Herr Mazyek, wie erleben Sie momentan den ganzen Weihnachtsrummel in Deutschland?
Mazyek: Es ist oft etwas stressig, ich gestehe aber ein, dass ich auch gerne den Weihnachtsmarkt besuche und dies nicht nur wegen der Kinder. Da ich aus einer multikonfessionellen Familie entstamme ist Weihnachten für mich nichts Fremdes, als Kind habe ich mich oft auf doppelte Bescherungen gefreut, zu Weihnachten, wenn meine Onkels oder Tanten was schenkten und natürlich zu den islamischen Festtagen.
Welches Fest entspricht denn im Islam von seiner Bedeutung her unserem Weihnachtsfest?
Mazyek: Genau genommen keines. Es gibt einmal das Ramadanfest, zum Abschluss des Ramadans und das Opferfest in der Zeit der Wallfahrt nach Mekka. Für die Muslime stehen dann nach dem morgendlichen Festgottesdienst Besuche bei Verwandten und Bekannten an, die Kinder werden beschenkt – ähnlich wie an Weihnachten – und die Familien wohnen zusammen kulturellen Veranstaltungen und Festen bei.
Werden die Festtage denn ähnlich kommerziell ausgeschlachtet wie Weihnachten in Deutschland?
Mazyek: Also, im heiligen Monat, in dem man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fastet, da kann man in einigen muslimischen Ländern beobachten, dass ein überhöhter Konsum stattfindet. Zum Beispiel steigt der Fleischkonsum. Bei manchen wird einfach die Nacht zum Tag gemacht, es werden Freunde eingeladen, viel gegessen usw.
Im Ramadan gibt es auch bestimmte Nahrungsmittel, die spezifisch sind für das Fasten. Datteln zum Beispiel (viele Muslime brechen ihr Fasten nach dem Vorbild des Propheten Mohammed mit Datteln und einem Glas Wasser oder Milch) die werden dann schon lange vorher in allen möglichen Sorten und Variationen angeboten. Im Ramadan hat man vor allem auch Heißhunger auf Süßes, weil in der Zeit, wo man nichts isst, der Blutzucker sinkt. Und dann sehen Sie, dass über den ganzen Monat vor allem Zuckerbäcker verstärkt frequentiert werden.
Die Feiertage sind also auch, ähnlich wie in Deutschland, ein Segen für die Wirtschaft?
Mazyek: Ja klar, eben zum Beispiel für die Lebensmittelindustrie, den Einzelhandel. Dann haben wir außerdem das Opferfest, wo etwa zwei Wochen bevor die Pilgerfahrt anfängt, Reiseunternehmen große Geschäfte wittern – übrigens nicht nur muslimisch einschlägige, sondern auch Unternehmen wie LTU fliegen viele Pilger nach Mekka.
Zu den Festtagen ist es auch so, dass sich Familien vorher eindecken und Geld für Geschenke ausgeben. Das merkt man in europäischen Städten, wo die muslimische Bevölkerung sichtbar ist, ganz deutlich. Vor den Festtagen sind dann zum Beispiel die Spielzeug-Abteilungen viel höher von Muslimen frequentiert als sonst – da gibt es auf jeden Fall ähnliche Tendenzen wie in Deutschland beim Weihnachtsgeschäft.
Gibt es denn auch in der islamischen Welt Kritiker, die den Feiertagskommerz geißeln?
Mazyek: Ja, aber ich würde nicht sagen ‚geißeln’. Dass man im Ramadan am Abend ein nettes, gutes Essen hat, zum Fastenbrechen, das ist völlig in Ordnung. Was aber natürlich nicht in Ordnung ist, und was auch wirklich diametral gegen den Gedanken des Ramadan steht, dass man sich die Nacht voll isst – das ist nicht der Sinn und Zweck des Fastenmonats. Und da gibt es in der Tat viele Kritiker, die sagen: das ist kontraproduktiv und hat mit der Religion im eigentlichen Sinn nichts mehr zu tun. Wenn der Fleischkonsum in dieser Zeit beispielsweise exorbitant steigt, dann stimmt irgendwas nicht.
In Deutschland sind die Kirchen an Weihnachten voll, den Rest des Jahres bleiben sie meist leer. Lässt sich in der Türkei Ähnliches beobachten?
Mazyek: Traditionell ist auch die Moschee in diesen Zeiten sehr voll – so zum Beispiel während des ganzen Ramadanmonats – ich sehe das aber nicht so tragisch. Der Mensch ist halt ein saisonales Wesen, auch Religion unterliegt saisonalen Schwankungen. Das wird sich auch nicht ändern… so what?
Kommen wir zur Wahrnehmung des Islam in Deutschland. Viele Leute in Deutschland verbinden mit dem Islam nicht unbedingt eine Religion, die Verschiedenartigkeit oder andere Ansichten toleriert. Was sagt der Islam zu unterschiedlicher Religionszugehörigkeit?
Mazyek: Der Islam ist durch eine langjährige, in der Geschichte immer wieder historisch verifizierbare, Toleranz gegenüber anderen Religionen und Religionsgemeinschaften aufgefallen. Die 700 Jahre islamische Geschichte in Spanien, 500 Jahre Tataren in Polen, 600 Jahre Islam in Ungarn, das noch bis heute arabisch angehauchte Malta oder Sizilien, das tolerante Bosnien im Herzen Europas, das beinah durch einen religiös motivierten Völkermord ausgerottet wurde – das sind alles Beispiele alleine aus Europa dafür, dass der Islam stets mit friedlichen Absichten kommt. Im Umgang mit Christen, Juden und Andersgläubigen legt der Islam den Muslimen Toleranz nahe. Der Koran sagt deutlich, dass bei Unterschiedlichkeiten in der Ansicht von Religionen, die Antwort nicht heißt: „Schlagt euch die Köpfe ein", sondern „Okay, dann gehe ich eben meinen Weg weiter." Es ist letztendlich diese Gelassenheit die den Islam ausmacht.
Aber nicht alle Muslime sehen das so gelassen…
Mazyek: Nicht alle Muslime halten sich daran – das ist richtig. Es gibt leider, wie in jeder Religion, schwarze Schafe. Das ist durchaus ein signifikantes Problem in der muslimischen Community. Da müssen Muslime untereinander aufklären. Denn diese tolerante Position hat letztendlich immer den Islam ausgemacht und auch stark gemacht. Alles andere – Fundamentalismus, Extremismus, Terrorismus, Missionierung, Inquisition, Sittenpolizei – all das lehnen wir ab, wollen wir nicht, da es uns kaputt macht.
Trotzdem wird der Koran oft missinterpretiert. Woran liegt das?
Mazyek: Am Bildungsdefizit der Muslime selber. Viele Menschen können noch nicht einmal schreiben und lesen, sie können somit auch die Schriften nicht verstehen und sind angewiesen auf Dritte. Diese haben wiederum vielleicht nicht gute Absichten, es sind Scharlatane, die den Islam für politische Zwecke instrumentalisieren. Das findet leider auch statt. Aber die große Mehrheit der Muslime lehnt das ab und lebt den Islam friedlich. Die 1,4 Milliarden Muslime auf dieser Welt leben so. Die Muslime leben den Islam eben unspektakulär, im friedlichen Nebeneinander oder Miteinander. Das fällt nicht weiter auf. Krakeler, Schreihälse, die fallen natürlich weitaus stärker auf und dementsprechend kommen sie dann auch in die Medien.
Wir wollen wir keine Exklusivrechte - aber auch nicht als Sonderposten behandelt werden.
Sie propagieren einen erneuerten Islam. Doch lässt der Islam wirklich Veränderungen zu?
Mazyek: Ein erneuerter Islam bedeutet, dass sich Muslime flexibel und dynamisch an die Herausforderungen der neuen Zeiten anpassen und sich vergegenwärtigen, dass der Islam ihnen immer diese Möglichkeit gegeben hat. In den 1400 Jahren des Islams, in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Zeiten, hat er immer auch unterschiedliche Ausprägungen gehabt. Es gibt einen Minimalkonsens, das sind die fünf Säulen und die sechs Glaubensartikel. Aber alles darüber hinaus ist disponabel, kann der Zeit und der Gegebenheit entsprechend neu interpretiert werden.
Welche Chancen sehen Sie in der Globalisierung für den erneuerten Islam?
Mazyek: Der Muslim versteht sich eigentlich als Weltbürger. Er kommt nicht auf die Idee und sagt, dass seine nationale oder ethnische Abstammung entscheidend ist. Es gibt das Bild der Umma im Islam: Die Umma ist im engeren Sinne die Gemeinschaft der Muslime, aber im weitesten Sinne sind es nicht nur Menschen anderen Glaubens, sondern selbst die Tier- und Pflanzenwelt wird zur Umma, zur großen Gemeinschaft, dazu gezählt. Es heißt entsprechend im Koran: „Und wir (also Gott) haben Euch aus verschiedenen Völkern und Stämmen erschaffen, auf dass ihr einander kennenlernen möget“
Sie sind seit 2005 Generalsekretär des Zentralrats für Muslime in Deutschland. Damit sind Sie zum direkten Ansprechpartner für Fragen bezüglich des Islams geworden. Welche Anliegen werden an Sie herangetragen?
Mazyek: Es werden ganz normale Dinge, die immer wieder in den Medien kursieren, gefragt, wie zum Beispiel, ob der Islam denn wirklich gewalttätig ist oder nicht. Aber wir haben auch sehr viele Reaktionen von Menschen, die sich die Frage stellen: „Ist das denn alles, was wir auf dieser Welt haben? Ist die materielle Befriedigung das, was den Menschen ausmacht? Oder gibt es über diese Fragen hinaus noch mehr?" Da haben Muslime eine Verantwortung und eine Pflicht, den Islam als ein Angebot darzustellen.
Wie gehen Sie mit den sicherlich auch häufigen negativen Reaktionen um?
Mazyek: Die kritischen Fragen sind oft ein Ausdruck von Ängsten oder Fremdheit. Das sind meistens die ersten Fragen. Niemand würde auf die Idee kommen, zu sagen, dass es eine islamische Motivation ist, dass Frauen zwangsverheiratet werden oder das Ehrenmord vollzogen wird. Aber trotzdem wird diese Frage so suggestiv gestellt. Nicht weil die Menschen das glauben, sondern weil sie irgendwo Ängste haben. Wenn die ganzen Fragen zur Zwangsheirat und zum Ehrenmord beantwortet wurden, dann kommt es zu den eigentlichen Themen.
Wie geht der Zentralrat mit unterschiedlichen Interpretationen des Korans innerhalb der muslimischen Community um, insbesondere bei kritischen Themen?
Mazyek: Wir haben zu Themen, die mehrdeutig verstanden werden könnten, immer wieder klar Stellung bezogen. So haben wir zum Beispiel die islamische Charta herausgegeben und uns zu Themen wie Menschenrechte, Frauenrechte, Religionsfreiheit dezidiert und unmissverständlich geäußert. Wir müssen aber von dem Bild wegkommen, dass man den Koran liest und dort alle möglichen zweideutigen Sachen stehen. Das ist nicht der Fall. Der Koran enthält weitestgehend, zu 98 %, Beschreibungen von Schöpfungen, Metaphern, konkreten Gegebenheiten, Prophetengeschichten usw. Dann gibt es einen ganz kleinen Satz an Versen, die durchaus zwei- oder mehrdeutig verstanden werden können. Hier muss man in der Tat interpretieren.
Aber trotzdem bleiben zu manchen Themen unterschiedliche Positionen bestehen. Nicht alles löst sich in Einverständnis auf…
Mazyek: Ja, manche Meinungen stehen im Widerspruch. Aber wenn man zu extremen Haltungen Stellung nimmt, dann wird man feststellen, dass der große Anteil der Muslime weltweit, sich schon einer bestimmten Position zugehörig fühlt. Das ist, wie gesagt, alles unspektakulär. Spektakulärer ist es, wenn irgendeine Gruppe sagt, dass für sie der Dschihad nicht das ist, was es eigentlich bedeutet – sich anstrengen auf dem Wege Gottes – sondern Bomben in die Luft zu sprengen. Das ist natürlich wesentlich spektakulärer, ist aber nicht der Mainstream-Islam.
Dem Islam-Professor Kalisch wurde der Lehrauftrag zur Ausbildung von zukünftigen Islamkunde-Lehrern entzogen, da er an der historischen Existenz Mohammeds zweifelt. Gehört zu einem erneuerten Islam nicht auch Interpretationsfreiheit dazu?
Mazyek: Ein fester Bestandteil des Islams ist nun einmal der Prophet Mohammed mit der Offenbarung, die ihm zuteil geworden ist, dem Koran. Gerne kann man sich wissenschaftlich streiten und beweisen, ob er gelebt hat oder nicht – das wird wahrscheinlich auch jeder wissenschaftlichen Verifikation standhalten. Es geht hier aber kausal um etwas völlig anderes: um das Recht auf freie Religionsausübung. Unsere Verfassung sagt ganz klar, dass jede Religionsgemeinschaft in Lehrbüchern oder Schulbüchern aufschreiben und erfassen kann, wie ihre Lehre aussieht, dies wird dann im so genannten bekenntnisorientierten Religionsunterricht auch gelehrt. Wenn jemand Lehrer und Lehrerinnen für den Religionsunterricht ausbilden möchte und damit fördert, dass sie eine Distanz zum Islam entwickeln und ganz grundlegende Dinge ablehnen, dann hat er den falschen Ort dafür gewählt. Er kann das in der Philosophie machen oder als Orientalist. Einige Orientalisten bezweifeln seit Jahrhunderten alles Mögliche am Islam, davon geht der Islam nicht unter, das können die auch weitermachen. Aber wenn jemand sagt, dass er für den Islamunterricht ausbilden möchte, und gleichzeitig die Fundamente der Religion in provokanter Weise in Frage stellt, dann wird er verständlicherweise von den Religionsgemeinschaften dafür keine große Begeisterung erfahren.
Vor einiger Zeit wurden auf Initiative des Zentralrats auf der Jugendplattform „Wamyo“ islamische Nachwuchskabarettisten für einen Muslim Comedy Contest gesucht. Das Motto lautete: „Muslim und witzig sein – geht das?" Was denken Sie?
Mazyek: Ja, sicherlich geht das. Das Problem ist, dass selbst Muslime meinen, es sei ein Widerspruch, Humor an den Tag zu legen und gleichzeitig Muslim zu sein. Wir haben eine reichhaltige Tradition von Aussprüchen unseres Propheten, die humorvoll und bisweilen sogar satirisch an bestimmte Themen herangehen. Es gilt momentan die Muslime zu animieren, ihre Phantasie anzuregen, um diese Tradition wieder aufzufrischen. Hierbei geht es auch nicht um den ganz engen religiösen Kontext, sondern darum, dass man sich selbst ein bisschen auf die Schippe nimmt und vielleicht auch über manche Schwierigkeiten und Probleme hinwegkommt, indem man sie humorvoll angeht. Ich habe dazu mal in einem Interview gesagt: „Allah will Humor“.
Ein immer wieder diskutiertes Thema ist Integration: Wie gut sehen Sie die Muslime in Deutschland in die Gesellschaft integriert?
Mazyek: Integriert sind ja bereits sehr viele Muslime, gleichberechtigt am hiesigen Leben nehmen sie jedoch nicht alle teil. Wir möchten als normale Bürger anerkannt werden und mit gleichen Rechten und Möglichkeiten versehen werden, wie andere. Dabei wollen wir keine Exklusivrechte, aber wir möchten auch nicht als Sonderposten behandelt werden. Außerdem wünsche ich mir, dass wir noch mehr unsere Qualitäten anbieten können und uns mit allem, was wir hier gelernt haben auch als Bürger einbringen können. Die Nicht-Muslime sollen verstehen, dass wir eine Gemeinschaft unter vielen sind und zum Wohle unserer Gesellschaft beitragen. Ich würde mir wünschen, dass Muslime nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung gesehen werden. Bis dahin wird allerdings noch viel Wasser den Rhein runter laufen.