dankend angenommen.

Ihre sogenannten Supporter sind die Mitglieder eines speziellen Fanclubs, der die laufende Arbeit der Einstürzenden Neubauten unterstützt. Für 5, 10 oder 25 Dollar im Monat kann man da Mitglied werden. Das heißt, an die Stelle einer Plattenfirma haben Sie ein Crowdfunding-Modell gesetzt?
Bargeld: Ja. Wir haben 2002 das Crowdfunding sozusagen erfunden. Da gab es den Begriff noch gar nicht. Damals haben etwa 2000 Supporter für eine einmalige Zahlung ein neues Album bekommen und konnten übers Internet am Entstehungsprozess des Albums teilhaben. Jetzt haben wir eine Art Mitgliedschaft. Man bezahlt monatlich für ein bestimmtes Level, das man sich aussucht und wir bieten dafür etwas entsprechendes an. Ich mache meinen „Quarantäne Video Blog“ und mein „Real Time Synchronkochen.“ Dafür schicke ich vorab das Rezept herum und koche dann synchron mit den Supportern.

Was wird da gekocht?
Bargeld: Meistens vegetarisch. Zuletzt gab es ein Blumenkohl Gratin à la Thomas Keller vom Restaurant The French Laundry, aber das ist nicht schwierig. Und dann: Wirsing mit getrockneten Aprikosen, Pecannüssen und Kümmel. Ein Gericht von Dennis Cotta aus Irland. Wir treffen uns dann online über Zoom und es sind so 50, 60, 100, die das mitmachen.

Ist die Internetanbindung in Berlin Prenzlauer Berg dafür ausreichend?
Bargeld: Wir haben neulich versucht, eine Listening Session durchzuführen. Wir wollten mit der ganzen Band über Zoom das neue Album anhören und das alles über Vimeo für die Supporter streamen. Es kamen an die 300 und uns ist komplett der Server zusammengebrochen. Deswegen haben wir das jetzt auf mehrere Sessions hintereinander verlagert.

Deutlicher als zuvor thematisiert „Alles in Allem“, das neue Album der Einstürzenden Neubauten, die Suchen nach einer neuen Sprache, nach Metaphern, die noch „nicht verbrannt sind“.
Bargeld: Das sehe ich als meine Hauptbeschäftigung. Das kann auch bedeuten, abgegriffene Metaphern in einen Kontext zu stellen, in dem sie vorher nicht waren, Unverbrauchtes in der Sprache zu suchen. Das ist so ein bisschen mein Hobby.

Das heißt, es gibt Momente, in denen auch Blixa Bargeld erstmal die Worte fehlen?
Bargeld: Ich habe schon vor zwanzig Jahren ein Kartensystem für die Neubauten entwickelt. Bei uns intern heißt das ‚Dave‘, benannt nach der Stimme des ersten Navigationssystems in meinem Auto. Das haben wir auch wieder ausgiebig auf dieser Platte verwendet, als Navigationshilfe. Für alle Neubauten-spezifischen Materialien, Personen und Instrumente gibt es eine Karte. Ich habe unter anderem zwei Karten gezogen mit den Begriffen „Wissenschaftlich“ und „Sample“.

Dann habe ich aus dem Netz in wissenschaftlichen Datenbanken Audiosamples zusammengesucht. Dabei war ein Track namens „Tuareg Lullaby 1947“ aus dem Musée de l’Homme, dem anthropologischen Museum in Paris. Und da kam plötzlich diese Stimme raus: (singt) „Belin, belin, belin.“

Dieses Sample ist jetzt in „Ten Grand Goldie“ zu hören und lässt diesen neuen Song wie eine Berlin-Hymne klingen.
Bargeld: Die Stimme sagt natürlich gar nicht „Berlin“, aber es war die Faust aufs Auge. Dann hatte ich noch eine Karte „Anrufe“. Ich habe dann die Supporter gefragt, wen ich anrufen kann, um bestimmte Worte zu „ernten“. Aus diesen Telefonnummern habe ich zwanzig per Zufallsgenerator ausgewählt, diese Supporter angerufen und zum einen nach einem Wort oder Begriff gefragt, den sie mit mir teilen wollen. Da kamen dann solche Sache wie „Kapit sa patalim“, was eine Filipina, die in Maryland lebt, mir angeboten hat. Das ist Tagalog und heißt soviel wie „Nah am Boden.“ Das beschreibt den sozialen Status, also ganz unten. Die zweite Frage war dann: Was hast du zuletzt jemand anderen sagen hören? Jemand sagte: Ich hab ’ne Kollegin, die heißt Goldie. Und jemand hat zu ihr gesagt „Ten Grand Goldie.“

Ten grand“ würde man wohl mit 10.000 Dollar oder Pfund übersetzten.
Bargeld: In dem Moment wusste ich: „Ten Grand Goldie“ ist ein fantastischer Titel. Und mit diesem ganzen Material habe ich dann gearbeitet. Zum Schluss gingen etwa 60-70% im fertigen Text entweder auf diese „Ernte“ zurück oder wurden unverändert tatsächlich so übernommen. Aber dieses Kartensystem ist nicht als aleatorisches Werkzeug gedacht. Es geht darum, Routinen zu verhindern. Es geht auch darum, die Logik zu sabotieren. Ich weiß, dass es ungeheuer schwierig ist, Nonsens zu schreiben. Wenn man das versucht, schleicht sich früher oder später doch wieder ein Sinn ein. Und genauso war das bei „Ten Grand Goldie.“ Ich habe mit diesem Material gespielt, es durch mich hindurchfließen lassen und irgendwann hatte ich den Eindruck: Es ist komisch, es kommt zwar alles aus komplett disparaten Quellen, aber ich hatte den Eindruck, es ist seltsam politisch. Die Kernaussage ist zwar nicht klar, oder ob es überhaupt eine Aussage gibt. Aber ich habe trotzdem nicht den Eindruck, es wäre Nonsens.

© Mote Sinabel

© Mote Sinabel

Die Kunst hat in Deutschland immer wieder nach neuen Sprachen im Kontext großer Krisen gesucht. Im Ersten Weltkrieg gab es die Expressionisten, nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich eine ganze Generation von Komponisten und Autoren auf die Suche nach einem neuen Vokabular begeben­. Bedeutete Routine für das System der Neubauten auch eine Krise, die entsprechend gelöst werden musste?
Bargeld: Ja. Sicherlich trägt dieses Kartensystem jetzt dazu dabei, die Dinge, mit denen man seit Jahrzehnten zu spielen gewohnt ist, anders zu betrachten und anders zu bedienen. Wenn man seit 40 Jahren mit einer verstärkten Bassfeder spielt, schleichen sich natürlich auch Routinen ein. Aber wenn die Aufforderung kommt, das jetzt anders zu machen oder ander zu interpretieren, dann kommt da eben auch was anderes bei raus. Die sprachliche Routine zu durchbrechen, das ist beinahe noch schwieriger, würde ich mal sagen. Ich bin natürlich immer glücklich, wenn ich irgendwelche Techniken, wie jetzt diese Worternte benutzen kann, die mich irgendwo ganz anders hinkatapultiert.

Sie benutzen auch Worte wie Übervaterlandverräter“ und „Mutterkornblumenblau“. Sind das auch Ideen der Supporter?
Bargeld: Da kam das Mutterkorn her. Übervaterlandverräter floß bei mir raus. „Hier kommen die Wüstentöchter und Schlangensöhne“ auch. Die „ganze Brecherfamilie“ kam wiederum von einem Supporter.

Hätte Angela Merkels Wortneuschöpfung „Öffnungsdiskussionsorgien“ auch bei Ihnen eine Chance gehabt?
Bargeld: (lacht) Tolle Sache, oder? Was seltsam ist, plötzlich kommt einem so eine Figur wie Söder geradezu sympathisch vor. Und Angela Merkel sagt lauter sinnvolle Sachen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das jemals denken oder sagen würde.

Was genau kommt Ihnen sinnvoll vor?
Bargeld: Dieser Wahn, jetzt hier die Schulen wieder aufzumachen, das kommt mir garantiert nicht sinnvoll vor. Ich bin mindestens in drei Risikogruppen. Ich bin hier mit meiner Frau und meiner Tochter. Wenn die jetzt wieder in die Schule geht, muss ich mir eine andere Wohnung suchen, wo ich allein in Quarantäne gehen kann.

Hat Blixa Bargeld Angst vor dem Tod?
Bargeld: Selbstverständlich. Aber viel mehr noch davor, in der Intensivmedizin an ’ner Pumpe zu liegen, das ist noch viel schlimmer.

Auf der anderen Seite steht das Wort „Öffnungsdiskussionsorgien“ auch dafür, dass Angela Merkel sich einige Wochen lang verbeten hat, über Lockerungen der Schutzmaßnahmen vor Corona auch nur zu reden. Was würde Rosa Luxemburg dazu sagen, die nicht zuletzt für den Satz „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ bekannt ist?
Bargeld: Dieses Zitat ist ja auch als Installation von Hans Haake am Rosa-Luxemburg-Platz, hier in Berlin eingelassen. Und direkt daneben treffen sich jetzt die Vollspinner vom ganz rechten Rand und auch von links und demonstrieren einmal in der Woche. Ich würde die nicht mit Rosa Luxemburg über einen Kamm scheren.

Die Organisatoren dieser Demonstration haben ihre Anliegen auch in einer Zeitung formuliert, die sie „Demokratischer Widerstand“ nennen. Bezeichnender Weise wird dort die Gefährlichkeit des Corona-Virus nur an Todesraten gemessen und etwa eine drohende Überlastung von Intensivstationen komplett ausgeblendet. Auch möglicherweise gerechtfertigte Kritik an den aktuellen Maßnahmen wird so diskreditiert.
Bargeld: Jemand hat gesagt: Solange man nicht die Leichenberge von Bergamo wirklich gesehen hat, glaubt das sowieso keiner. Man redet den Leuten ein, dass dieses neue Virus nicht schlimmer ist, als die Grippe. Dieser ganze Müll. Ich kenne keinen persönlich, der in der Intensivstation gelandet ist, aber ich kenne mehrere, die an Covid 19 erkrankt waren. Niemand von denen ist gestorben, aber die sind alle durch das Ding durch. Solange wir nicht an einem Punkt kommen, an dem jeder von uns irgendwelche Freunde und Bekannte hat, die auf der Intensivstation gelandet sind, wird das eben weiter runtergeredet. Dabei können wir eigentlich froh sein, wenn wir niemanden kennen, der auf die Intensivstation musste oder sogar daran gestorben ist.

Wie kam es aber nun dazu, dass Sie in Ihrem neuen Song „Am Landwehrkanal“ Rosa Luxemburg ein Denkmal gesetzt haben?
Bargeld: Das Lied ist im gewissen Sinne ein Verwandter unseres Songs „Let’s do it a Dada!“ In beiden Stücken bin ich eher so ein Geist, der durch die Geschichte schreitet. In dem einen Fall gebe ich Kurt Schwitters die Schere, mache ihm den Leim und so weiter, was ich natürlich real nie getan habe.

Der 1948 gestorbene Künstler Kurt Schwitters ist für seine Auseinandersetzung mit der Kunstbewegung Dadaismus bekannt.
Bargeld: Und ich begegne ihm da sozusagen als Geistesverwandter. Bei „Landwehrkanal“ sitze ich mit einer Rosa, die ja niemals genauer benannt wird, am Landwehrkanal. Ich kenne mehrere Rosas. Ich kenne sogar ein
en Rosa. Und auch die Ermordung Luxemburgs wird nie explizit genant. Die gibt es nur als Andeutung.

Sie singen, dass Sie „nicht im Eden-Hotel“ gewesen sind, wo Rosa Luxemburg 1919 verhört, schwer verletzt und dann vor dem Hotel erschossen wurde.
Bargeld: Ich bin halt dieser Geist. Ich war nicht dabei. Ich hatte die Akkordfolge zu diesem Lied und habe dieses „Am Landwehrkanal“ schon eine Weile in der Küche gesungen. Ich wusste aber nie, worum es geht. Ich dachte, ich muss dann wohl mal an den Landwehrkanal fahren, um mich inspirieren zu lassen. Und dann hat Jochen, Jochen Arbeit, gesagt: „Naja, Landwehrkanal, da haben sie Rosa Luxemburgs Leiche entsorgt.“ Wow! Das ist doch ein Ansatzpunkt! Der Text ging dann ganz schnell.

blixa-coverIhr neues Album ist noch vor der Corona-Pandemie entstanden. Aber das Wort „Corona“ haben Sie früher schon benutzt.
Bargeld: Ja, im Jahr 1999, in dem Lied „Sonnenbarke“, das dann ein Jahr später auf dem Album „Silence Is Sexy“ erschienen ist. Jetzt kann ich das nicht mehr singen.

Es hat sich als Wort verbraucht?
Bargeld: Es ist überschattet. (Lacht) Ursprünglich ist die Corona ja die Sonnenkrone. Jetzt müsste ich an der Stelle das Wort Krone benutzen oder so.

Wie stehen Sie eigentlich zum Thema staatliche Unterstützung für Künstler?
Bargeld: Also wir haben diesen Corona-Zuschuss für Soloselbstständige alle beantragt und alle bekommen. Für selbstständige freie Künstler ist die Lage gerade desaströs und so eine Unterstützung ist natürlich notwendig.

Würden Sie sagen, dass die Kunst oder Künstler systemrelevant sind?
Bargeld. Das weiß ich nicht. (Überlegt) Ja!

Zu Ihrem neuen Album erscheint nun auch ein Buch, in dem Faksimiles ihrer Songtextentwürfe zu finden sind. Mit Hilfe der Webseite Graphologies.de habe ich eine grobe Deutung Ihrer Handschrift unternommen. Zum Abschluss des Interviews würde ich Ihnen gerne ein paar Ergebnisse vorlesen und Sie um einen kurzen Kommentar bitten.
Bargeld: (Lacht) Bitte.

Da steht dann z.B: „Bargeld ist sehr stark um Gerechtigkeit bemüht.“
Bargeld: Aha. Glaub ich nicht.

Bargeld legt Wert auf eine Grunddistanz zu seinen Mitmenschen.“
Bargeld: Das kann sein, ja.

Manchmal wirkt seine Art mit der Umwelt umzugehen etwas theatralisch.“
Bargeld: Durchaus.

Und zuletzt: „Er besitzt eine gewisse Neigung zur Zufriedenheit, die auch zur Trägheit werden kann.“
Bargeld: Kann auch durchaus zutreffen. Aber allem voran hätte man erstmal sagen sollen: Ich bin Linkshänder. Diese Schrift ist nicht für mich gemacht, schon von der ersten Klasse an. Und von der zweiten Klasse an mussten wir mit Füller schreiben. Wissen Sie, wie das aussieht, wenn Linkshänder mit Füller schreiben? Grauenvoll.

[Das Interview entstand im April 2020.]

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