Berlinale 3/10

Vor zwei Jahren brachte Martin Scorsese mit seinem Konzertfilm „Shine a light“ die Rolling Stones auf den roten Berlinale-Teppich. Jetzt ist er als jener Genre-Regisseur zurückgekehrt, der schon im Februar 1992 mit „Kap der Angst“ einen Thriller in Berlin präsentierte, der auf ähnliche Weise, wie jetzt „Shutter Island“ eher konventionelles Popcorn-Kino mit kleinen Raffinessen zu einer vergleichsweise extremen Veranstaltung ausbaute. Doch je älter Scorsese wird, desto egaler werden seine Filme und desto stärker strahlt die reine Präsenz des Meisters und seiner Entourage, in diesem Jahr: seine Darsteller Leonardo TiTitanico, Michelle Williams und Ben Kingsley. „Verrückt werden mit Leonardo DiCaprio“ titelt Der Westen knapp seine Geschichte über den dritten Berlinale-Tag und bringt damit sowohl die fast schon zur Routine geratene Hysterie um den Berlinale-Stammgast DiCaprio auf den Punkt, als auch „Shutter Island“ selbst.

Der Film erzählt von einem US-Marshall, dem nach Recherchen auf einer Alcatraz ähnelnden psychiatrischen Verwahrungsanstalt die Rückkehr verweigert wird. Auf welcher Seite des Gitters sich die Gesetzeshüter am Ende befinden werden, ist allerdings ähnlich vorhersehbar, wie die Statements auf der Pressekonferenz. „Er hat mir beigebracht, was es heißt, ein Schauspieler zu sein“ bedankt sich DiCaprio bei Scorsese, der ihn schon vier Mal mit einer Hauptrolle betraute. Was er dann wohl von seinen früheren Regisseuren, wie James Cameron gelernt haben mag? Schwimmen und irischen Volkstanz wahrscheinlich. Jede noch so berechtigte Hutzieherei vor DiCaprio und Scorsese, dem Dreamteam aus Little Italy, kann nicht über die melancholische Einsicht hinwegtäuschen, dass mit dem jugendlichen Star aus „Gilbert Grape“ und „Romeo & Julia“ das Kino einen speziellen Jungen von geradezu magischem Elan an die voran schreitende Zeit verloren hat, der bis dato von nichts ebenbürtigem ersetzt werden konnte.

Es hat schon seine Vorteile, wenn einen der Ruhm erst in jener Phase erreicht, mit der man sich statistisch gesehen die meiste Zeit des Lebens herumschlagen muss: im Erwachsenenalter. So geschehen bei Ian Dury, dem als Vorsteher seiner Pub-Rock-Band The Blockheads erst mit Mitte 30 der Durchbruch gelang, dank solcher Tacheles redenden Singlehits, wie „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“(siehe Foto) und „Hit Me With Your Rhythm Stick“. Dury war – im wahrsten Sinne des Wortes – seit Kindesbeinen durch eine Polio-Infektion stark gehbehindert. (Er starb 2000, mit 57 Jahren an Krebs). Sein Leiden und seine nicht zuletzt daraus resultierenden Launen prägen auch „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“, das Biopic über Durys Leben, das im Panorama der Berlinale gezeigt wurde. Wobei Regisseur Mat Whitecross im Interview den Begriff „Biopic“ strikt von sich weist. „Biopic klingt doch sehr nach einer allzu höflichen, platten Hochglanzproduktion. Damit wollten wir nichts zu tun haben,“ sagt Whitecross, der schon als Co-Regisseur von Michael Winterbottoms „The Road to Guantanamo“ auf der Berlinale zu Gast war und sonst vor allem Musik-Videos für die eher gemütlichen Coldplay gemacht hatte. Letzterer Lebenslaufeintrag war es aber auch, der ihn an Bord des Ian Dury-Projekts brachte – zu seiner eigenen Überraschung, denn mit Ian Dury habe er bis dahin so gut wie nicht beschäftigt. „Aber dann habe ich mir einige seiner Auftritte aus den 70ern und 80ern auf Youtube angesehen und begriffen, wie einzigartig er war.“

So gelang Whitecross ein im besten Sinne verrückter, bunter Film, voller animierter Collagen und surrealer Traumbilder, in dem Dury auf einer fiktiven Konzertbühne den Conférenciers seines eigenen Lebens gibt. Verspieltheit und Verzweiflung gehen hier Hand in Hand und einmal mehr scheint das besondere, von liebevoller Ironie gezeichnete Verhältnis der Engländer zu ihren großen Popstars durch. „Irgendwo sind wir eben doch der Meinung, dass auf der Bühne zu stehen und dort wild zappelnd in ein Mikro zu bellen, kein vernünftiger Beruf ist,“ gibt Whitecross grinsend zu. „Das hättest Du mal ins Drehbuch schreiben sollen“ lacht da plötzlich Andy Serkis von der Seite. Der britische Schauspieler, der vor allem als Gesicht von Gollum in der „Herr der Ringe“-Trilogie bekannt wurde, spielt Ian Dury in „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“ mit einer wahnwitzigen, unwiderstehlichen Energie. Hier, in einer adäquat unglamourösen Lounge im Berlinale-Palast ist Serkis lediglich auf dem Weg zum nächsten Interview. Vier Etagen über dem roten Teppich bahnt er sich seinen Weg, über Berge von Kabeln und leeren Wasserflaschen, und eben auch vorbei an Journalisten und seinem Regisseur. Das alles sieht nach nichts als Arbeit aus. „…Aber wir Engländer haben ein Herz für die Arbeiterklasse,“ nimmt Whitecross den Gesprächsfaden wieder auf. „Und Ian Dury verkörperte auf der Bühne eben den schuftenden, schwitzenden Rock-Arbeiter.“

Demnächst zum Filmstart von „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“: das komplette Interview mit Mat Whitecross, seinem Autor Paul Viragh und dem Gastauftritt von Andy Serkis, hier, auf Planet Interview. 

Dieser Beitrag entstand als Teil einer Kooperation von Planet Interview und Berliner-Filmfestivals.de.

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