Alexander Kluge

Ein Gespräch ist keine Planwirtschaft.

Alexander Kluge über die Bedeutung des Interview-Genres, das Gespräch als Kunstform und zwei Begegnungen mit Spike Lee

Alexander Kluge

© markuskirchgessner.de

Herr Kluge, in den letzten Jahren haben Alert und Galore, die einzigen deutschsprachigen Print-Magazine, die sich schwerpunktmäßig dem Interview widmeten, ihr Erscheinen eingestellt. Hat das Genre Interview an Bedeutung verloren?
Alexander Kluge: Ich würde das Gegenteil behaupten. Die Gedanken entstehen, wie Kleist sagt, beim Reden. Und das Genre des Interviews, des Gesprächs, ist ja eines der schlagendsten die es gibt, weil es dialogförmig ist und nicht der Monolog eines Autors.

Dass es in den Medien zu wenig Dialoge gibt, kann man in der Tat schwerlich behaupten…
Kluge: Es wird vielleicht ein bisschen viel geredet, ja, und vor dieser Informationsmasse erschrecken Menschen. Das heißt, man muss Gärten bilden. Gärten, in denen ich zuverlässig Gespräche kriege, die mich auch wirklich interessieren und die diesen Drahtseilakt zwischen zwei Menschen herstellen, die also riskante Gespräche sind. Und ein riskantes Gespräch, das ist nicht das offensive, in dem man beleidigt, sondern ein Gespräch, das die Ich-Schranke senkt. In ihm reden zwei nicht zum Fenster raus, nicht mit ihrer normalen „Ich-Trompete“. In so einem Interview begeben sich die beiden Gesprächspartner wirklich auf eine dritte Plattform, wo sich zwischen ihnen etwas erklärt.

Abgesehen davon, dass Sie selbst als „Gärtner“ tätig sind, viele Interviews führen und zugänglich machen – gibt es andere „Gärten“, denen sie regelmäßig Besuche abstatten?
Kluge: Die Dialogform kennen wir seit Sokrates, sie ist bei Heinrich von Kleist angelegt, Sie können auch literarische Erzählungen in Interviewform schreiben. Dann ist das Fiction. Ich könnte Ihnen Gespräche in Form eines Buches zusammenstellen, die ich besonders faszinierend finde, aber ich habe das noch nie versucht. Man müsste dieses Genre richtig pflegen, so wie es Short Stories gibt, so wie es von Hemingway die „49 Stories“ gibt, müssten eigentlich erstklassige Interviews aus der ganzen Welt gesammelt werden. Die Konfrontation von Meldungen wirklicher Ereignisse mit Erzählungen ist in Zeitungen heute noch möglich, aber das fordert eigentlich ein drittes Glied und das ist eben das gekonnte Interview-Gespräch. Die International Herald Tribune hat so etwas auf der letzten Seite.

Beruht Ihre Faszination für das Gespräch vielleicht auch darauf, dass Ihr Vater Arzt war und Sie das Patientengespräch früh als hilfreich wahrgenommen haben?
Kluge: (Lacht) Das ist ein gutes Beispiel. Es geht um Einfühlung. Beichte und Arztgespräch sind Schwestern des Interviews. Sicher bin ich von meinem Vater beeinflusst und auch meine Mutter ist eine große Gesprächsführerin gewesen. Es gibt einen Mann an der Berliner Humboldt-Universität, Dr. Vogl, der kann sich derart reinfühlen, wie so ein Bohrer geht er in ein Gespräch rein, er vergisst sich selbst und zum Schluss entsteht etwas Drittes, was möglicherweise keiner von uns alleine hätte erfinden können. Wenn in einem meiner Gespräche etwas gesagt wird, das besser ist, als alles, was ich selbst zu sagen wüsste, dann liegt das daran, dass man sich inhaltlich gegenseitig hochsteigert. Es liegt aber auch oft daran, dass mein Gegenüber etwas weiß, etwas kann oder sagt, das mich verwirrt.

Im Zusammenhang mit Ihrem ersten ausgeübten Beruf, Sie sind promovierter Rechtsanwalt,  gibt es in der deutschen Sprache einen schönen, auch etwas verwirrenden Gegensatz. Man sagt „Ich verhöre Dich“, wenn man von jemandem die Wahrheit wissen will; wenn man das aber auf sich bezieht heißt es „Ich habe mich verhört“ – und bezeichnet einen Irrtum. Kann man also nur im Dialog der Wahrheit auf die Spur kommen?
Kluge: Sagen wir mal so: nach dem forensischen Prinzip, das die Engländer und die Amerikaner entwickelt haben, geht es ja sowieso nicht um Wahrheit, sondern um Waffengleichheit. Für zwei Parteien, die sich in der Öffentlichkeit äußern, ist das ein Wettkampf. Ich habe da sehr hohe Achtung vor. Wenn ich einen Krimi lese, bei Perry Mason etwa, dann gibt es kein Verhör und kein Streitgespräch, sondern er lockt etwas aus einer anderen Person heraus, er lockt sie in eine Falle und ich lese das mit Genuss. Aber die Wahrheitsfindung ist eigentlich mit dem dialogischen Prinzip nicht ganz vereinbar. Wenn nämlich einer der beiden die Wahrheit zu haben glaubt, ist das Gespräch beendet. Das Schöne an einem Gespräch ist ja die Offenheit, die Senkung der Ich-Schranke. Das heißt auch, dass Rechthaberei und Wahrheitsanspruch im Dialog gar nichts zu suchen haben. Zudem: Menschen sind gesellig, sie können sogar sagen: zur Geselligkeit gehört die Schwatzhaftgkeit

An jedem Kneipentresen entstehen sozusagen Interviews.
Kluge: Zunächst einmal sitzt man sich an einer Theke in Oberhausen gegenüber und fängt an zu reden, aus Lust am Reden. Ein Gespräch kann aber erst dann zu Stande kommen, wenn Sie locker lassen. Wenn Sie das Tau, den Gesprächsfaden sozusagen, nicht loslassen, sondern daran zerren, kriegen sie eine sportliche Übung, aber kein Gespräch.

Und ein Gespräch kann eine Kunstform darstellen?
Kluge: Ja, durchaus. Kunst ist auch etwas, das im Zirkus stattfindet, auf dem Jahrmarkt, etwas Einfaches, was Menschen von sich aus können. Ein Gespräch ist keine Hochkunst, sondern plebejische Kunst, einfache Kunst, Kunst unter Menschen. Und wenn Sie das ernst nehmen, kommen Sie auch zu dem Schluss: die Literatur der Zukunft wird sehr stark dialogischen Charakter haben.

Das passiert im Internet in Blogs und Foren zum Teil schon jetzt.
Kluge: Ja und wie! Und dort antwortet man aufeinander. Diese entspannten Dialoge, an die glaube ich. Aber für das, was in ihnen entsteht, ist der Ausdruck „Wahrheit“ nicht ganz richtig. Ich kann in ihnen etwas finden, einen Schatz und möglicherweise stellt sich hinterher heraus, dass er stimmt, aber damit kann ich nicht rechnen. Ein Gespräch ist keine Planwirtschaft.

In Ihrem Buch „Das Labyrinth der zärtlichen Kraft“ gibt es die Erzählung „Der Zauber der Eile“. Dort verlieben sich ein Anwalt und die Assistentin eines Präsidenten unter großem Zeitdruck ineinander.  Ist es vielleicht auch der Zeitdruck, der in einer Interviewsituation etwas besonderes entstehen lässt?
Kluge: Eine Begrenzung der Zeit ist wie die Begrenzung eines Gefäßes. Wenn ich zum Beispiel Wasser in die Wüste mitnehme, dann brauche ich ein Gefäß; in der Hand kann ich es nicht halten. Eine zeitliche Limitierung ist unter Umständen so etwas wie ein Gefäß, das Vorteile bringt, wenn ich es zu nutzen weiß. Die Geschichte „Zauber der Eile“ verläuft allerdings negativ. Der Anwalt und die Assistentin lernen sich unter Zeitdruck kennen, erleben den  Zauber der Einlassung: sie verlieben sich, sie singen sozusagen ein Duett. Aber wenn sie sich in New York in einem Cafe dann später wiedersehen und Zeit füreinander haben, können sie die Verliebtheit nicht wiederherstellen.

So lassen sich die Energien, die im Interview entstehen auch nicht ins private Leben übertragen.
Kluge: Die haben sich dann sozusagen im Sumpf verloren. Wasser ohne Begrenzung ist ein Sumpf. Mit Begrenzung wird es ein Fluss.

Der Journalist Tilmann Spengler hat in einem Interview mit der Berliner Zeitung festgestellt, dass in einem Gespräch etwa 50% vom Nonverbalen bestimmt werden. Ist das der Grund, warum Sie Interviews filmen?
Kluge: Er hat völlig recht. Insofern sind Gespräche ein sehr filmisches Mittel. Ich finde es völlig albern, dass im Spielfilm so etwas nicht vorkommen darf, dass von Schauspielern künstlich hergestellte Gespräche abgebildet werden, von denen ich weiß, dass sie vorher im Drehbuch standen. In guten Filmen ist das übrigens anders, da gibt es auch Raum für echte Gespräche, die aus dem Moment heraus entstehen.

In Ihren eigenen zum Beispiel…
Kluge: Das stimmt, aber ich bin hier ja kein Kritiker. Der Spengler hat jedenfalls recht. Sie würden aber auch einem guten Dialog, zum Beispiel im Rundfunk, anhören, ob die Gesprächssituation stimmt. Sie könnten nicht sagen, wie die Gesichter genau aussehen, aber Sie spüren, wenn sich zwischen den beiden, die reden, etwas bewegt.

Das verschriftlichte Interview muss sich da mit kurzen beschreibenden Einschüben begnügen, wie zum Beispiel: „(lacht)“. Umso wichtiger scheint mir in schriftlichen Interviews die individuelle Haltung desjenigen, der die Fragen stellt. Auch Sie konfrontieren Ihre Gesprächspartner häufig mit ungewöhnlichen Assoziationen, die sich auf Ihre Leidenschaft für die Oper beziehen. Zum Beispiel haben Sie den Regisseur Spike Lee zu seinem Film „Summer of Sam“ interviewt und diesen Film mit einer Oper verglichen. Er reagierte  verwirrt, fast verärgert.
Kluge: Wir kannten uns ja nicht. Wir haben uns da zum ersten Mal in unserem Leben gesehen. Er konnte nicht wissen, wie ich frage und hielt mich für einen normalen Filmjournalisten aus Deutschland.

Zitiert

Ich will nicht an das Schaufenster eines Menschen ran, sondern in seine Werkstatt.

Alexander Kluge

Einige Jahre später haben Sie Lee zu einem weiteren Film, „25th Hour“, erneut interviewt. Wieder verglichen Sie seinen Film mit einer Oper und seine Reaktion war beinahe amüsiert,  auf jeden Fall zustimmend und erfreut.
Kluge: Er gewöhnte sich nur allmählich daran, dass das jetzt kein ganz so übliches Gespräch ist und merkte an Nebensachen, dass ich auch Filmemacher bin und ging auf mich zu. Das ist ja ein kluger Mann. Anders gesagt: wenn ich ihn von Anfang an als den nehme, der er ist und ihn nicht wie einen Star oder eine Rolle behandle, hat er Grund, sich auf mich zuzubewegen. Das ist wieder ein typisches Beispiel für die Senkung der Ich-Schranke. Die Ich-Schranke ist das Visier des Öffentlichkeitsritters, das ist oben zu, wenn er auf Presse trifft. Der will Erfolg haben und seinen Film loben. Wenn ich das nicht bringe, ist er erstmal irritiert. Aber dann mache ich ihm sozusagen das Angebot, dass er sich so verhalten kann, wie er wirklich denkt. Und ganz allmählich verhält er sich so, wie er auch Filme produziert. Und das ist der Spike Lee, den ich mag, mit dem ich etwas zu tun haben möchte..

Ist Ihr Interesse, das nicht vom tagesaktuellen Geschehen abhängt, das, was Sie von einem Journalisten unterscheidet?
Kluge: Ich habe hohen Respekt vor der Tagesaktualität. Aber sie erzwingt stereotype Fragen im ständigen Wettbewerb der Nachrichten. Wenn ich zum Beispiel vor jemandem sitze, der sehr selbstbewusst ist, nehmen wir den 1995 verstorbenen Dramatiker und Intendanten Heiner Müller, dann wird er zunächst einmal so antworten, wie es günstig für die nächstliegende Aufführung in seinem Theater ist. Erst allmählich robbt er sich auf eine Ebene, auf der er auch mit seinen Mitarbeitern redet. Er muss also von seiner Distributionssphäre der Öffentlichkeit in die Produktionssphäre, in der er in Wirklichkeit lebt. Ich muss jemanden in einem Gespräch dahin bringen, wo er selber ist, wenn er arbeitet, nicht dahin, wo er verkauft. Ich will ja nicht an das Schaufenster eines Menschen ran, sondern in seine Werkstatt.

Sie produzieren auch eine Reihe mit fiktiven Interviews, in denen Ihre Gefährten, der Produzent und Autor Peter Berling und Helge Schneider Zeitzeugen unterschiedlichster historischer Epochen spielen. Sind das dann sozusagen auch fiktive Werkstätten?
Kluge: Da ist das genauso. Das Witzige ist ja, dass sich sowohl Helge Schneider aber auch Peter Berling vorher einfach nicht festlegen lassen. Da kann ich lange reden, die werden mit mir nicht besprechen, was ich mir vorgenommen haben. Also wissen sie nicht, was ich frage, und sie wissen nicht, was ich antworte.

Aber das jeweilige Themengebiet teilen Sie den beiden doch sicher im Vorfeld mit?
Kluge: Sie erfahren vorher einen Satz. Also Helge Schneider bitte ich dann zum Beispiel, einen Raumanzug anzulegen. Dann wird der ja annehmen, dass ich irgendwas mit Sternen mit ihm mache. Er begibt sich dann in den Orbit, aber was er da macht, lässt er sich nicht vorschreiben.

Sind die Zuschauer von diesen Fake-Interviews irritiert?
Kluge: „Peter Berling als der und der“ – so eine Rollenbezeichnung steht ja in jedem dieser Filme ganz deutlich. Das nützt aber nicht immer. Das Fernsehen hat so eine Überredungskraft, selbst wenn ich etwas groß drucke, wird es dort nicht gelesen. Wenn Peter Berling einen russischen Beerdigungsunternehmer gespielt hat, dann kriege ich schonmal eine Zuschrift, in der es heißt: „Ich habe eine Freundin, die möchte gerne bei dem volontieren. Wie ist die Adresse?“. Das ist aber nichts Schlimmes. Dieser Muskel, der in einem Menschen fähig ist, zwischen Fiction und sogenannter Realität zu unterscheiden, den kann man ja nur strapazieren, wenn man beides bunt mischt. Wenn ich das in zwei Abteilungen teile, wie es bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten der Fall ist, wo die eine für Dokumentationen und Nachrichten zuständig ist und die andere Spielfilme und Fiction macht – dann kriege ich eine falsche Unterscheidung.

Diese Fake-Interviews sind in erster Linie ein Spiel mit dem Realitätsempfinden der Zuschauer?
Kluge: Breite Teile der Realität sind eben nicht real. Und breite Teile der Romane enthalten Dokumente. Mit Romanen meine ich jetzt auch Spielfilme und Serien und so etwas. Was ist in einem Roman von Balzac ein Dokument? Inwiefern ist „Deutschland sucht den Superstar“ in 20 Jahren eine hochinteressante Bestätigung unserer Zeit? Umgekehrt gibt es in unserer vermeintlich realen Welt eine bestimmte Hierarchie von Themen: wenn Sie zum Beispiel verfolgen, wie stark die Berichterstattung über den Irak zurückgeht, sobald das öffentliche Interesse mit Obamas Unterstützung nach Afghanistan hinwandert, dann dürfen Sie das nicht für real halten. Die Menschen im Irak sterben genauso, wie vor der Abwanderung des Interesses. Und von daher müssen wir auch die Dokumentationen und die Meldungen und die Nachrichten immer wieder auf den Prüfstand stellen.

Zwei Themen möchte ich noch ansprechen: Seit Jahren berichten die Medien über ihre eigenen Krisen, vom Ende der Zeitungen wird orakelt. Fühlen Sie sich durch die große Bandbreite Ihrer Produktionen abgesichert oder suchen Sie auch nach Wegen aus der Krise?
Kluge: Ich suche nach Wegen. Ich halte die Krise überhaupt nicht für abgeschlossen. Es ist keiner in Sicherheit vor ihr. Gleichzeitig glaube ich, dass wirkliche Qualitätsmarken, die Nachhaltigkeit versprechen, ein neues Bedürfnis sind. Der Tsunami der Informationen, der im Internet auf uns zukommt, und diese Datenmassen sind ja nur Zeichen für die wirkliche Unübersichtlichkeit der Fakten. Die Überforderung der Wahrnehmungen führt dazu, dass alle Menschen, auch jene, die professionell damit zu tun haben, sich weniger Informationen wünschen. Und so wie bei Gutenberg im 15. Jahrhundert die Unmasse an Druckpublikationen dazu geführt hat, dass auf der anderen Seite die Kritik entsteht, so führt auch heute wieder die Unmasse und auch das Zauberhafte, was in Youtube steckt, dazu, dass man Gärten der Informationen aufsucht. Das heißt: Sie würden sofort eine Auswahl bevorzugen. Und dafür stehen große Namen wie die FAZ, Süddeutsche, Spiegel oder die BBC und darunter, ganz klein mit Hut: meine Produktionen der dctp. Ich bin ein Hilfsgärtner, sozusagen.

Können Sie Ihren Garten, zum Beispiel auf www.dctp.tv für alle frei zugänglich halten? Nach funktionierenden Bezahlungssystemen für Netzinhalte wird ja dringend gesucht.
Kluge: Das ist ganz schwer und es wird irgendwann mal nötig sein, dass man hier einen Kompromiss findet. Ich bin nicht der Meinung, dass man durch Rechte Öffentlichkeit sperren darf. Umgekehrt will ich aber auch nicht, dass meine Mitarbeiter von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, als wären wir wieder im 18. Jahrhundert. Daher muss es eine extrem niedrige Flatrate geben, die das öffentliche Interesse berücksichtigt.

Sie meinen eine allgemeine Kulturfaltrate?
Kluge: Ich würde das mit „Kultur“ gar nicht bezeichnen. Das kann für alles gelten. Öffentlichkeit ist das Gut, das gemeinsame Gut.

Was würde diese Flatrate von einer neuen Steuer unterscheiden?
Kluge: Sagen wir mal so: Im Mittelalter gehört den Bauern ein Drittel des Landes. Ein Drittel gehört dem Herren und ein Drittel ist die Allmende – das gehört allen. Dafür wird in der Kirche in den Opferstock was reingesteckt und zeitweise auch umsonst gearbeitet. Diese Arbeit oder diese Abgabe, die dafür sorgt, dass ein Drittel frei verfügbar für alle bleibt, das ist keine Steuer. Steuer ist im Grunde öffentlicher Raub. Es geht alles in eine große Kriegskasse, wie die Schaumweinsteuer, da werden dann Kriegsschiffe von bezahlt. Oder wie der Solidarbeitrag, da wird dann alles mögliche von bezahlt. Die Obrigkeit schafft keine Öffentlichkeit, sondern eine Verkündigungsöffentlichkeit. Die Öffentlichkeit wird von richtigen Menschen gemacht. Und wenn ich im Kino den Eintrittspreis bezahle oder beim Zoo, wenn ich die Evolution besichtigen will, dann ist das ja etwas Selbstverständliches und sie würden das ja nicht gleich als Steuer bezeichnen. Dieser Eintrittspreis in das Gut Öffentlichkeit muss extrem niedrig und einfach einzuziehen sein. Und das dient nicht zur Errichtung von Kartellen und Konzernen, sondern der Aufrechterhaltung einer unabhängigen Zone.

Das heißt aber auch, dass die Wege zwischen Anbieter und Kunden so kurz wie möglich gehalten werden müssen.
Kluge: Ich muss sagen, da habe ich keine Rezepte für, denn ich mache mir an dem Punkt Sorgen. Diese Öffentlichkeit ist nämlich ganz schnell wieder verramscht. In Italien hat es in der Gegend um Bologna vor 40, 50 Jahren einen Rundfunk von ungeheuerer Unabhängigkeit und Brillanz gegeben,  sozusagen ein World Wide Web, aber eben regional. Und dann hat der Berlusconi es doch fertig gebracht, das alles wieder aufzukaufen, zusammen mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das auch in Italien auch sehr scheinheilig ist. Jetzt haben Sie da eine hermetische Öffentlichkeit. Es gibt also zwei Produkte in Italien: eine wunderbare Regionalküche für den Magen und das nicht einmal mehr mit Fast-Food, sondern eher mit Plastik vergleichbare Fernsehen fürs Bewusstsein.

Glauben Sie, dass die Menschheit für die Globalisierung schon reif genug ist?
Kluge: Das kann ich nicht beurteilen, aber die Globalisierung ist ja nichts Einheitliches. Sie schafft 50% verheerende Abstraktionen und 50% neue Kommunikationen. Ich würde keine Entscheidung treffen, was da gewinnt, ich bin ja kein Seher. Als Beobachter und literarisch tätiger Mensch sehe ich weder für ein Ende mit Schrecken einen Grund, noch kann ich Ihnen den Weg zur Emanzipation genau beschreiben. Aber da reichen ja auch ungefähre Karten.

Zum Abschluss: Sie greifen in Ihren Interviews auf verschiedene Gesprächspartner immer wieder zurück. Ist jeder Experte auch über sein Expertenwissen hinaus für ein Interview interessant?
Kluge: Angenommen, ich hätte einen Astrophysiker zu allem befragt, was dieser Mann in seinem Leben vereinigt und weiß, dann würde ich anfangen, ihn zu fragen: Wir haben hier einen extra-solaren Planeten, der hat Monde, die kann man nicht sehen, welches Leben gibt es auf diesem Planeten? Dann müsste er aus seinem Fachgebiet heraustreten, denn das könnte er gar nicht wissen. Und damit wird der Mann schon wieder interessant. Das heißt, es liegt auch an den Fragen, ob jemand irgendwann mal „ausgewrungen“ ist.

Der Mensch ist potentiell unendlich interessant?
Kluge: Potentiell. Wenn sie genug Zeit haben, können Sie immer was Interessantes herausfinden. Das Einzige, was Sie nicht können ist, einen Mensch, der zum Fenster hinausredet, interessant zu machen. Ein interessanter Gesprächspartner muss bei sich sein.

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