Adolf Gallwitz

Kinder müssen frühzeitig wissen, was Sexualkriminalität ist.

Polizeipsychologe Adolf Gallwitz über sexuellen Missbrauch, den Zölibat, Verjährung, Lolita-Effekt und Gewalt in der Familie

Adolf Gallwitz

© hfpol-vs.de

Herr Gallwitz, vor einem Jahr rief die Bundesregierung den Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch ins Leben, nachdem eine Reihe von Missbrauchsfällen in Institutionen ans Licht kamen. Hat Sie das Ausmaß von sexuellem Missbrauch in Schulen und kirchlichen Einrichtungen überrascht?
Gallwitz: Kollegen von mir und ich haben uns immer schon mit den Problemen in Institutionen beschäftigt. Aber wir waren überrascht, dass alle auf die katholische Kirche gesprungen sind und es keinen Ruck in anderen Bereichen gegeben hat.

Welche wären das gewesen?
Gallwitz: Selbstverständlich auch die anderen Kirchen und jede Art von Heimunterbringung.

Und das, was in den Familie geschieht.
Gallwitz: Ja, wir haben nach wie vor den Verdacht, dass überall dort, wo Gewalt herrscht, auch sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung sind. Da gibt es eine ganze Reihe von Studien. Und dass die Gewalt in den Familien in den letzten Jahren zugenommen hat, ist ja ein offenes Geheimnis. Wir haben auch Studien vom Bundesfamilienministerium, in denen man untersucht hat, in welchen Migrantenfamilien im Verhältnis zu deutschen Familien besonders viel Gewalt praktiziert wird.

Mit welchem Ergebnis?
Gallwitz: Danach fallen Familien aus der GUS, dem türkischen und ehemaligen jugoslawischen Bereich mit mehr Gewalt in den Familien auf.
Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen wiederum hat den Zusammenhang zwischen beobachteter und erfahrener Gewalt in den Familien und sexuellen Übergriffen untersucht und gefunden.

Was die Missbrauchsfälle im Bereich der katholischen Kirche anbelangt, welche Rolle spielt dort Ihrer Ansicht nach der Zölibat?
Gallwitz: Der Zölibat ist nicht die Ursache. Aber die Frage ist, welche Menschen von einer Gemeinschaft angezogen werden, wo man sich einen Verzicht auferlegen muss und ob dieser Verzicht wirklich freiwillig ist.
Ich sehe Probleme bei sehr jungen Männern, die kurz nach dem Abitur eine
Menge christliche Ideale, wenig Lebenserfahrung und noch keine Erfahrungen mit ihrer eigenen Sexualität haben. Wir haben sicher auch Leute, die wissen, dass sie Probleme mit ihrer Sexualität haben und die von dem Zölibat angezogen werden, weil sie glauben, dann ist Schicht im Schacht, dann brauche ich mich nicht mehr damit auseinanderzusetzen. Der Zölibat ist also durchaus auch ein Magnet für Menschen, die überall besser aufgehoben wären als unter einem zusätzlichen Verzicht.

Wie ließe sich dem entgegenwirken?
Gallwitz: Da braucht man gute Assesmentcenter und gute Psychologen um herauszufinden, was der wirkliche Grund für den Berufswunsch ist und ob der Mensch geeignet ist. Eine gesunde Persönlichkeit mit einer gesund entwickelten Sexualität hat bessere Möglichkeiten sich zu überlegen, ob dieser Verzicht wirklich freiwillig ist. Wenn wir das sicherstellen können, dann sehe ich am Zölibat per se kein Problem.

Wie sehen Sie das Angebot der katholischen Kirche, Missbrauchsopfern
5000 Euro Entschädigung zu zahlen?

Gallwitz: Der Geldwert, der beschädigt wurde, wenn es um sexuelle Selbstbestimmung und natürliche sexuelle Entwicklung geht, ist unabhängig von der katholischen Kirche immer sehr schwer festzumachen gewesen. Ich denke es ist ein Quantenschritt, dass man sich zu einer materiellen Entschädigung bereiterklärt hat, wo es nicht in jedem Verfahren zu einem Urteil kommen muss. Und es wurde ja auch eingeräumt, dass diese 5000 Euro in bestimmten Fällen nur ein Richtwert sind.

Was sagen Sie zum Vorschlag der Missbrauchsbeauftragten Christine
Bergmann, die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch auf 30 Jahre zu
verlängern, beginnend mit dem 21. Lebensjahr des Opers?

Gallwitz: Wir tun so, ab ob die Verlängerung die Problemlösung ist. Aber bereits heute beginnt die Verjährungsfrist ab der Vollendung des 18. Lebensjahrs des Opfers zu zählen. 30 Jahre bedeuten bereits heute, dass sich das Opfer bis zum 48. Lebensjahr zeitlassen kann, bis es Strafanzeige erstattet. Es gibt nur extrem wenige Menschen, die bis zum 48. Lebensjahr warten, um Anzeige zu erstatten. Ein im Alter von 6 Jahren missbrauchtes Kind könnte dann z.B. mit 48 Strafanzeige stellen, 42 Jahre nach der Tat! Praktiker wissen, dass eine Beweisführung bereits nach 20 Jahren äußerst schwierig ist, so dass es in den meisten Fällen zu keinen Urteilen kommt.

Die Missbrauchsopfer-Initiative "netzwerkB" fordert bei solchen Taten die Abschaffung der Verjährung, auch rückwirkend – welche Chancen sehen Sie für diese Forderung?
Gallwitz: Dies hätte Auswirkungen auf den Rechtsfrieden in der Gesellschaft. Aur der einen Seite haben wir das menschliche Problem, die Vermischung von Wut, Hilflosigkeit, Zorn und Aktionismus – auf der anderen Seite den Rechtsfrieden. Solche Forderungen klingen symbolisch und auf der "Stammtischebene" gut, wo es vielleicht heißt "bestimmte Straftaten verjähren nie". Doch sie sind meiner meiner Meinung nach für die Praxis ziemlich irrelevant.

Was sollte denn Ihrer Meinung nach in der Praxis getan werden?
Gallwitz: Prävention, Aufklärung, Entdeckungsrisiko, Thematisierung von Themen wie Pornografie und Sexualkriminalität an den Schulen sind wichtig.

Zitiert

Ich sehe Probleme bei sehr jungen Männern, die kurz nach dem Abitur eine Menge christliche Ideale, wenig Lebenserfahrung und noch keine Erfahrungen mit ihrer eigenen Sexualität haben.

Adolf Gallwitz

Sie erwähnen Pornografie – müssen sich die Medien auch an die eigene Nase fassen, weil sie gern mit dem Lolita-Effekt spielen?
Gallwitz: Ganz stark. Wenn Sie Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ nehmen oder Germanys Next Top Model  und  zum Beispiel beobachten, wie sich Mädchen und junge Frauen entblöden müssen, um in die Endauswahl zu kommen. Bei der letzten Staffel gab es Castings, wo heranwachsende und junge Erwachsene nur noch mit einem Plastikhütchen auf den Brustwarzen auftreten mussten. All diese Castingshows, wie sie auch heißen, sind ohne Nacktheit nicht möglich. Es ist mit Sicherheit ein Problem, dass viele junge Menschen und junge Mädchen es als natürlich und normal empfinden, sich in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Damit kommen sie auch den gleichaltrigen Jungs entgegen, die ein verändertes Verhältnis im Konsum von Pornografie entwickelt haben. Das bedeutet, dass wir mit möglichen Auswirkungen nicht nur auf sexuelle Übergriffe, sondern auch auf die Liebesfähigkeit rechnen müssen.

Stimmt es, dass Missbrauch nicht unbedingt etwas mit sexueller Befriedigung zu tun hat, sondern  mit dem Bedürfnis, Macht auszuüben?
Gallwitz: Es gibt nicht den Täter, es gibt nicht die Sexualstraftat und es gibt nicht die klassischen sexuellen Motive. Wir haben Aggression und Ausbeutung als wichtige Funktion von Missbrauch, die überhaupt nichts mit Sexualität zu tun hat. Aggression ausleben zu können, Dominanz und Kontrolle über jemanden zu haben. Das sind Übergriffe, die bei der Tatbegehung sadistische Züge haben, wo in der Regel überhaupt keine Sexualität im klassischen Sinn beteiligt ist. Dann hat man einen großen Bereich, wo es um sexuelle Ausbeutung geht, meistens von älteren Kindern und Jugendlichen. Wo die Beschuldigten Blockierungen haben, mit Gleichaltrigen sexuelle Handlungen zu praktizieren. Bei anderen Tätern hat das Opfer eine Surrogatfunktion, besonders bei sehr jungen Opfern, wo es sich um die Suche nach emotionaler Zuwendung und Unterstützung handelt. Auch in dem kleinen Bereich, wo es um Sexualität im eigentlichen Sinn geht, gibt es sehr häufig Praktiken, wo es um Verletzungen und Verbrennungen geht, wo Gegenstände eine Rolle spielen. Die Motive, die beherrscht werden von Ausbeutung und Aggression, von Macht und Kontrolle, sind derartig vielfältig und häufig so weit entfernt von der normal gelebten Sexualität, dass sich das viele nicht vorstellen können.

Hat sich die Diskussion darüber inzwischen weiterentwickelt? Hat man mehr verstanden?
Gallwitz: Ich persönlich glaube das nicht. Von dem Moment an, wo das wieder aus der täglichen Berichterstattung herausgenommen wurde, ist man wieder in die normale Denkweise zurückgegangen. Wenn ich mir vorstelle: Ich habe vor einigen Monaten Natascha Kampbusch getroffen und sie hat erzählt, dass erwachsene Leute in Wien vor ihr auf der Straße ausspucken. Da sehen Sie, dass Menschen wenig beeindruckt sind durch kurzfristige Hypes in der Berichterstattung. Was man nie glauben wollte, glaubt man einfach nicht. Es steckt immer die Vermutung dahinter, dass viele Kinder und junge Menschen die Opferschaft provoziert haben.

Die alte Ausrede: Das Kind hat mich verführt.
Gallwitz: Richtig.

Und die Opfer sind selber schuld.
Gallwitz: Ja. Das ist am einfachsten. Dann sind meine Nachbarn keine potentiellen Täter und damit ist die Welt wieder in Ordnung. Die Art und Weise des Umgangs hat etwas mit der Stabilität in der eigenen Persönlichkeit zu tun. Und radikales Umdenken würde bei vielen Menschen große Sorgen und Befürchtungen wecken. Da ist es besser, man nimmt althergebrachte Erklärungen.

Macht ist auch ein konstituierendes Element von Gesellschaft. Wie geht
man damit um?

Gallwitz: Macht und Ohnmacht, Ungleichgewicht und Ausgeliefertsein beginnen, wenn man auf die Welt kommt: Als Säugling, der einer Familie ausgeliefert ist, die möglicherweise überfordert ist. Sie enden, wenn man ins Altersheim gebracht wird und sich nicht mehr gegen die Übergriffe wehren kann, die dort stattfinden können. Zwischen diesen beiden Punkten hat alles mit Macht und Ohnmacht, mit Über- und Unterordnung zu tun. Deswegen haben wir ja auch ein großes Mobbingproblem an den Schulen und Arbeitsplätzen, das wir als selbstverständlich nehmen. Es gibt keine Gleichheit im Zusammenleben von Menschen und deshalb müssen wir Menschen besser auf Ungleichheit und die Möglichkeit von sexuellen Übergriffen vorbereiten.

Was kann man in der Kindererziehung tun?
Gallwitz: Wir brauchen mehr  klare Informationen, ohne sich Sorgen zu machen, die Kinder könnten Schaden nehmen, wenn sie davon erfahren. Sexueller Missbrauch ist kein Ausnahmeproblem, sondern eines, was sehr häufig passiert. Deshalb müssen Kinder frühzeitig immer wieder altersentsprechend wissen: Was ist Sexualität? Was ist Sexualkriminalität? Wie gehen Täter vor? Wie versuchen sie mich in die Übergriffe einzubeziehen? Das sind Dinge, mit denen sich Lehrer und Erzieher nicht beschäftigen möchten. Sie sagen zur Entschuldigung: „Da kennen wir uns nicht aus“. Da wird dann erwartet, dass die Polizei durch die Kindergärten und die Schulen tingelt.

Hilft es, wenn Kinder auch zu Hause „nein“ sagen dürfen?
Gallwitz: Selbstverständlich. Wir erziehen auf diese Weise natürlich Kinder, die anstrengender sind, weil sie sich nicht mehr alles gefallen lassen. Aber ich muss es auch vorleben. Und da sind wir wieder bei den Familien. Wir haben ein erschreckendes Ausmaß an alltäglicher Gewalt.
Man kann grob sagen: Ein Siebtel aller Familien hat ein Gewaltproblem. Und ein noch größerer Teil hat unsichtbare Gewalt. Da wird nicht geprügelt und geschlagen, aber da werden Menschen extrem unterdrückt und herabgewürdigt. Das sind Dinge, die in vielen Familien vorgelebt werden und da kann man nicht erwarten, dass Kinder aus solchen Familien vorbereitet und geschützt sind gegen andere Übergriffe.

Was ist das eigentlich Tödliche am sexuellen Missbrauch? Man spricht ja auch vom Mord an der Seele.
Gallwitz: Das Schädliche an dem sexuellen Missbrauch ist schwer festzustellen. Die schlimmste Form ist die tabuisierteste, der Übergriff durch die eigene Mutter. Damit haben wir eine Form, wo Sie in große Konflikte mit Teilen der Frauenrechtsbewegung kommen, die sagen: „Lenkt mal nicht vom Wichtigen ab, die meisten Täter sind Männer.“ Das ist vollkommen richtig, aber der Missbrauch durch die Mutter ist die schlimmste Form. Da haben wir eine ganze Reihe von Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen und psychischen Erkrankungen, die man damit in Verbindung bringt, weil das Vertrauen zu einer emotional ganz wichtigen Person zerstört wurde.
Bei den Folgen kommt es immer darauf an: Wie nahe verwandt, wie viel Gewaltanteil, in welchem Alter und wie häufig? Auch wenn sich jemand exhibitioniert und ein Kind dabei ist, ist das schon sexueller Missbrauch. Das heißt die Schädlichkeit hängt von den Handlungen, der Persönlichkeit des Opfers und der Reaktion der Umgebung ab.

Was ist es, was die Opfer belastet?
Gallwitz: Neben dem Verlust des Vertrauens, der Sicherheit in die eigene Wahrnehmung, ist es bei vielen Mädchen und Jungen die Sorge, dass sie nicht normal sind, lesbisch oder homosexuell sind. Dass sich das wiederholen kann, dass sie keine Kontrolle darüber haben. Dass es Dinge sind, über sie mit niemandem reden können, dass sie die ganze Kindheit und Jugend allein damit sind. Dass man es ihnen an der Nasenspitze ansehen könnte, was mit ihnen geschehen ist. Dass sie das Gefühl dafür verlieren, was richtig ist und dass man Schuld hat an allem, was schief laufen könnte.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit sexuellem Missbrauch. Wie gehen Sie selbst mit Dingen um, die Sie dabei erfahren haben?
Gallwitz: Aus irgendwelchen Gründen ist für mich die Supervision und die Möglichkeit, mich von den dienstlichen Bildern zu entspannen, ganz gut umgesetzt worden. Wenn ich mit manchen Menschen darüber rede und ins Detail gehe, dann kann es schon sein, dass sie den Eindruck haben, als ob ich abgehärtet sei. Das geht wohl jedem Unfallchirurgen auch so. Aber mir tun die Beamtinnen und Beamten leid, die den ganzen Tag Kinderpornografie auswerten. Das ist eine absolute Folge von ekelhaftem Bild- und Videomaterial. Und für diese Menschen ist nicht unbedingt eine Supervision vorgesehen. Da liegen die größeren Probleme.

2 Kommentare zu “Kinder müssen frühzeitig wissen, was Sexualkriminalität ist.”

  1. Thomas Fingermann |

    Hallo,

    wir hatten am Donnerstag wegen einer sehr unschönen „E-mail“ die Begegnung – Ihr Händedruck daraufhin – hat mich im nach hinein zu Tränen gerührt.

    Ich würde Sie gern wieder treffen – Thema sex. Missbrauch

    Können wir das wieder am Standort ERL S FL machen?

    Beste Grüße
    T. Fingermann

    Antworten
  2. Heribert Süttmann |

    Rechtsfrieden nicht gestört durch Aufhebung der Verjährungsfrist

    Insgesamt ein wohltuend differntiertes Interview. Die Auffassung, Verbrechen gegen Leib und Seele wie etwa einen sexuellen Mißbrauch, besser nicht rückwirkend unbefristet strafzubewehren, teile ich allerdings nicht. Der Staat muß endlich glaubhaft machen, dass er die Würde des Menschen mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln achtet und verteidigt und gegenüber jedermann durchsetzt. Mag sein, dass es vorübergehend zu gesellschaftlichen „Stress“ kommt. Diesem aber aus dem Wege zu gehen, macht unglaubwürdig. Jedem muß klar sein: Wer einem Menschen Gewalt antut, kann sich nicht in Sicherheit wiegen.

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