Abdellatif Kechiche

Die heutige Jugend ist viel freier im Denken.

Für seinen Film „Blau ist eine warme Farbe“ erhielt Regisseur Abdellatif Kechiche in diesem Jahr in Cannes die Goldene Palme. Ralf Krämer sprach mit ihm über Nacktszenen, seine Jugend in Frankreich und seine Motivation als Filmemacher.

Abdellatif Kechiche

Alamode Film

Monsieur Kechiche, die sehr expliziten Liebesszenen in Ihrem Film „Blau ist eine warme Farbe“ haben für großes Aufsehen gesorgt. Liegt das daran, dass Nacktheit die Menschen tatsächlich noch provoziert oder eher an den sensationslüsternen Reflexen der Medien?
Abdellatif Kechiche: Welche Reaktionen meinen sie genau? Ich habe so viel in den letzten Monaten über den Film gesprochen, es wurde so viel geschrieben, ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass der Nacktheit in dem Film wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als anderen Themen.

So gut wie jede Rezension hebt diese Szenen hervor, die Julie Maroh, die Autorin der Comic-Vorlage, als pornographisch kritisiert hat. Und dem britischen „Guardian“ war es wichtig, festzuhalten, dass Ihre Schauspielerinnen bei den Dreharbeiten „Fake-Pussies“ trugen...
Kechiche: Auf der anderen Seite hat Steven Spielberg als Präsident der Jury in Cannes erklärt, wie sehr er die Liebesgeschichte mochte und dass er sich darauf freut, den Film seinen Töchtern zu zeigen. Es mag schon sein, dass Sie den Eindruck haben, dass die Medien sich auf diesen Aspekt des Films konzentrieren. Aber die meisten Reaktionen, die ich auf den Film bekomme sehen so aus, dass die Menschen sehr berührt sind von Adèle, der Hauptfigur. Und das hat eigentlich nichts mit den Liebesszenen zu tun.

abdellatif plakatIn einer anderen Szene sieht man die junge Adèle, wie sie auf einer Demonstration sehr lautstark und tanzend ihrem Ärger Luft macht. Danach zeigen Sie kurz den stummen, reglosen Protest alter Gewerkschaftler. Warum war Ihnen dieses Bild wichtig?
Kechiche: Diese Männer sind – im Gegensatz zu den jungen Menschen, die ich auf der Demonstration in Szene gesetzt habe – keine Schauspieler. Die haben wirklich ihr Leben lang für soziale Gerechtigkeit gekämpft. Ich finde ihre Gesichter sehr schön und wollte diesen kurzen Moment im Film haben, als Hommage an diese Männer und auch als Echo der jungen Menschen, die jetzt in gewisser Weise diesen Kampf weiterführen.

Es ist ein besonderer Moment, auch weil er für ein paar Sekunden mit dem sonstigen Ton des Films bricht. Da scheint die Zeit plötzlich still zu stehen.
Kechiche: Trotzdem hat mich bisher noch niemand auf diese Szene angesprochen. Aber mir bedeutet sie sehr viel. Ich habe lange probiert, wie ich sie in den Film so integrieren könnte, dass sie Sinn macht. Denn sie erinnert mich auch sehr an meine Eltern, die beide sehr politische engagierte Menschen waren, in den 60er, 70er Jahren. In sofern hat diese Einstellung auch für mich eine melancholische Dimension.

Sie haben Ihre Goldene Palme für „Blau ist eine warme Farbe“ der tunesischen Jugend gewidmet. Hat Sie die Aufbruchstimmung während des Arabischen Frühlings auch an Ihre eigene Jugend in den 70er Jahren erinnert?
Kechiche: Nein. Ich finde die heutige Jugend tatsächlich sehr beeindruckend, sie ist sehr viel freier im Denken, auch in Frankreich. Meine Eltern sind mit mir aus Tunesien nach Frankreich ausgewandert, als ich sechs Jahre war. Und die Jugendlichen meiner Generation in den 70er Jahren habe ich als sehr reaktionär und intolerant empfunden, gerade auch, was die sexuellen Freiheiten anging. Unsere Welt war damals sehr hermetisch. Ich hätte mir gewünscht, mich in toleranteren, offeneren Kreisen zu bewegen. Frankreich hat da eine große Entwicklung durchgemacht, vor allem in den 80er Jahren unter François Mitterand.

Zitiert

Ich wünschte, meine Eltern wären mit mir nach Deutschland ausgewandert.

Abdellatif Kechiche

Sie meinen, Mitterand war für die sexuelle Revolution in Frankreich wichtiger als die 68er-Bewegung?
Kechiche: Die sexuelle Revolution in Frankreich fand jedenfalls nicht 1968 statt. Damals wurden wohl Prämissen gesetzt, aber es hat nochmal über ein Jahrzehnt gedauert, bis Mitterand Präsident wurde und das Land geöffnet hat. Er hat zum Beispiel das Radio, Fernsehen und die Presse liberalisiert, nicht zuletzt weil er selbst eine sehr freier Geist war. Er wollte Europa öffnen und hat sehr stark an Brüderlichkeit geglaubt, eben auch in der Beziehung zu Deutschland. Für mich war das leider zu spät, um Teil dieser Jugendbewegung zu werden. Ich wünschte, meine Eltern wären mit mir damals nach Deutschland ausgewandert. (lacht)

In „Blau ist eine warme Farbe“ spielen Ihre eigenen Migrationserfahrungen keine wirkliche Rolle mehr. Ist das Thema Migration für Sie als Filmemacher nun erledigt?
Kechiche: Natürlich habe ich mich auch aus biografischen Gründen immer wieder mit Migranten aus dem Maghreb beschäftigt. Aber ausschlaggebend ist für mich eher etwas anderes. Ob ich nun in „Couscous mit Fisch“ von einem Nordafrikaner erzähle, der seit 35 Jahren in Frankreich als Hafenarbeiter lebt, oder ob ich mich in „Blau ist eine warme Farbe“ der ersten großen Liebe einer angehenden Lehrerin widme – es geht mir um Sichtbarmachung. Mich berührt, wenn ich Menschen auf die Leinwand bringe, die dort normalerweise nicht vorkommen.

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