Herr Huber, der Titel Ihres aktuellen Buches lautet „Die Angst – dein bester Freund“. Wie kann die Angst denn zum „besten Freund“ werden?
Alexander Huber: Das ist zugegebenermaßen ein provozierender Titel. Die Angst hat in der breiten Öffentlichkeit ein schlechtes Image, mir war es ein Anliegen, ein gutes Wort für die Angst einzulegen. Wenn ich zum Beispiel an einem Berg unterwegs bin, sichert die Angst mir mein Leben. Sie verhindert vorschnelles und riskantes Handeln. Habe ich am Berg alle Schwierigkeiten im Griff, hat die Angst auch keine negativen Auswirkungen wie schlechtes Bauchgefühl oder Ausbleiben von Hunger, sondern macht mich nur konzentrierter und aufmerksamer. Macht mich die natürliche Angst hingegen nervös, ist das ein Zeichen, dass ich der Situation am Berg nicht gewachsen bin. Dies ist ein Signal, dass es besser ist, umzukehren um es an einem anderen Tag noch einmal zu versuchen oder ich mich noch besser vorbereiten muss. So gesehen ist die Angst beim Bergsteigen wirklich mein bester Freund.
Gab es auch Zeiten, in denen Angst Ihr größter Feind war?
Huber: Es gab Zeiten in meinen Leben, in denen ich Problemen aus dem Weg gegangen bin, sie ignoriert habe. Irgendwann haben mich die aufgeschobenen Schwierigkeiten eingeholt, alles kam geballt zusammen. In diesem Moment musste ich handeln und meinen Problemen in die Augen sehen, sie anpacken. Dies ist auch ein persönliches Plädoyer von mir: Bei Problemen, die einem richtig Angst machen, diese Ängste nicht aussitzen, sondern sie bewusst angehen, möglicherweise auch mit professioneller Hilfe. Verdrängte, nicht aufgearbeitete Ängste hemmen, sie hindern einen am Weiterkommen im Leben. Stelle ich mich meinen Ängsten, verlieren sie an Macht und Schrecken. Eine einmalige Konfrontation reicht nicht aus, sondern es ist eine tägliche Aufgabe sich der Angst zu stellen.
Als Journalist erlebt man häufig, dass Interviewpartner bei Fragen nach ihren Ängsten ausweichen.
Huber: Ich kann verstehen, dass Prominente ihre Ängste nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten möchten. Anderseits ist es der falsche Weg, Probleme nur mit sich herumzutragen. Ist es nicht möglich, Probleme innerhalb der Familie oder mit Freunden zu besprechen, sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Es sind Menschen von außen, die Impulse und Lösungsansätze aufzeigen können. Wer mit dem Begriff ‚Psychotherapeut’ein Problem hat, der kann die professionelle Beratung auch gerne als Mentaltrainer oder Coach bezeichnen.
Haben Sie selbst schon mal professionelle Hilfe in Anspruch genommen?
Huber: Ja. Ich habe zulange meine Probleme ignoriert. Als ich mich entschieden habe, meine gesicherte berufliche Laufbahn als Physiker aufzugeben und das Bergsteigen zu meinem Beruf zu machen, stand ich plötzlich unter einem vorher nie da gewesenen Leistungsdruck. Kommen dann Verletzungen hinzu, die Vorhaben oder Trainingspläne schlagartig verhindern, entsteht ein unglaublicher Druck – der zu viel werden kann. Als dann noch Kritik von außen hinzukam, wurde es mir zu viel und ich habe schlagartig die Freude an meinem Bergsteigen verloren. Bis zu diesem Zeitpunkt war dies immer die Quelle der Kraft in meinem Leben. Ich wusste, wenn ich mich mit meinen Problemen jetzt nicht an Profis wende, komme ich nicht mehr zurück in meine Spur.
Es funktionierte offenbar.
Huber: Mein Therapeut hat hervorragende Arbeit geleistet. Im Leistungssport ist die Unterstützung von Psychologen oder Mentaltrainern Alltag. Und ich denke, dass sich auch ein Otto Normalverbraucher nicht davor scheuen sollte. Er sollte sich nicht dazu gezwungen fühlen, seine Probleme mit sich selbst auszumachen.
Mittlerweile geben Sie ja selbst Motivationsseminare…
Huber: Nein, das sind keine Seminare, sondern ich halte Vorträge. Und nach über 1500 Vorträgen kann ich sagen, dass meine Erlebnisse als Bergsteiger und Extremkletterer für viele Menschen inspirierend sind. Die Leute spüren, dass ich meinen Beruf mit voller Leidenschaft ausübe. Dies ist aus meiner Sicht auch der Schlüssel für beruflichen Erfolg.
Warum eignen sich insbesondere Bergsteiger dazu, anderen Impulse und Anregungen zu geben?
Huber: Bergsteigen ist für viele eine Metapher für das Leben. Berge stehen für anspruchsvolle Ziele, man muss sich anstrengen, hart kämpfen um den Ausblick vom Gipfel genießen zu können. Natürlich laufe ich dabei Gefahr, es nicht zu schaffen, aber wenn ich es nicht versuche, komme ich nie auf den Gipfel. Im übertragenen Sinn: Vielleicht muss ich ein paar Mal um den Berg herumgehen, um mich zu orientieren und um den passenden Weg zu finden. Vielleicht muss ich auch einen zweiten Weg einschlagen, der mich letztlich zum Ziel führt. Aber auf alle Fälle muss ich mich auf den Weg machen.
Ihr Bruder Thomas ist ebenfalls hauptberuflicher Bergsteiger. Ist Konkurrenz zwischen Ihnen ein Thema?
Huber: Natürlich besteht zwischen uns Konkurrenz. Es ist hauptsächlich eine positive Konkurrenz. Wir treiben uns gegenseitig an und spiegeln einander in unserem Tun.
Reinhold Messner hat bekanntlich bei einer Bergbesteigung seinen Bruder verloren. Wie gehen Sie beide mit dieser Schicksalsfrage um? Reden Sie darüber, was passiert, sollte einem etwas zustoßen?
Huber: Nein, über diesen Ernstfall reden wir nicht, denn ich glaube auch kaum, dass man sich für diesen Fall gut vorbereiten kann. Ich würde auch nicht von zuhause aus aufbrechen, wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass beide gesund wieder heimkehren. Es wäre ein sehr schwerer Schicksalsschlag, wenn wir beide zusammen aufbrechen und nur einer zurückkehren würde. Aber diese Tragik beschränkt sich nicht auf meinen Bruder, sondern auch auf Freunde oder andere Kletterpartner. Es ist immer eine schwere seelische Verletzung, wenn in unmittelbarer Nähe ein Mensch sein Leben verliert.
Wie nah ist Ihnen generell das Thema Tod?
Huber: Als Profibergsteiger muss man sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Wenn ich gefährliche Touren mache, ist mir bewusst, dass ich mein Leben verlieren könnte. Alles andere wäre pure Sorglosigkeit.
Wann kamen Sie an den Punkt, als Sie sich dazu entschieden haben ohne Sicherung zu klettern?
Huber: Dieser Traum hat mich viele Jahre begleitet, ebenso lang dauerte es, herauszufinden, ob ich mental überhaupt dazu in der Lage bin, diese psychische Herausforderung durchzustehen. Nach einem langen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Thema wusste ich: Ja, es ist möglich! Natürlich gibt es beim Free-Solo-Klettern in der Zeit der Vorbereitung neben Phasen des Selbstvertrauens auch die Phasen der Selbstzweifel. Letztendlich ist aber dieses Wechselbad der Gefühle auch ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Entscheidungsfindung. Die gezielte Vorbereitung und intensive Auseinandersetzung mit meiner Psyche geben mir die Basis für das Vertrauen in mich selbst, dass ich es kann.
Sind Sie ungesichert ein besserer Kletterer?
Huber: Das kann man so nicht sagen, es sind zwei völlig unterschiedliche Arten zu klettern. Entweder das „normale“ Klettern oder eben Free Solo. Free Solo ist eine ganz spezielle Disziplin, die wenigsten Kletterer üben diese Form aus. Man benötigt dazu eine herausragende Kletterfähigkeit und unglaubliche mentale Stärke. Die Verantwortung für das eigene Leben liegt zu 100 Prozent in den eigenen Händen. Diese Unmittelbarkeit ist ein intensives Erlebnis, welches man nie mehr vergessen wird. Ich kann auch noch Jahre später die Erinnerungen minutiös abrufen, da diese Erlebnisse so pur und intensiv sind. Darin steckt geballtes Leben.
Sie haben heute eine Familie. Hat dadurch Ihre Risikobereitschaft nachgelassen?
Huber: Ich kann natürlich nicht behaupten, dass sich wegen der Kinder nichts verändern würde. Natürlich ist meine Verantwortung durch meine Familie jetzt eine andere als vorher, schon allein finanzieller Natur. Ichbin aber überzeugt, dass nachlassende Risikobereitschaft sich mehr aus dem Älterwerden heraus erklärt als durch zunehmende Verantwortung. Junge Familienväter sind ja oft durchaus risikobereit….
Mit dem Alter lässt bekanntlich das Leistungsvermögen nach. Wie gehen Sie damit um?
Huber: Einen Leistungsabfall stelle ich schon lange fest. Ich war in bestimmten Disziplinen des Bergsteigens mal Weltspitze, davon bin ich heute weit weg. Beispielsweise im High-End Bereich des Sportkletterns: Mitte der Neunziger konnte ich als Erster bis in den oberen elften Grad vordringen. Heute klettere ich maximal Elf Minus, während die Besten heute im zwölften Grad unterwegs sind. Mich trennen inzwischen Welten von der Weltspitze des Sportkletterns.
Ist man deshalb frustriert?
Huber: Der Sport hat mich durch die nachlassende Leistungsfähigkeit relativ früh dazu gebracht, mich mit dem Älterwerden auseinanderzusetzen. So kommt man einer Krise zuvor – wenn plötzlich „normale“ Leistungen nicht mehr normal sind. Das heißt nicht, dass es einen nicht mehr wurmt oder ärgert, aber der Schock bleibt aus.
Reizt es Sie eigentlich auch Gebäude zuerklettern, wie beispielsweise Alain Robert?
Huber: Als Profikletterer habe ich die notwendigen Fähigkeiten fast alle Gebäude der Welt zu erklettern, allerdings stellt das für mich keinen besonderen Reiz dar. Alain Robert kann durch das Besteigen von Gebäuden seinen Lebensunterhalt bestreiten, dies ist natürlich ein wesentlicher Antrieb für ihn.
Sie sagten in einem Interview: „Das Handy hat die Menschen beim Bergsteigen leichtsinnig gemacht.“ Was meinen Sie damit?
Huber: Statistiken von Institutionen wie dem Deutsche Alpenverein bestätigen, dass die absoluten Unfallzahlen rückläufig sind, während die Anzahl der Notrufe am Berg tendenziell zunimmt. Allein das Wissen, jederzeit Hilfe holen zu können, bestärkt die Menschen, bis an ihr Limit zu gehen. Dies führt beizeiten zu einer großen Selbstüberschätzung und eines vermehrten Einsatzes von Hubschrauberrettungen. Natürlich empfehle ich als staatlich geprüfter Bergführer das Mitführen eines Handys, ohne dieses loszugehen ist schon fast fahrlässig. Aber man sollte sich nicht fahrlässig in Situationen hineinmanövrieren, in denen ein Notruf samt Rettung notwendig wird.