(Das folgende Interview wurde war für 3 Monate anonymisiert. Ein paar Anmerkungen dazu stehen hier.)
Herr Meyen, seit wann gibt es die Methode, jemanden durch einen Kontaktvorwurf für schuldig zu erklären?
Michael Meyen: Das Kontaktschuld-Prinzip ist so alt wie der politische Kampf selbst. Wir kennen es aus den USA, wo es in der McCarthy-Zeit gegen Menschen angewendet wurde, die angeblich dem Kommunismus nahestanden. Ähnlich war es dann mit dem Radikalenerlass in Deutschland, der vor allem auf das linke Spektrum zielte, auf Menschen, die mutmaßlich mit Osteuropa oder mit dem Kommunismus sympathisierten. In der Weimarer Republik ging es um Frankreich oder um die Alliierten, die im Krieg gegen Deutschland gekämpft hatten. Wenn Sie einen politischen Gegner ausschalten wollten, haben Sie ihm damals am besten Beziehungen zu den Gegnern von einst unterstellt. Ein klassischer Kontaktschuldvorwurf.
Könnten Sie das Grundprinzip der Kontaktschuld kurz skizzieren?
Meyen: Im ersten Schritt identifiziere ich etwas als Gegner. Eine Person, eine Meinung, eine Partei, eine Ideologie. Und im zweiten Schritt ordne ich eine Person diesem gegnerischen Lager zu, mit dem Ziel, dass diese Person, egal was sie sagt, delegitimiert ist.
Sehen Sie diese Vorgehensweise problematisch?
Meyen: Klar, das ist ein Problem. Ich gehe davon aus, dass wir als Gesellschaft nur dann Frieden haben werden, wenn wir es schaffen, unsere gegensätzlichen Meinungen und Interessen auszudiskutieren. Wenn wir nicht aushalten und akzeptieren können, dass es andere Meinungen und Interessen gibt, geraten wir in Konfliktfelder, die wir nicht haben wollen.
Und der Kontaktschuld-Vorwurf kann dazu führen, dass Meinungen gar nicht erst ausgetauscht werden?
Meyen: Richtig. Es gab zum Beispiel 2018 eine Veranstaltung der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA) in Kassel, bei der über Meinungsvielfalt und Pluralismus in der deutschen Öffentlichkeit debattiert werden sollte. Es wurden Vertreter von alternativen Plattformen eingeladen, Jens Berger, Albrecht Müller, Jens Wernicke, Paul Schreyer, Maren Müller, Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam. Gleichzeitig hatte man Journalisten von etablierten Medien eingeladen, vom Tagesspiegel, der SZ usw. – doch von denen kamen nur zwei: Max Uthoff von „Die Anstalt“ und der taz-Journalist Andreas Zumach. Alle anderen haben abgesagt, obwohl sie zum Teil schon im Programmheft standen. Begründet wurde das mit dem Argument Kontaktschuld: Wenn Sie an einer Veranstaltung teilnehmen, wo auch Albrecht Müller, Maren Müller oder Jens Wernicke auftreten, dann sind Sie im öffentlichen Diskurs nicht mehr satisfaktionsfähig. Das Gespräch zwischen Medienkritikern und etablierten Journalisten kam so gar nicht erst zustande, weil die eine Seite aus Kontaktschuld-Angst nicht da war.
Mit dem Kontaktschuld-Vorwurf werden Sie ausgeschlossen aus dem Kreis der legitimen Sprecher, weil man sofort sagen kann: Sie haben Kontakt zu einer Person oder zu einer Position, die zum Gegner erklärt worden ist.
Sie erwähnten eingangs den Radikalenerlass. Dieser führte in Deutschland ab 1972 dazu, dass Menschen von ihrer Arbeit im öffentlichen Dienst suspendiert wurden …
Meyen: Um dort das Problem Kontaktschuld zu erkennen, muss man schon sehr genau hinschauen. An der Oberfläche ging es ja um Mitgliedschaften, meist in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Wenn der Gesetzgeber das als unvereinbar mit dem Grundgesetz ansieht, dann liegt das auf einer anderen Ebene als der Kontaktschuldvorwurf, mit dem Sie ja schon nur deshalb delegitimiert werden können, weil Sie bestimmte Personen getroffen haben oder weil Ihnen vorgeworfen wird, eine bestimmte Weltanschauung zu teilen. Das konnte damals passieren, wenn Sie im Verdacht standen, in einer Organisation zu sein, die mit der DKP in Verbindung stand oder gar aus der DDR, von der SED finanziert wird. Manchmal hat es gereicht, in einer Organisation mitzuarbeiten, in der auch Kommunisten aktiv waren, wie z.B. im Sozialistischen Hochschulbund, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) oder der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ). Da sind wir dann wieder bei der Kontaktschuld. Überprüft wurden bis 1991 rund 3,5 Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst. Abgelehnt oder entlassen wurden etwa 1200.
Spielte der Radikalenerlass nur an Hochschulen eine Rolle?
Meyen: Nein, das konnte auch einen Briefträger oder einen Feuerwehrmann treffen. Jeder, der im öffentlichen Dienst arbeitete, konnte in den Verdacht geraten, mit Kommunisten verbandelt und damit ein Verfassungsfeind zu sein. Ein prominenter Fall war der Soziologe Horst Holzer, der von der DKP auch als Musterprozess aufgebaut wurde. Allerdings verlor Holzer in letzter Instanz und wurde nach sechs Jahren Verfahren 1980 aus dem öffentlichen Dienst entlassen.
Wie bewerten Sie die Folgen des Radikalenerlasses?
Meyen: Der Radikalenerlass hat den akademischen Diskurs verengt. Er hat dazu geführt, dass materialistische oder marxistische Ansätze im sozialwissenschaftlichen Kanon marginalisiert oder ganz entsorgt worden sind. Der Radikalenerlass ist von jungen Forschern auch als Signal verstanden worden. Sie haben sich gedacht: Wenn ich mich diesen Ansätzen widme, werde ich eines Tages Probleme bekommen. Ich sollte mich lieber mit anderen Dingen beschäftigen, wenn ich eine Karriere im öffentlichen Dienst anstrebe.
Könnte man nicht sagen, dass der Radikalenerlass die positive Folge hatte, dass weniger „Verfassungsfeinde“ in den akademischen Betrieb gelangten?
Meyen: Vermutlich ist das die Intention gewesen. Doch ob eine Organisation wirklich verfassungsfeindlich ist, ist ein sehr streitbarer Punkt. Der bayerische Verfassungsschutz zum Beispiel beobachtet die VVN, weil sie Kapitalismus und Faschismus verlinkt. Das Argument ist: Die kapitalistische Gesellschaftsordnung hat schon einmal Faschismus hervorgebracht. Also kann das auch wieder geschehen. Das wird als Problem gesehen.
Die Frage ist ja: Warum sollte ein Feind der Verfassung auf den Gedanken kommen, im öffentlichen Dienst arbeiten zu wollen? Das wäre ein Widerspruch. Wenn ich für den Staat etwas tun möchte, bin ich ja kein Verfassungsfeind, sondern möchte diese Ordnung unterstützen. Und dass es Leute gibt, die denken, sie könnten das System unterwandern, halte ich für ausgeschlossen. Man kann beim Radikalenerlass übrigens anhand von Zahlen zeigen, dass es de facto um Linke ging. Zwischen 1973 und 1980 hat das in Bayern aus diesem Spektrum 102 Menschen betroffen. Aus dem rechten Lager waren es genau zwei.
Kontaktschuld-Vorwürfe tauchen heute vor allem bei Debatten im Netz häufig auf. Was bewirkt der Vorwurf?
Meyen: Der Kontaktschuld-Vorwurf bewirkt, dass Sie einen Menschen in die Isolation treiben und ihn in jeder Debatte unmöglich machen. Mit dem Kontaktschuld-Vorwurf ist man als Person nicht mehr satisfaktionsfähiger Teil irgendeines Diskurses.
Besonders auf Twitter sind Kontaktschuld-Vorwürfe an der Tagesordnung …
Meyen: Das ist verständlich, da Twitter nur wenige Zeichen erlaubt. Damit wird es schwer, sich mit Argumenten zu Wort zu melden bzw. sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Eine Kontaktschuld herzustellen, sprich jemanden einem bestimmten Lager zuzuordnen und ihn damit zu diskreditieren, das ist auf Twitter schnell gemacht. Für gut und böse braucht es nicht viele Zeichen.
Wie kann ich mich dagegen zur Wehr setzen?
Meyen: Das ist schwierig. Nehmen wir das Beispiel Reinhold Beckmann, der vor etwas mehr als einem Jahr auf dem 65. Geburtstag von Matthias Matussek war, bei einem alten Freund. Auf der Party waren aber auch Menschen, die der AfD nahestehen, die für die Junge Freiheit arbeiten oder zur Identitären Bewegung gehören. Am nächsten Tag hat Beckmann sich öffentlich von sich selbst distanziert. Dies war für ihn offenbar der einzige Weg, seine Reputation zu retten.
Es braucht also eine öffentliche Distanzierung?
Meyen: Mit dem Kontaktschuld-Vorwurf werden Sie ausgeschlossen aus dem Kreis der legitimen Sprecher, weil man sofort sagen kann: Sie haben Kontakt zu einer Person oder zu einer Position, die zum Gegner erklärt worden ist. Damit ist jedes Ihrer Argumente wertlos. Wenn Sie wieder Teil des Diskurses werden wollen, als legitimer Sprecher, dann scheint es diesen öffentlichen Kotau zu brauchen. Bei Reinhold Beckmann hat das funktioniert, er ist nach wie vor Teil des öffentlichen Diskurses, sein Besuch bei Matussek scheint vergeben und vergessen. Er hat es mit dem Kotau geschafft, wieder legitimer Sprecher zu sein.
Ergibt das Arbeiten mit Kontaktschuld-Vorwürfen Sinn für eine gesellschaftliche Debatte?
Meyen: Es kommt drauf an, ob Sie eine Debatte wollen, die an Erkenntnisgewinn orientiert ist und an einem Ausgleich der Interessen. Und es kommt, wie so oft, auf Ihre Vorstellung von der Gesellschaft und auf Ihr Menschenbild an.
Bitte erklären Sie das genauer.
Meyen: Nach meiner Vorstellung gibt es in unserer Gesellschaft sehr viele unterschiedliche Meinungen und Interessen, zum Teil auch gegensätzliche, nicht miteinander vereinbare, die aber prinzipiell gleichberechtigt sind. Das sind Interessen von Einzelpersonen oder solche, die in Parteien, Vereinen oder Verbänden organisiert sind. Diese Interessen können und müssen sich im Feld der Öffentlichkeit verständigen. Das funktioniert aber nur, wenn die verschiedenen Interessen auch in den Leitmedien abgebildet und als gleichberechtigt wahrgenommen werden können – ohne dass von den Medien sofort die Abwertung mitgeliefert wird.
Dieses Pluralismus-Modell entspricht meinem Ideal von Gesellschaft und Demokratie. Ich bin in der DDR aufgewachsen. Ein Punkt, der viele Menschen in der Bürgerbewegung im Herbst 1989 angetrieben hat, war die Verwirklichung von Pluralismus. Die DDR hat diesen ja nicht zugelassen, sondern sehr rigide in die Öffentlichkeit hineinregiert. Die Regierenden haben dort nichts toleriert, was ihrer eigenen Position widersprochen hat. Es gab in der DDR keinen Ausgleich der gegensätzlichen Meinungen und Interessen. Insofern messe ich das, was ich heute vorfinde, immer an diesem Pluralismus-Ideal.
Sie sprechen davon, dass Medien bei bestimmten Interessen eine Abwertung gleich mitliefern. Ein Beispiel: Die Hamburger Morgenpost bezeichnete die AfD jüngst als „staatszersetzend“ …
Meyen: Ich kann natürlich sagen: ‚Unsere Gesellschaft und unsere Demokratie sind gefährdet, deshalb müssen wir uns wie in einer Wagenburg zusammenscharen und gegen mögliche Gegner wappnen.‘ Nach dieser Denkweise wäre es sinnvoll, Zweifler zu isolieren, als Feinde zu markieren und auszuschließen. Ich vermute, dass dieses Gesellschaftsbild bei denen überwiegt, die das Kontaktschuld-Prinzip nutzen.
Aber ist dieses Prinzip nicht auch notwendig, wenn man zum Beispiel Rassismus bekämpfen möchte?
Meyen: Mein gesellschaftliches Ideal ist ein anderes: Nämlich, dass wir das Gespräch suchen. Denn die Ursachen für Opposition, in welcher Form auch immer, sind ja trotzdem da, auch dann noch, wenn ich diese Menschen aus dem Diskurs ausschalte. Und ich glaube, dass wir mit dem Ausschluss aus der Debatte Menschen eher radikalisieren als sie zu domestizieren. Durch das Gespräch kann man Verständnis für die jeweils andere Seite bekommen und auf diese Weise gesellschaftliche Konflikte entschärfen. Ich glaube nicht, dass es einen Konsens in allen Fragen geben kann. Aber solange man im Gespräch bleibt, wird es keinen Kampf geben.
Und in das Dialog-Ideal schließen Sie alle Extreme und Extremisten ein?
Meyen: Es gibt ja Menschen, die den Dialog von sich aus verweigern. Da macht es keinen Sinn, zu versuchen, sie reinzuholen, aber ich vermute, dass das kleine Minderheiten sind.
Generell gilt: Wenn man Zugang zu Menschen möchte, sollte man mit ihnen sprechen. Je größer der Abstand zu Menschen wird, desto stärker werden die Projektionen. Wir stellen uns dann Dinge vor, die im Kopf dieser Menschen ablaufen könnten. Das schürt möglicherweise Hass und den Wunsch, diese Menschen zu bekämpfen. Wir kennen das aus der Psychologie: Kontakt verringert das Konfliktpotential. Wenn Sie anfangen, sich mit dem Gegenüber zu beschäftigen, besteht die Möglichkeit, dass Sie verstehen, warum dieser Mensch so geworden ist – selbst wenn Sie die politische Haltung ablehnen, wie zum Beispiel bei Rechtsextremen.
Es wäre also sinnvoll, auch mit Rechtsextremen zu sprechen?
Meyen: Wenn Sie mit einem Rechtsextremen sprechen, bedeutet das ja nicht, dass Sie auf dessen Standpunkt überwechseln. Sie könnten aber verstehen, warum er so eine Entwicklung genommen hat, um dann möglicherweise Dinge in der Gesellschaft zu ändern. Solche extremen Einstellungen wachsen ja nicht aus dem Nichts, sondern haben immer soziale, gesellschaftliche Ursachen, die man verändern oder beseitigen kann.
Wie antworten Sie auf das Argument, dass man Rechtsextremen keine Plattform bieten soll, um rassistischen Äußerungen keine Reichweite zu geben?
Meyen: Das sind jetzt zwei Schlagworte in einer Frage. Rassistische Äußerungen werden in der Gegenwartsgesellschaft zum Glück sofort markiert. Daher wissen wir, dass das keineswegs nur von extremen Rechten kommt, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft. Organisationen wie die Neuen Deutschen Medienmacher legen hier immer wieder den Finger in die Wunde. Und zur Reichweite: Wie sollen Diskurs und Aufklärung funktionieren, wenn wir bestimmte Positionen gar nicht mehr zu Gesicht bekommen? Als Alexander Gauland vor ein paar Jahren meinte, er wolle nicht neben jemandem wie Jérôme Boateng wohnen, hat das eine sehr heilsame Debatte ausgelöst.
Können Rassisten gleichberechtigte Interessen in der Gesellschaft haben?
Meyen: Für mich ist die Frage: Woher kommt eine Weltanschauung, die rassistische Elemente enthält? Steckt zu wenig Aufklärung dahinter oder gibt es andere Ursachen, mit denen man sich beschäftigen muss? Kein Mensch ist ja nur Rassist. Angenommen, wir haben einen bestimmten Anteil an Menschen mit rassistischen Einstellungen in der Bevölkerung: Wenn Sie diese Menschen vom gesellschaftlichen Diskurs ausschließen, haben Sie ein Problem. Die merken ja, dass sie ausgeschaltet werden. Wo gehen die dann hin? Was machen die mit ihren Interessen, Bedürfnissen und Vorstellungen? Die wollen ja auch an den Gesprächen über die Ausrichtung der Gesellschaft beteiligt sein.
Und um zum Thema Kontaktschuld zurückzukommen: Wenn Ihnen heute jemand vorwirft, Rassist zu sein oder gar Antisemit, dann sind Sie raus aus dem gesellschaftlichen Spiel, selbst wenn sich der Vorwurf nur auf ein verdrehtes Zitat oder eine gewagte Interpretation irgendwelcher Äußerungen bezieht.
In Deutschland wird konkret um die Frage „mit der AfD reden oder nicht“ immer wieder gerungen.
Meyen: Es gibt die Position: „Ich rede mit AfD-Wählern erst, wenn sie ‚zur Vernunft‘ gekommen sind und nicht mehr AfD wählen“. Diese Position halte ich für problematisch. Ich würde mich eher dafür interessieren: Wie kommen Menschen dazu, eine Partei zu wählen, die ich selber ablehne? Und wenn ich das verstanden habe, würde ich versuchen, bestimmte Dinge in der Gesellschaft zu verändern.
Bei einer Analyse von 59 Talkshows zum Thema Corona fiel mir auf, dass die AfD als einzige Bundestagspartei nicht vorkam. Die Sender begründen Ihre Entscheidung, die AfD nicht einzuladen, damit, dass die Auswahl der Gäste „ausschließlich nach journalistischen Kriterien“ erfolge.
Meyen: Schwierig. Mit den sogenannten journalistischen Kriterien lässt sich alles begründen. Wenn ich im Feld der Öffentlichkeit einen Ausgleich der Perspektiven und Interessen anstrebe, kann ich nicht einfach Interessen ausschließen, die in einer Partei organisiert sind. Ich habe in den 90er Jahren bei der PDS nicht verstanden, warum sie stigmatisiert wurde und nicht Teil des gesellschaftlichen Gesprächs sein durfte, und ich verstehe es heute bei der AfD auch nicht. Ich vermute dahinter ein Berufsverständnis der Journalisten, das weniger auf Handwerk zielt, sondern mehr auf Haltung. Und dieses Berufsverständnis teile ich nicht.
Was würden Sie einer Redaktion raten bei der Frage „AfD einladen oder nicht“?
Meyen: Überlegt euch, wie euer Menschenbild ist. Glaubt ihr, dass eure Zuschauer mündige Bürger und selbst in der Lage sind, sich ein Bild zu machen? Oder glaubt ihr, die Zuschauer sind manipulierbar, zum Beispiel durch Äußerungen in Talkshows? Davon würde ich die Entscheidung abhängig machen.
Mein persönliches Menschenbild sieht so aus, dass ich immer noch glaube, dass die Menschen in der Lage sind, sich ihren Interessen entsprechend eine Meinung zu bilden, sich ihr Informationsmenü zusammenzustellen, und dass sie es nicht mögen, wenn man sie bevormundet. Niemand möchte gesagt bekommen, was er zu denken hat.
Gleichzeitig bin ich mir im Klaren darüber, dass in vielen Redaktionen ein anderes Menschenbild vorliegt. Man verweist auf 1933: ‚Damals ist man einem Verführer hinterhergelaufen, eine Wiederholung dieser Situation muss verhindert werden und deshalb müssen wir als Gate-Keeper zur Öffentlichkeit bestimmte Inhalte und Meinungen ausschließen‘.
Haben wir einen Meinungspluralismus in den Leitmedien?
Meyen: Wir haben im öffentlich-rechtlichen Rundfunk tolle Angebote, Magazine wie zum Beispiel „Monitor“ oder „Zündfunk“. Und es gibt insgesamt im deutschen Journalismus viele tolle Kolleginnen und Kollegen, die gute Arbeit leisten. Die Frage ist: Was davon kommt auf der Titelseite von Bild, in der SZ oder in der Tagesschau an? Und da sehe ich, dass wir ein eingeschränktes Spektrum an Perspektiven und Sprechern haben.
Warum ist der Sprecherkreis Ihrer Meinung nach eingeschränkt?
Meyen: Wir haben, insbesondere in den Leitmedien, sehr homogene Redaktionen. Es sind von Akademikern dominierte Redaktionen, die sehr nah dran an den Entscheidern sind, viele Redakteure waren auf den gleichen Hochschulen wie die Entscheider, sie kommen aus dem gleichen Milieu und haben ähnliche Vorstellungen, was richtig und was falsch ist. Und sie nehmen an, dass das, was sie schreiben, wichtig ist und Wirkung hat. So kommt es zu einem sehr homogenen Diskursbild bei relativ vielen Themen.
Zurück zum Thema Kontaktschuld: Welche Leitlinien haben Sie, wenn es darum geht, mit wem Sie sich auf ein Podium setzen?
Meyen: Das wichtigste Kriterium ist immer: Kann ich, als jemand aus der Wissenschaft, zu dem Thema etwas beitragen? Und als nächstes schaue ich mir an, wer mich einlädt. Wenn man das Kontaktschuld-System kennt, wird man automatisch vorsichtig.
Was wäre, wenn das Compact-Magazin Sie einlädt?
Meyen: Das ist eine typische Kontaktschuld-Falle. Ich wäre sehr überrascht, wenn eine solche Einladung käme und würde mich sofort fragen, was ich falsch gemacht habe. Es ist schon schwierig, Compact in eine Inhaltsanalyse einzubeziehen. Schon da droht der Vorwurf, dass man sich rechtem Gedankengut aussetzt, mit dem Hintergedanken, dass das möglicherweise Einfluss auf die eigenen Überzeugungen haben könnte.
Ähnlich ist es mit der Jungen Freiheit: Ich kenne eine Dozentin, die für eine Studie Interviews mit mehreren Chefredakteuren geführt hat, darunter auch mit Dieter Stein von der Jungen Freiheit, der ja auch bei der Geburtstagsfeier von Matussek war. Anschließend haben Kolleginnen und Kollegen gefragt: „Warum sprichst Du mit Rechten?“ Also, in der Forschung, wohlgemerkt.
Sie teilen diese Ansicht offenbar nicht.
Meyen: Nein. In der Forschung muss ich die Leute von Compact interviewen, wenn mein Thema das erfordert und die andere Seite mitmacht. Es ist eine Medienplattform mit relativ hoher Reichweite, sie hat Einfluss auf das Denken und Fühlen von Menschen. Da würde mich interessieren, was die Macher antreibt. Doch sobald der Faktor Öffentlichkeit dazukommt, wird es schwierig.
Ist es aber nicht auch deshalb schwierig, weil Compact eine fremdenfeindliche Agenda verfolgt? Der Verfassungsschutz begründet die Einstufung von Compact als Verdachtsfall damit, dass sich das Magazin „revisionistischer, verschwörungstheoretischer und fremdenfeindlicher Motive bedient“?
Meyen: Man darf die beiden Dinge nicht vermischen. Als jemand aus der Wissenschaft kann ich solche Plattformen nicht ignorieren, wenn sie denn auf meiner Forschungsagenda stehen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich Einladungen annehmen und die entsprechenden Inhalte so legitimieren und normalisieren muss.
Ihnen selbst wurde schon mehrfach Kontaktschuld vorgeworfen. Wie reagieren Sie darauf?
Meyen: Meine Forschung sagt eigentlich, dass es am besten ist, überhaupt nicht darauf zu reagieren. Sondern es einfach auszusitzen. So wie die Medien im Moment funktionieren, brauchen sie permanent neuen Stoff, um ein Thema am Laufen zu halten. Wenn Sie selbst den Stoff liefern, zum Beispiel mit Stellungnahmen, dann füttern Sie diese Spirale. Und Sie können schwer bis gar nicht kontrollieren, was der nächste Schritt sein wird. Insofern würde ich immer dazu raten, Öffentlichkeit zu meiden und sie nicht selbst zu füttern – wenngleich es einen Punkt geben kann, wo das nicht mehr geht.
Gar nicht viel machen können Sie, wenn das dann auf Wikipedia steht. Jeder Zeitungsbericht gilt dort als legitime Quelle. So wird aus einem Kontaktschuld-Vorwurf in der Presse schnell eine Rubrik „Kritik“ auf Wikipedia. Es gibt Fälle, wo das Karrieren zerstört hat, obwohl die Vorwürfe an den Haaren herbeigezogen waren.
Ganz abgesehen von allen persönlichen Problemen, die damit verbunden sind: Das ganze System von Kontaktschuldvorwürfen schüchtert Menschen ein und zerstört den öffentlichen Diskurs. Wenn Sie zum Beispiel bestimmte Menschen oder auch bestimmte Medienangebote nicht mehr in der Öffentlichkeit erwähnen können, ohne die persönliche Distanzierung gleich mitzuliefern, dann gibt es keine Offenheit mehr. Dann wissen wir schon vorher, was gut ist und was böse. Und dann äußern sich diejenigen nicht mehr, die eine andere Meinung haben oder auch nur an mehr Differenzierung interessiert sind. Ich würde es zum Beispiel für sinnvoll halten, dass sich Studenten analytisch mit Plattformen wie Kenfm, Rubikon oder RT Deutsch auseinandersetzen. Nur, wer traut sich das, wenn man eigentlich schon vorher weiß, dass alles in Bausch und Bogen verdammt wird?
Es gab in den ersten Wochen der Corona-Krise auch eine Münchner Journalistin, die sich einem Kontaktschuld-Vorwurf ausgesetzt sah – aufgrund von Interviews mit den ‚falschen‘ Medizinern. Die Bayerische Landeszentrale für neue Medien rügte beim Thema Corona eine Auswahl von Talkgästen, „die als kritisch gegenüber den aktuellen Entscheidungen der Bundesregierung aufgefasst werden kann.“ Können Sie dieses Vorgehen der BLM nachvollziehen?
Meyen: Nein. Ich denke, es lag kein Fehlverhalten der Journalistin vor. Sie hat etwas gemacht, was ich für guten Journalismus halte. Das Schreiben der BLM diente meiner Meinung nach dazu, eine Journalistin zu verunsichern und davon abzuhalten, so etwas nochmal zu machen. Das halte ich für keinen guten Umgang mit Journalisten.
Es zeigte sich in den letzten Monaten auch, dass bestimmte Wissenschaftler in den Leitmedien nicht auftauchten, wie etwa Sucharit Bhakdi, laut ZDF ein „Corona-Leugner“. Hätte man auch Mediziner, die die Gefahren des Corona-Virus relativierten, ins Studio einladen sollen?
Meyen: Sicher. Eine Diskussion darüber hätte die Glaubwürdigkeit der Corona-Maßnahmen meiner Meinung nach gestärkt. Es ist einfacher, in der Bevölkerung ein Verständnis für die Maßnahmen zu erreichen, wenn ich die verschiedenen Positionen an einem Tisch habe und darüber diskutiere. Dadurch kann sich jeder eine Meinung bilden und am Ende verstehen, warum die Regierung so handelt, wie sie handelt. Wenn ich aber bestimmte Positionen aus dem Diskurs ausschließe, sie obendrein als „Corona-Leugner“ brandmarke, dann wächst der Zweifel bei Mediennutzern. Die Positionen und die entsprechenden Realitäten sind ja trotzdem da. Man muss sich dafür nur mit seinem Arzt unterhalten oder mit Leuten, die bei einer Krankenkasse arbeiten. Für die Menschen ist es dann schwer zu verstehen, warum das nicht im ZDF zu hören ist – und sie gehen zum Beispiel zu Kenfm, um sich ein Interview mit Bhakdi anzuschauen. Ich denke grundsätzlich, dass der Dialog der richtige Weg ist.
Michael Meyen ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Ein sehr interessanter und erhellender Beitrag. Könnte man vielleicht auch einmal solche Mechanismen auf lokaler Ebene besprechen? Wie ist es zum Beispiel, wenn ich als Lokaljournalist Leute wie Michael Ballweg oder Markus Haintz zu Wort kommen lassen will? Wie geht man mit der AfD in der Berichterstattung um? Das ist ja unter Umständen gar nicht so einfach, wäre aber für den Pluralismus ganz wichtig. Demokratie beginnt ja bekanntlich von unten…
Ein erhellendes Interview, das genau das deutlich macht, was in den letzten Jahren sowohl politisch als auch medial falsch läuft. Ich sehe im großen und ganzen meine Meinung vertreten, muss aber zugeben, dass der Einfluss gerade der öffentlich- rechtlichen Medien auch bei mir anfing zu wirken und Zweifel an meiner Einstellung hervorrief. Dieses Interview bestätigt meine Sichtweise. Vielen Dank dafür.