Herr Platzeck, im Zuge der Corona-Beschränkungen wurde im März die NATO-Übung „Defender 2020“ beendet. Eine gute Nachricht?
Platzeck: Ich bin immer froh, wenn Militärübungen beendet oder abgesagt werden. Worüber man sich nicht freuen kann, ist der Anlass. Corona ist für uns alle eine sehr große Prüfung, wahrscheinlich auch eine lang anhaltende mit offenem Ausgang. Jetzt werden sich auch gesellschaftliche Qualitäten beweisen oder eben nicht beweisen.
Was könnte am Ende dieser Krise stehen?
Platzeck: Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass diese Prüfung am Ende mit dem Ergebnis bestanden wird, dass wir unsere gesellschaftlichen Prioritäten, unsere Verhaltensweisen neu justieren. Vielleicht wird es dazu kommen, dass wir uns ein Stück mehr auf den Kern unseres menschlichen Daseins, nämlich das Miteinander besinnen.
Wo sollte die Politik in den nächsten Monaten genauer hinschauen?
Platzeck: Ich denke, wir müssen uns die gesundheitliche Versorgung genau anschauen und überlegen, ob die Prämissen, die die Entwicklungen im Gesundheitswesen in den letzten Jahren bestimmt haben – höchste Effektivität und geringste Kosten – in dieser Unbedingtheit für diesen essentiellen Bereich unseres Lebens wirklich der richtige Ansatz sind. Wir müssen uns auch anschauen, ob bei Produkten, die wir für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz brauchen – wie z.B. Desinfektionsmittel, Schutzkleidung oder Beatmungsgeräte – die Globalisierung der allein richtige Ratgeber ist. Oder ob man bestimmte Basics auch z.B. in den Grenzen der EU produzieren sollte, damit sie für den Fall der Fälle auch uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
Bill Gates sagte in seinem viel beachteten Ted-Talk von 2015, dass Staaten besser Pandemie- statt Kriegsübungen durchführen sollten. An welche Pandemie-Übungen erinnern Sie sich?
Platzeck: Die letzte Pandemie-Übung im Bundesmaßstab hat wohl 2007 stattgefunden. In Brandenburg haben wir durch die permanenten Hochwasserereignisse die Katastrophenschutzstrukturen deutlich ausgebaut und qualifiziert. Das hat uns z.B. 2019 bei den großen Waldbränden genutzt, da haben diese Strukturen gut funktioniert. Jedoch sind solche Naturkatastrophen etwas Anderes als gesundheitliche Katastrophen. Einem Hochwasser oder einem Waldbrand kann man als Mensch zur Not ausweichen, bei einer Pandemie ist das schwieriger, da lauert der Feind überall.
Ich denke, dass wir am Ende der Corona-Krise diese Strukturen überdenken und wahrscheinlich weiterentwickeln müssen. Pandemie-Übungen, genauso wie eine andere Lagerhaltung, werden zukünftig sicher eine größere Rolle im Instrumentarium der Politik spielen.
Wir haben in Russland keinen Wettbewerb politischer Ideen.
Ich erwähnte eingangs die Militärübung der NATO. Welche Gefahr stellt die NATO Ihrer Meinung nach aktuell für Russland dar?
Platzeck: In Deutschland empfinden wir die NATO ja als ein Werte- und Verteidigungsbündnis, mit allen Schwächen und Schwierigkeiten, siehe zum Beispiel in der Türkei. In Russland dagegen wird die NATO als Bedrohung wahrgenommen – und das muss kluge Politik meiner Meinung nach berücksichtigen.
Wie ist diese Wahrnehmung entstanden?
Platzeck: Als 1990 die Verhandlungen zur deutschen Einheit geführt wurden, die ja ohne Russland nicht möglich gewesen wäre, hat Gorbatschow dem Abzug von 500.000 sowjetischen Soldaten und Zivilangestellen aus Ostdeutschland bis 1994 zugestimmt. Diese Zustimmung gab er auch vor dem Hintergrund von mündlichen, nicht vertraglich festgehaltenen Aussagen von James Baker und Hans-Dietrich Genscher, die man so zusammenfassen kann: Habt keine Angst, über Ostdeutschland hinaus wird sich die NATO nicht ausdehnen. In diesem Glauben hat man das alles vollzogen, ohne die Nicht-Ausdehnung der NATO auf dem Papier zu regeln, was Gorbatschew bis heute in Russland vorgeworfen wird. Sein Argument ist, dass die Stimmung damals auf Frieden und Zusammenarbeit ausgerichtet war, weshalb man eine vertragliche Regelung nicht für notwendig hielt.
Die NATO wurde dann ab 1999 um mehrere osteuropäische Staaten erweitert…
Platzeck: Und jetzt kann man zu Russland sagen: ‚Was habt ihr Angst vor der NATO? Wir sind ein Verteidigungsbündnis.‘ – Das ist aber nicht hinreichend. Wenn jemand Angst hat, muss man damit umgehen, anstatt diese Angst wegzureden. Wenn wir – wie ich finde, zu Recht – verlangen, dass die Ängste der Balten und der Polen vor Russland ernst genommen und in Politik umgesetzt werden, dann sollten wir auf der anderen Seite respektieren, dass auf russischer Seite erhebliche Bedenken und Ängste davor bestehen, dass die NATO-Truppen praktisch bis an die russische Grenze herangerückt sind.
Man kann einfach nur dafür plädieren, dass hier beide Seiten, ehe es irgendwann zu einer Eskalation kommt, einmal einen Schritt zurückgehen.
Wie könnte dieser „Schritt zurück“ aussehen?
Platzeck: Von den Russen erwarte ich, dass sie beginnen, gegenüber ihren direkten Nachbarn, die auch aus historischen Gründen Ängste entwickelt haben, Vertrauensarbeit leisten. Das ist ein langer, schwieriger Prozess, den man auf gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Ebene führen muss, bis langsam ein Vertrauen wächst und Ängste reduziert werden.
Und von uns würde ich mir wünschen, dass man, auch nach Corona und wissend, dass wir am Ende aufeinander angewiesen sind, endlich beginnt, über eine Sicherheitsarchitektur nachzudenken, die Russland auf Augenhöhe mit einbezieht.
Sie sprechen von möglicher Eskalation – wie könnte diese aussehen?
Platzeck: Wir haben ja beim Ausbrechen des Ersten Weltkriegs gelernt, dass ein Kriegsauslöser – damals die Ermordung des Erzherzogs auf dem Balkan – nicht zwingend dort stattfindet, wo dann das eigentliche Hauptkampffeld liegt.
Das bedeutet: Ein Konflikt könnte sich heute auch z.B. in der hochgespannten Situation in Syrien oder auch in Libyen entzünden, wo sich u.a. die Türkei und Russland gegenüberstehen. So etwas kann zum Flächenbrand werden und sich bis nach Europa ausdehnen.
Um einen weiteren Punkt zu benennen: Nach Aussagen von Sicherheitspolitikern gibt es heute mehrmals am Tag über bzw. auf der Ostsee oder dem Schwarzen Meer Begegnungen von Flugzeugen und Schiffen auf Sichtweite, in einer gefährlichen Konstellation. In einer entspannten Situation sind solche Begegnungen vielleicht nicht dramatisch, in einer gespannten Lage und mit digital geführten Waffen jedoch können auch solche Zündfunken zur Explosion führen.
Sind diese Bedrohungslagen ein Grund für Ihr Buch „Wir brauchen eine neue Ostpolitik“ gewesen?
Platzeck: Für mein Buch gibt es im wesentlichen zwei Gründe: Das eine ist ein Lehrsatz von Egon Bahr, von dem ich gerade in seinem letzten Lebensjahrzehnt viel lernen durfte. Wir waren u.a. gemeinsam in Moskau und haben Michail Gorbatschow besucht. Bahr sagte: „Es wird in Europa Sicherheit nur mit und nicht gegen Russland geben.“ Wenn man diesen Satz ernst nimmt, muss man sich um Russland bemühen. Immanuel Kant hat gesagt: „Frieden muss gestiftet werden, der kommt nicht von alleine.“
Der zweite Grund ist ein Aspekt, der sich für mich immer mehr herausschält, und zwar geopolitischer Natur. Wenn man sich die Entwicklung der Welt seit 1990 anschaut, stellt man fest, dass sich zwei Pole formieren: auf der einen Seite der ostasiatische Raum mit China, Japan, Korea und Vietnam als zukünftiger Wirtschafts-Champion und auf der anderen Seite der Pol mit USA, Kanada und Mexiko, der militärisch sehr stark ist und die Finanzwirtschaft bestimmt.
Es geht also auch um die Frage, wie Europa sich zwischen diesen Polen behauptet?
Platzeck: Wenn Egon Bahr sagt, dass Politik ausschließlich aus Interessen besteht, müssen wir uns fragen: Was ist unser europäisches Interesse? Ich bin der Meinung, dass wir in dieser globalen Konstellation nur dann eine Chance haben, wirtschaftlich, politisch aber auch militärisch zu bestehen, wenn wir uns Russland in irgendeiner Form als Partner binden.
In den letzten Jahren haben wir Russland immer weiter in Richtung China gedrängt. Wenn dieser Prozess noch 10 oder 15 Jahre anhält, gehört Russland irgendwann zum erstgenannten Block. Europa steht dann ohne Partner da – und völlig ohne Rohstoffe. Wir haben ja so gut wie nichts in der Erde liegen. Damit meine ich nicht nur Öl und Gas, sondern zum Beispiel seltene Erden und Metalle, die wir benötigen um Wind- und Sonnen-Energie zu nutzen und eine Hightech-Industrie aufzubauen.
Das heißt: Wenn wir uns nicht mit Russland auf eine vernünftige Partnerschaft – mehr muss es ja gar nicht sein – verständigen, wird Europa in diesem Zukunftskonzert die fünfte Geige spielen. Das wird dem Kontinent nicht gut bekommen. – Das ist nüchtern, das ist reine Realpolitik, aber die sollte man nicht vernachlässigen.
Sie sind Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums e.V. Wie steht das Forum zur jüngsten Verfassungsänderung in Russland, die Präsident Putin ermöglicht, bis 2036 im Amt zu bleiben? Begrüßt das Forum diese Verfassungsänderung?
Platzeck: Das deutsch-russische Forum ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, in der viele verschiedene Menschen Mitglied sind, von Aktiven, die sich um Städtepartnerschaften kümmern, über Kultur- und Wirtschaftsvertreter bis hin zu Vertretern der Wissenschaft. Und im Forum gibt es ein breites Meinungsspektrum von links bis konservativ, weshalb auch viel diskutiert wird. Deswegen gibt es auch keine einheitlichen Stellungnahmen.
Was uns natürlich eint, bei allen kritischen oder liebevollen Sichten auf Russland, ist der Wunsch, ein besseres Verhältnis zu Russland zu erreichen.
Was denken Sie persönlich über die Verfassungsänderung?
Platzeck: Ich glaube, dass in diese Verfassungsänderung vielleicht zu viel hineingelesen wird. Man muss wissen, dass die Verlängerungsoption zunächst gar nicht in dem Verfassungspaket vorgesehen war. Putin hat dann vermutlich auf den Umstand reagiert, dass Staatschefs zum Ende ihrer Regierungszeit oft als ‚lame duck‘ wahrgenommen werden, was bestimmte Mechanismen hervorruft. Um das zu verhindern, kam der Vorschlag der Duma, dass er theoretisch nochmal antreten könnte. So kann Putin signalisieren: Es ist möglich, dass ich nochmal wieder komme. Der Verweis auf diese Option ermöglicht ihm, dass er sich bis 2024 durchsetzen kann. Dass er die Option dann am Ende auch zieht, bezweifle ich aber – es wird sehr von der Situation abhängen.
In Deutschland überwiegen die Stimmen, dass die Verfassungsänderung Putins Machterhalt dient. Sie sehen das nicht so?
Platzeck: Meine Einschätzung hat auch mit Machterhalt zu tun, mit der Durchsetzungsfähigkeit bis zum Ende seiner Amtszeit 2024. Wenn aber Medien jetzt schreiben, sie wissen wie die Welt 2025 aussieht, halte ich das für Spökenkiekerei – das weiß keiner von uns.
Leider nehme ich insgesamt wahr, dass die deutsche Berichterstattung über Russland relativ eingleisig geworden ist. Wir haben uns angewöhnt, im Blick auf Russland sehr wenig zu differenzieren, wodurch ein Bild eines monolithischen Blocks entstanden ist, wo alle die Meinung des Präsidenten Putin haben.
Mein Eindruck vor Ort ist anders. Ich war vor der Corona-Ausbreitung in Russland, habe dort mit verschiedenen Leuten über die Verfassung diskutiert, u.a. mit der stellvertretenden Vorsitzenden der dazu eingesetzten Kommission. Da merkt man, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Natürlich nicht so wie in Deutschland, in einem ausgefeilten, parlamentarischen Demokratie-System. Dennoch werden Dinge unterschiedlich diskutiert und bewertet, es gibt verschiedene Fraktionen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Platzeck: Ich sehe im Moment zum Beispiel die eine Denkrichtung, die auch in der Duma versucht, soziale Fragen in den Mittelpunkt zu rücken, sprich gesundheitliche Versorgung, Bildung, Rente. Und dann gibt es die andere, eher konservative Richtung, die sagt: Wir müssen Russland deutlich nationaler, auch ein Stück weit anti-westlicher ausrichten, militärisch stark sein und unseren Weltmachtstatus behaupten. Wenn Sie mit Leuten aus diesen Lagern diskutieren, spüren Sie, dass die sich keinen Maulkorb umhängen lassen. Darüber wird hierzulande aber kaum berichtet.
Noch ein anderes Erlebnis: Als wir mit einer Arbeitsgruppe des Petersburger Dialogs eine Diskussion in Tambow veranstaltet haben, hat uns der Bürgermeister als erstes gefragt, ob die Diskussion live im Regionalfernsehen übertragen werden kann. Darüber haben manche in der deutschen Delegation gestaunt, weil man eigentlich vermutet, in Russland würde alles zensiert.
Russland ist kein demokratisches sondern ein autokratisches Land, ich würde nie etwas Anderes behaupten. Doch es ist in Bewegung, wir erleben Debatten, auch Demonstrationen z.B. für Umwelt, gegen Mülldeponien, gegen schlechte Verhältnisse im Gesundheitswesen. Diese Demonstrationen finden statt, auch außerhalb Moskaus. Es ist kein Land, wo Grabes- und Totenstille herrscht.
Wann und wie häufig haben Sie Wladimir Putin persönlich sprechen können?
Platzeck: Gar nicht. Ich habe ihn nur bei Veranstaltungen erlebt. Ich kenne aber einige Leute aus seinem Umfeld und habe z.B. häufiger mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow zu tun, der genau wie der deutsche Außenminister Schirmherr unserer Konferenzreihe „Potsdamer Begegnungen“ ist.
Wenn wir einerseits sehen, dass Putin das Land im Grunde seit 20 Jahren führt – und andererseits Politik als Wettbewerb politischer Ideen betrachten: Wie stehen Sie dazu, auch als ehemaliger Umweltminister, dass es in der russischen Politik keine grüne Bewegung gibt?
Platzeck: Ich hoffe, da wird sich jetzt etwas tun. Wir haben immerhin im Petersburger Dialog eine Arbeitsgruppe Umwelt.
Aber eine Umweltbewegung oder eine Partei wie hierzulande Bündnis90/Die Grünen?
Platzeck: Nein, davon kann man in Russland noch nicht sprechen. Dennoch nehme ich wahr, dass Umweltschutz eine wachsende Rolle spielt. Zuletzt konnte man das beobachten, als es massive Widerstände der Bevölkerung gab, als Moskau einen Teil seines Müllproblems mit dem Bau einer Mülldeponie in der Provinz lösen wollte. Dieses Vorhaben wurde aufgrund der Proteste gestoppt. Auch hat die Phase der großen Waldbrände 2010 dazu beigetragen, dass Menschen in Umweltfragen aktiv geworden sind.
Das zeigt doch, dass da etwas entsteht. Es dauert aber und ich finde, wir können, nach 75 Jahren demokratischer und wirtschaftlich hervorragender Entwicklung in Deutschland, nicht die eigenen Maßstäbe anlegen an ein Land, dass eigentlich erst in den letzten Jahren beginnt sich zu formieren, nach Jahrhunderten Zarenherrschaft und kommunistischer Diktatur. Denn das ist eine völlig andere Voraussetzung.
Aber zurück zur Frage: Hat die lange Amtszeit Putins in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Wettbewerb der politischen Ideen blockiert?
Platzeck: Natürlich haben wir in Russland keinen Wettbewerb politischer Ideen, die durch Parteien getragen werden, wie in Deutschland oder Frankreich, das ist völlig klar. Aber er entsteht, die Zivilgesellschaft beginnt lebendiger zu werden. Das sollte Deutschland wahrnehmen, daran anknüpfen und unterstützend wirken, wo es gewünscht ist. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger „wir wissen es besser und zeigen euch mal, wie es geht“, sondern mit dem nötigen Respekt.
Deshalb engagiere ich mich ja für den zivilgesellschaftlichen Austausch. Deshalb wünsche ich mir so sehr, dass wenigstens die Visa-Pflicht für bis zu 25-Jährige endlich wegfällt. Diese lästige Visa-Pflicht behindert uns bei allen zivilgesellschaftlichen Bemühungen. Sie ist teuer, umständlich und sie erschwert, dass junge Menschen zusammenzukommen.
Tatsächlich war das visafreie Reisen schon in greifbarer Nähe, bis zur Eskalation des Ukraine-Konflikts 2014. Sie plädieren in Ihrem Buch dafür, die Krim-Frage vorübergehend in eine Kiste zu packen und beiseite zu stellen – um unabhängig davon bei Fragen des Dialogs, der Sanktionen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit weiterzukommen. Nun sind Sie selbst in der DDR groß geworden, wo Pressefreiheit nicht wirklich existierte. Sollte man das Thema Pressefreiheit ebenfalls in so eine Kiste packen?
Platzeck: Ich würde Grundrechte nie in die Ecke stellen wollen. Sondern ich lasse mich davon leiten: Was ist für das Leben erst mal wichtig? Was ist für den Erhalt des Friedens wichtig? Was ist für die Bürger in den unterschiedlichen Ländern wichtig?
Die Kanzlerin sagte vor ihrer letzten Moskau-Reise im Januar 2020, dass inzwischen keines der für uns relevanten Themen auf dieser Welt – ob Klimawandel, Abrüstung, Terrorbekämpfung, Flüchtlingsbewegung oder Friedenssicherung im Nahen und Mittleren Osten – mehr ohne Russland zu lösen ist. Wenn man das konstatiert, muss man fragen dürfen: Wie machen wir es dann mit Russland?
Man könnte jetzt sagen: ‚Ehe ihr nicht Pressefreiheit und ehe ihr nicht ein komplett demokratisches Parteiensystem und wirklich freie Wahlen habt, reden wir nicht mit euch.‘ Dann bleiben eben all die genannten Probleme liegen.
Was ist die Alternative?
Platzeck: Aus der Geschichte zu lernen. Wir können uns anschauen, wie mutig und weitsichtig Egon Bahr und Willy Brandt waren. Als 1968 der Warschauer Pakt den Prager Frühling brutal niedergeschlagen hat, wo es alle Anlässe gegeben hätte, massiv mit Sanktionen zu antworten, haben Bahr und Brandt das Gegenteil gemacht. Nur Wochen später haben sie die Hand ausgestreckt und 1969 den Grundlagenvertrag ausgehandelt – mit einer Diktatur, die mit dem heutigen Russland unvergleichbar ist.
Heute kann man in Russland wenigstens ein paar Zeitungen lesen, die noch frei sind, es gibt auch einige private Fernsehsender. Unter Breschnew gab es Straf- und Arbeitslager, Menschen- und Bürgerrechte nicht mal im Ansatz. Trotzdem haben wir aus Erwägungen wie Sicherheits- und Abrüstungsfragen gesagt: Es ist unser Nachbar, wir müssen uns mit ihm verständigen. Man hat einen Vertrag abgeschlossen, ein Miteinander gefunden und gemeinsame Interessen formuliert. Wenn das angesichts der damals viel schlechteren Situation in Russland gegangen ist, dann müsste es doch heute wirklich möglich sein!
Sie sehen eine positive Entwicklung, Reporter ohne Grenzen hingegen weist darauf hin, dass „seit den Massenprotesten 2011/12 gegen Präsident Putin die Regierung die Zensur auch im Internet massiv verschärft“ hat.
Platzeck: Das ist wohl leider so, aber das Leben hat ja viele Facetten und besteht nicht nur aus Journalismus.
Nein, aber ich bin Journalist und fühle mich durch diese Position angesprochen.
Platzeck: Ich würde als Letzter sagen, dass ein Journalist nicht völlig frei arbeiten soll. Mein Punkt ist, dass wir es damals vermocht haben, mit Politikern zu reden, die wahrscheinlich das Wort „Menschenrechte“ nicht mal schreiben konnten. Ja, es gibt heute Verhaftungen wie die von Herrn Nawalny, aber er wird dann wieder freigelassen und kann auf öffentlichen Plätzen reden, das wäre unter Breschnew undenkbar gewesen.
Ich kenne durch den Petersburger Dialog einen russischen Greenpeace-Vertreter: Der ist früher verhaftet worden, heute sitzt er mit Regierungsfunktionären am Tisch. Die Russen haben auch ein Justiz-System aufgebaut – das ist nach unseren Maßstäben wahrlich nicht perfekt, aber doch völlig anders als vor 1989. Diese positiven Entwicklungen müssen wir doch wenigstens mal wahrnehmen
Doch was die Pressefreiheit anbelangt sprechen Organisationen wie Reporter ohne Grenzen von einer Rück-Entwicklung. Nehmen Sie diese auch wahr?
Platzeck: Natürlich nehme ich das wahr. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen finden immer in Wellen statt – und nicht linear. Das bedeutet, dass es in der Entwicklung immer auch Rückschläge geben kann. Ich beobachte ja selbst, dass die Stimmung in Russland in den letzten Jahren nationalistischer geworden und das Sicherheitsbedürfnis nach innen deutlich gewachsen ist. Dadurch kommt es zu solchen Auswüchsen, wodurch die Zivilgesellschaft beschnitten wird.
Gleichzeitig frage ich mich in diesem Zusammenhang: Haben denn die seit fünf Jahren andauernden Russland-Sanktionen zu irgendeiner positiven Entwicklung geführt? – Nein, die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse sind schlechter und die militärische Lage gefährlicher geworden. Die Stimmung in Russland wird nationalistischer und in der Krim-Frage hat sich auch nichts verbessert. Wenn man sich diese Bilanz anschaut, muss man sich doch fragen, ob das der richtige Weg ist! Wollen wir das noch weitere fünf Jahre so machen, um dann vor einem irreparablen Scherbenhaufen zu stehen? Oder wollen wir eher mit der Willy Brandtschen Denkweise herangehen, der gesagt hat: Es gibt Situationen in der Politik, wo man sein Herz über die Hürde werfen muss.
Im Buch werfen Sie der Bundesregierung doppelte Standards vor, man würde den Umgang mit Homosexuellen in Russland kritisieren, jedoch nicht in Saudi-Arabien. Ist es notwendig, unsere Anforderungen an Demokratie und Menschenrechte in Bezug auf Russland runterzuschrauben anstatt sie gegenüber China und Saudi-Arabien hochzuschrauben?
Platzeck: Dass mit unterschiedlichen Maßstäben hantiert wird, sehen wir nicht nur an China und Saudi-Arabien, das kann man auch am Beispiel Türkei festmachen: Dort sitzen mehr Journalisten in Haft als in Russland in den letzten 20 Jahren in Haft gesessen haben. Aber die Türkei ist unser NATO-Partner und wir brauchen die Türkei dringend in der Flüchtlingsfrage. Oder nehmen wir Ungarn: Viktor Orbán hat einen anti-jüdischen und anti-europäischen Wahlkampf gemacht, die Medien auf Linie gebracht, Oppositionsparteien so gut wie überhaupt nicht atmen lassen. Trotzdem ist Ungarn nach wie vor EU-Mitglied. Das ist Realpolitik. Staatliche Interessen, das hat schon Egon Bahr gesagt, werden immer obsiegen über alle anderen Triebkräfte wie zum Beispiel Werte. Das ist in der Politik ein Naturgesetz – und ich kann das nach vielen Jahren in der Politik durchaus nachvollziehen.
Also die gleichen realpolitischen Maßstäbe für alle?
Platzeck: Ich denke, wir sollten nicht an der einen Stelle so tun, als würde es uns nur um die Werte gehen, weshalb wir Russland jeden Tag auf den Kopf hauen – und an anderer Stelle, siehe Türkei oder Saudi-Arabien, über Missstände hinwegsehen nach dem Motto „ist leider nicht schön, aber so ist es halt“.
Und weil in der EU realpolitisch gedacht wird, ist Ungarn nach wie vor EU-Mitglied?
Platzeck: Dazu sehe ich keine Alternative. Wenn wir in der aktuellen Situation anfangen würden, EU-Mitglieder auszuschließen, könnte das der Anfang vom Ende sein.
Und wenn man die EU nach demokratischen Werten ausrichten würde, nach Einhaltung der Menschenrechte, Stärkung der Zivilgesellschaft…
Platzeck: … dann wäre die EU schon kleiner.
Wie bewerten Sie aktuell die Rolle Russlands im Syrien-Konflikt?
Platzeck: Putin ist ja erst spät in Syrien eingestiegen, zu Beginn der Auseinandersetzung war Russland nicht dabei. Und er ist, unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten, legitim auf dem Staatsgelände Syriens, im Gegensatz zu den USA und der Türkei, die keine ‚Einladung‘ haben.
Ich denke, Putins Interesse besteht vor allem darin, dass die syrische Staatlichkeit erhalten bleibt. Er hat immer wieder auf den Zerfall anderer Staaten hingewiesen, auf den Irak, wo nach dem völkerrechtswidrigen Überfall durch die USA Hunderttausende Menschen gestorben sind, oder auf Libyen, wo sich das Staatswesen völlig aufgelöst und der Terrorismus zugenommen hat. An diesen Krisen war Russland nicht beteiligt, doch da fehlt uns hierzulande oft die Vehemenz in der Verurteilung.
Putin hat deutlich gemacht: Wenn sich jetzt der nächste Staat auflöst, will er nicht mehr tatenlos zugucken. Deshalb hat er sehr stark in Syrien eingegriffen. Mit der Konsequenz, dass dieser Konflikt nun ohne Russland nicht mehr beigelegt werden kann.
Sie erwähnten vorhin Verhaftungen von Alexei Nawalny, im Buch sparen Sie die jedoch aus. Auch eine Name wie Boris Nemzow taucht nicht auf, oder der Umstand, dass die großen Demonstrationen zur Moskauer Duma-Wahl 2019 von den russischen Medien nahezu totgeschwiegen wurden. Warum?
Platzeck: Prinzipiell bin ich mit diesen Dingen genauso unzufrieden und unglücklich, wie viele andere Menschen auch, das steht außer Frage. Ich lasse mir aber gerne vorwerfen, dass mein Buch einen Tick zu russlandfreundlich ist, mit dem Vorwurf kann ich gut leben.
Denn wer sich in Deutschland kritisch über Russland informieren will, kann das problemlos tun, da gibt es überhaupt keine Marktlücke. Man findet diese kritische Betrachtung in jeder Nachrichtensendung, in fast jeder Tageszeitung und in unzähligen Büchern.
Insofern muss ich kein Buch schreiben, dass all diese Dinge nochmal aufzählt. Sondern ich habe ganz bewusst versucht, ein paar andere Aspekte in die Debatte einzubringen.
Zum Schluss: Beim Ausbruch des Corona-Virus hat die Bundesregierung gezeigt, dass sie schnell umfassende Maßnahmen ergreifen kann. Glauben Sie, dass man in Zukunft auch beim Problem des Klimawandels so entschlossen handeln wird?
Platzeck: Ich weiß nicht, ob sich die Corona-Maßnahmen eins zu eins auf die Klimapolitik übertragen lassen. Das Virus hat eben ganz unmittelbare Auswirkungen, die man sofort sieht und spürt, während der Klimawandel für die meisten Menschen nur sehr schleichend spürbar wird.
Aber ich bin durchaus Optimist und halte es schon für möglich, dass man in Zukunft auch im Kampf gegen den Klimawandel intensiver und schlagkräftiger vorgehen wird. Das könnte tatsächlich eine der Lehren aus der Corona-Zeit sein.
[Das Interview entstand im März 2020.]